Die Zweitausender – Wilde Zeiten

Nach Betrachtung der Siebziger-, Achtziger– und Neunzigerjahre schauen wir nun in die

Zweitausenderjahre.

Das Jahr 2000 begann mit einem bizarren Streit über die Frage, ob das neue Jahrtausend jetzt begann oder erst 2001. Eine eher theoretische Diskussion – für mich begann das neue Jahrtausend jetzt, am 1. Januar 2000. Ebenso uneins war man sich, wie dieses Jahrzehnt denn nun heißt. Bei den Siebziger-, Achtziger und Neunzigerjahren war es klar, aber jetzt? „Nullerjahre“? Klingt komisch, daher habe ich für mich entschieden, das Jahrzehnt trotz alpiner Anmutung als „Zweitausender“ zu bezeichnen.

Weltpolitisch begann das Jahrzehnt zunächst unauffällig, dann indes spektakulär mit den Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001. Als ich vormittags auf den Werksfluren erstmals davon erfuhr – kurz zuvor war das erste Flugzeug ins World Trade Center eingeschlagen – hielt ich es noch für einen Scherz, oder wenigstens einen Unfall. Erst nach Eintreffen des zweiten Flugzeugs wurde klar: Das war kein Versehen. Und doch – bei aller Schrecklichkeit war ich tief beeindruckt von der organisatorischen Leistung der Terroristen, unbemerkt von Geheimdiensten gleichzeitig vier Flugzeuge zu entführen und zwei davon innerhalb kurzer Zeit eigenhändig in die New Yorker Türme zu lenken. – Eine beliebte Frage bis heute: „Wo waren Sie am 11. September 2001?“ Für mich kann ich sie beantworten: Nachmittags hatte ich einen Besichtigungstermin einer Wohnung in der Bonner Weststadt, vier Zimmer, neunzig Quadratmeter mit Balkon, als Ersatz für unsere für zwei Personen doch etwas beengte Dachkammer in der Südstadt. Wir bekamen sie und waren sehr zufrieden damit, wenngleich auch diese Wohnung, wie die Dachkammer, in unmittelbarer Nähe zur Bahnlinie lag, daher nicht gerade ruhige Lage. Aber daran waren wir inzwischen gewöhnt und fühlten uns darin sehr wohl. Nach dem Umzug (für den wir letztmalig Freunde und Bekannte missbrauchten) hatte ich das Gefühl, in Bonn und im Rheinland richtig angekommen zu sein.

Die Kirschblüte in der „Altstadt“ lockte noch nicht Touristenscharen an

Ebenfalls 2001 beschloss der Deutsche Bundestag das Lebenspartnerschaftsgesetz. Wir durften zwar aufgrund eines verfassungsgerichtlich bestätigten, absurden „Abstandsgebotes“ nicht heiraten, immerhin eine „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ eingehen, die alle Pflichten und kaum Rechte der herkömmlichen Ehe zwischen Mann und Frau beinhaltete, insbesondere keinerlei steuerliche Vorteile. Das hielt uns nicht davon ab. Mein Antrag, noch vor dem Umzug in der Dachkammerküche dargebracht, verlief ostwestfälisch knapp und wurde vom Liebsten positiv beschieden, statt mit einem Ring wurde der Beschluss mit Jägermeister besiegelt. Als Termin legten wir einen Tag im Mai des Folgejahres fest, genau der Tag, an dem wir uns fünf Jahre zuvor kennen gelernt hatten.

Der standesamtliche Akt erfolgte im schmucklosen Trauzimmer des Bonner Stadthauses, das laut Standesbeamtin anlässlich unserer Vermählung so voll war wie selten. Der Liebste nahm (freiwillig) meinen Nachnamen an. Etwas irritiert war ich, als ich nach der Trauung meinen Chef hinter mir „Herzlichen Glückwunsch, Herr K.“ sagen hörte und erst im Umdrehen, um mich zu bedanken, bemerkte, dass er meinen Mann beglückwünschte. Amüsant hingegen die Frage aus Reihen der nachfolgenden Hochzeitsgesellschaft: „Wo ist denn die Braut?“

Glücklich und frisch verheiratetpartnert

Für die anschließende Feier hatten wir eine Gaststätte in Bonn-Kessenich reserviert, wo unsere zahlreichen Gäste die Wirtsleute durch erheblichen Appetit beeindruckten; gegen Ende musste der Jungkellner Jägermeister aus Privatbeständen seiner Eltern ranholen. Maßgabe für die Feier war, auf keinen Fall irgendwelche peinlichen Hochzeitsspielchen durchzuführen, woran sich alle hielten. Einziger unvermeidlicher Programmpunkt war der Hochzeitstanz, der mangels Tanzvermögens meinerseits nicht gar so elegant ausfiel, dafür schnell vorüber war.

Die Hochzeitsnacht verlief in nicht allzu romantischem Rahmen, niemand trug den anderen über die Türschwelle, im Zweifel wäre dazu auch keiner in der Lage gewesen. Stattdessen zählten wir Geld – anstelle von Sachgeschenken hatten wir uns finanzielle Unterstützung der Feier gewünscht.

Die Tatsache, nun „verpartnert“ zu sein, hinderte uns gemäß gegenseitiger Übereinkunft nicht daran, die Ausgeh- und Begegnungsmöglichkeiten in Bonn, Köln und darüber hinaus zu nutzen, was auch körperliche Kontakte mit Dritten ausdrücklich nicht ausschloss, weder gemeinsam noch jeder für sich. So verbrachte ich bereits die nächste Samstagnacht nach der Feier mit Ehering, Wissen und Erlaubnis meines Mannes im Kölner Chains, einem Lokal, dessen Zweck nicht in erster Linie dem Tanz und Getränkeverzehr diente und das für darüber hinausgehende Aktivitäten entsprechende Räumlichkeiten aufwies.

Selbstverständlich kam es nicht immer zum Äußersten. Manchen traf man einmal, andere öfter; einer blieb uns über Monate verbunden, kurzzeitig war gar sein Name an Klingelschild und Briefkasten angebracht – der Sommer 2003 war nicht nur in meteorologischer Hinsicht sehr heiß.

Auch gänzlich der Unzucht unverdächtige Aktivitäten nahm ich wahr: Im Sommer 2005 trat ich einem Männerchor in Köln bei, dem ich immerhin fünfzehn Jahre lang die Treue hielt. Jeden Mittwochabend fuhr ich nun zur Chorprobe nach Köln. Manchmal kostete es Überwindung, abends nach einem Arbeitstag noch mit der Bahn nach Köln zu fahren und erst kurz vor Mitternacht wieder zu Hause zu sein, doch fast immer kehrte ich mit einem Glücksgefühl zurück. Singen macht glücklich. Erst recht auf der Bühne vor Publikum, trotz vorangehendem Lampenfieber, das gehört dazu.

Irgendwas aus der Westside Story

Auch dem Hobby Eisenbahn widmete ich wieder mehr Zeit. Nachdem wir 2005 erneut umgezogen waren, jetzt in die Innere Nordstadt (auch Altstadt genannt, was nicht ganz richtig ist: Die Bonner Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt und nicht wieder aufgebaut, jedenfalls nicht als Altstadt; das nur am Rande) baute ich ab 2008 eine Modelleisenbahn auf, wenn auch nur eine ganz kleine, die an frühere Anlagen auf dem Dachboden des Bielefelder Elternhauses nicht heranreichte. Immerhin konnte ich meine Loks und Wagen, die sich bis dahin in einer Wandvitrine die Räder in den Rahmen gestanden hatten, wieder etwas bewegen, was nach so langer Abstinenz in etwa so glücklich machte wie Singen.

Nahverkehrszug 7843 nach Dransfeld kurz vor Abfahrt

Beruflich änderte sich nicht viel für mich. Mit meinem Chef, mit dem ich anfangs leichte Probleme gehabt hatte, kam ich inzwischen gut aus. Ende 2002 zog das Unternehmen vom ehemaligen Postministerium in ein repräsentatives (und zunächst innerhalb Bonns umstrittenes) Hochhaus am Rhein, auf den ich nun vom 24. Stock aus blickte.

Das Dampfschiff „Goethe“ wurde 2008/2009 leider von Dampf- auf Dieselantrieb umgebaut

Urlaube verbrachten wir mit zwei Freunden regelmäßig auf Gran Canaria, wo es ebenfalls zahlreiche der oben beschriebenen zwischenmännlichen Begegnungsorte gibt. Die Tage verbrachten wir üblicherweise am Strand vor den Dünen von Maspalomas.

Vermutlich trug ich zum Zeitpunkt der Aufnahme eine Badehose

Erstmals im Sommer 2006 fuhren der Liebste und ich mit dem Auto nach Südfrankreich, zunächst nach Nyons, dann Malaucène. Dort in der nördlich Provence gefiel und gefällt es uns so gut, dass das bis heute unser bevorzugter Urlaubsort geblieben ist.

Rosé passt immer

Anfang des Jahrtausends fand ich die Freude am Schreiben wieder, bis dahin hatte ich nur regelmäßig Tagebuch geschrieben. So entstanden einige Bücher, für eines fand ich gar einen Verlag, der es 2006 herausbrachte. Allerdings war ihm keine Erfolg beschieden, es wurden nur ein paar hundert Exemplare verkauft. Zu recht, wie im Nachhinein zu bemerken ist, es war wirklich schlecht geschrieben und so gut wie gar nicht einem Lektorat unterzogen. Ein paar mal versuchte ich mich noch an Literatur im Themengebiet schwules Lieben/Leben/Leiden, stets ohne Erfolg. Inzwischen habe ich mich vom Traum einer Schriftstellerkarriere verabschiedet; manches sollte man denen überlassen, die es können.

2007 entstand dieses Blog, das ich noch immer mit großer Freude befülle. Zwei Jahre später entdeckte ich Twitter für mich. Dort entwickelte sich schon bald diese gewisse Sucht nach Sternchen, Erwähnungen und neuen Verfolgern, deren ich zeitweise über tausend hatte. Mit Facebook hingegen freundete ich mich nie an, nach zwei Anläufen trennten wir uns endgültig.

Was war sonst in den Zweitausendern:

  • Apple brachte mit dem iPhone das erste Smartphone in die Welt, welches das Verhalten und die Gewohnheiten der Menschen seitdem erheblich beeinflusst hat. Auch bei uns, nachdem sich der Liebste, stets ein Freund der Produkte mit dem angebissenen Apfel, eins zugelegt hatte. Ein Jahr später war es meins, nachdem er es durch ein Gerät der neuesten Generation ersetzt hatte.
  • Angela Merkel löste Gerhard Schröder als Bundeskanzler ab und hielt sich für den Rest des Jahrzehnts und weit darüber hinaus im Amt.
  • Der Euro löste die D-Mark und weitere europäische Währungen ab. Viele rechneten bei jedem Bezahlvorgang noch in Mark um und befanden, nach der Umstellung sei alles teurer geworden, vor allem die Gastronomie, was der neuen Währung bald des Namen „Teuro“ einhandelte. Manche tun das noch heute.
  • Putin und Erdogan kamen jeweils als Präsident ihres Landes an die Macht, mit den bekannten Auswirkungen auf die Freiheitsrechte ihrer Völker und darüber hinaus.
  • Mit Joseph Ratzinger wurde ein Deutscher Papst. „Wir sind Papst“, titelte die Bild-Zeitung. Als er am Weltjugendtag in Köln teilnahm, ratzteten die Besucher aus und feierten ihn mit „Benedetto“-Rufen fast wie einen Popstar, was er nun wirklich nicht war.
  • Die USA eröffnen unter George W. Bush den zweiten Irakkrieg mit Auswirkungen im Irak und der Region bis heute.
  • Oasis, für mich die größte Band aller Zeiten, lösten sich nach Streit der Gallagher-Brüder auf. Beide traten danach noch ein paar mal mit Solo-Projekten in Erscheinung, die alten Erfolge von Oasis wurden nicht mehr erreicht. Vielmehr weiß ich in musikalischer Hinsicht zu diesem Jahrzehnt nicht zu schreiben. Sicher gab es Gutes und Typisches, doch fiele es mir im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahrzehnten schwer, typische Hits und Interpreten der 2000er zu benennen. Ich habe sie gehört, doch ist kaum etwas hängen geblieben.

Den Jahreswechsel 2009/2010 verbrachten wir unspektakulär zu zweit zu Hause, wie immer hatte der Liebste vorzüglich gekocht. Nach dem Essen gingen wir zum Opernhaus am Rhein und schauten zu, wie andere hunderte und tausende Euro in die Luft jagten. Die Zehnerjahre hatten begonnen und wir gingen noch ein paar Kölsch trinken und Leute treffen in Bobas Bar.

Werbung: Darkroom on demand

LR

„Schreib doch mal was über Darkrooms“, wurde vor einiger Zeit der Wunsch an mich heran getragen, als ob ich dort heimisch wäre. Nun gut, völlig unbekannt ist mir das Innere dieser sehr speziellen Räumlichkeiten nicht, warum einen Hehl daraus machen. Darüber geschrieben habe ich indes längst, nämlich hier: http://www.amazon.de/Letzte-Runde-Carsten-Kubicki/dp/1500733946/ref=tmm_pap_title_0?ie=UTF8&qid=1408794464&sr=8-1

Nachdem es als eBook bereits seit längerer Zeit erhältlich ist, freue ich mich, dass es jetzt auch als normales Taschenbuch erschienen ist für Leute wie mich, die beim Lesen immer noch gerne ein Stück Papier in Händen halten.

Ein paar Worte zu Amazon: Ja ich weiß, dass der Konzern in Autoren- und Verlagskreisen aufgrund seiner gleichsam imperialistischen Geschäftsgebaren zurzeit nicht gerade das beste Ansehen genießt. Gleichwohl bin ich Amazon sehr dankbar, dass Hobbyschreiber und Wäregern-Autoren wie ich hier ihr Buch veröffentlichen können, ohne mehrere hundert Euro investieren zu müssen, wie es zum Beispiel bei Books On Demand der Fall ist. Die einzige Investition ist etwas Zeit. Mir ist klar, dass das Buch allein schon aufgrund des hohen Preises (10,49 Euro für gerade mal 86 Seiten sind wahrlich kein Schnäppchen) kein großes Publikum finden wird, auch werden die Feuilletons dieser Welt keinerlei Notiz davon nehmen. Aber das ist mir egal. Das Buch entstand aus Freude am Schreiben, ich schrieb es in erster Linie für mich, genau so wie dieses Blog, dessen „Klickzahl“ mir vollkommen schnuppe ist.

Zurück zum Darkroom. Hier eine kleine Leseprobe:

Ich stehe vor der verschlossenen Tür des K.O.X. und warte, nachdem ich den Klingelknopf im Türrahmen gedrückt habe, darüber ein kleines Schild „Privatclub“. Dieser Club ist ungefähr so privat wie eine Straßenbahnhaltestelle, nur muss man keinen jungen Müttern aus dem Weg gehen, die darauf hoffen, man sei ihnen beim Hineinwuchten des Kinderwagens in die Bahn behilflich. Auch hier dumpfes Basswummern, wobei nicht klar ist, ob es von drinnen kommt oder aus einer der Bars nebenan. Ein mittelalter Muskelmann oben ohne öffnet die Tür und lässt mich hinein, gleich hinter der Tür ein Vorhang, dahinter eine Art Empfangstheke, hinter der sich schwarze Müllsäcke stapeln wie bei einem italienischen Müllfahrerstreik.

„Wir haben heute naked, Süßer“, erklärt mir der Muskelmann, der auch untenherum mit nicht mehr bekleidet ist als einem Höschen aus dunklem lederartigem Material, und drückt mir einen Müllsack in die Hand; obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er mich nicht süß findet, fühle ich mich geschmeichelt, Süßer, das hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt, nicht einmal vorhin im Henry. Erst jetzt bemerke ich, alle Gäste hier sind… ja, nackt, von Schuhen und Socken abgesehen. Gehört habe ich schon öfter von derartigen Veranstaltungen, auf einer gewesen bin ich indes noch nie, und kurz überlege ich, ob ich das heute wirklich ändern will, als der Muskelmann erklärt, ich solle meine Sachen in den Sack packen und dann bei ihm abgeben, und er drückt mir eine Verzehrkarte in die Hand. Ein Rückzieher meinerseits sähe jetzt wohl ziemlich albern aus, also lasse ich mich darauf ein und nehme den Sack. Der Um-, oder besser: Auskleidebereich befindet sich in einer kleinen halbdunklen Nische rechts hinter dem Eingangsbereich, wo sich gerade ein glatzköpfiger Typ mit zahlreichen Tätowierungen und Piercings seiner Textilien entledigt und sie in seinem Beutel verstaut. Geistesgegenwärtig krame ich zunächst die Zigaretten, das Feuerzeug und das Poppersfläschchen aus den Taschen und lege sie beiseite, bevor auch ich mich entkleide: Jacke, Hemd, Hose, schließlich auch Unterhose verschwinden in dem Sack, ein kurzfristiges Schamgefühl befällt mich, das jedoch nach spätestens einer Minute wieder verraucht angesichts der zahlreichen Kerle im Adamskostüm hier (nur dass Adam vermutlich keine Markenturnschuhe und diese unsäglichen Sport-Kniestrümpfe trug; auch in alle möglichen und unmöglichen Körperteile getriebene Metallteile dürfen im Garten Eden eher nicht gern gesehen gewesen sein). Wenigstens muss ich mir heute keine Gedanken darüber machen, wo ich Portmonee, Schlüssel und Mobiltelefon verstaue, dass sie mir im Eifer des Gefechts in dunkleren Gefilden dieses Etablissements nicht geklaut werden, stattdessen verschwinden sie mit im Müllsack. Das Poppersfläschchen stecke ich in einen Socken, die Zigaretten behalte ich in der Hand und deponiere sie später an der Bar, wird schon keiner klauen, und wenn doch, auch egal, kann man nachkaufen. Nachdem ich den Sack ordnungsgemäß zugeknotet habe, bringe ich ihn zum Wächter der Müllsackhalde, der einen Aufkleber mit einer Nummer darauf klebt und mir mit einem Filzschreiber dieselbe Nummer auf meinen Oberarm schreibt (ich bekomme die Vierundvierzig, scheint schon ganz schön was los zu sein), das ganze noch garniert mit einem „Viel Spaß, Süßer!“ und einem näckischen Augenzwinkern.

Ich brauche Bier. An der Bar herrscht allgemeines Lauern; auffällig ist der zumeist unfrohe, fast böse Blick, als gelte hier „wer lächelt verliert“, unbeirrt davon bestelle ich mir ein Flaschenbier, gebe meine Getränkekarte dem immerhin mit einer knappen Sporthose bekleideten Barmann hin und verstaue sie anschließend im anderen Socken. Mit dem Rücken zur Bar lasse ich mich auf einem Barhocker nieder, nuckle an meinem Bier, zünde eine Zigarette an und lasse den Blick schweifen. Technomusik erfüllt mit hämmernden Bässen den Raum, ähnlich wie vorhin im Plan C, nur nicht so laut. Alle sind nackt, keiner sagt was, bis auf einen Typen, der sich angeregt mit dem Barmann unterhält; alle anderen sind damit beschäftigt, die Lage zu sondieren und das für sich geeignete Objekt der Begierde im allgemeinen Angebot zu sichten. Ich weiß nicht, wie ich jetzt darauf komme, aber plötzlich stelle ich mir vor, wie ich das meiner Mutter erklären würde, wenn sie mich fragte, was ich am Wochenende gemacht habe: „Nichts besonderes, war in einer Bar, wo alle nackt waren und habe Leuten beim Sex zugeschaut. Und ihr?“ In der Tat, ganz am Ende der Bar, ich bemerke sie jetzt erst, sind zwei Kerle innig miteinander beschäftigt: der eine beugt sich über den Tresen, während der andere hinter ihm steht und sein Becken rhythmisch nach vorne und hinten bewegt; ihr Liebesspiel gewinnt eine gewisse Absurdität dadurch, dass der vordere währenddessen immer wieder abwechselnd an seinem Bier trinkt und sich Poppers in die Nase zieht, fehlt eigentlich nur noch, dass er sich einen kleinen Imbiss und die Tageszeitung kommen lässt. Und doch muss ich zugeben, obwohl sie nicht direkt in mein Beuteraster fallen (zu muskulös, zu tätowiert), der Anblick hat eine gewisse Wirkung, also untenrum, meine ich. Da es mir unangemessen erscheint, mit einer Erektion auf einem Barhocker sitzend in die Gegend herumzuschauen, ziehe ich mich in den hinteren, dunkleren Bereich zurück, wobei ich den den Eindruck habe, je dunkler es wird, desto finsterer werden die Blicke der Jungs; ich bin plötzlich ziemlich geil, und diesen Zustand würde ich gerne in derselben Weise nutzen wie die beiden Kerle an der Theke, wenn auch nicht ganz so öffentlich. Zu meiner Linken befindet sich in einer Nische der Videoraum, wo ein großer Bildschirm eindeutig nicht jugendfreie Filme zeigt, in diesem Fall eine Art Brokeback Mountain für Fortgeschrittene: zwei bärtige Männer mit Cowboyhüten und -stiefeln sind in einer Scheune miteinander beschäftigt, ein eher komischer als anregender Anblick, fast bin ich geneigt zu lachen, was vermutlich direkt zu meinem Rausschmiss führen würde, denn hier lacht man augenscheinlich nicht, dazu ist die Sache zu ernst, die Regel wer ficken will muss freundlich sein ist hier außer Kraft gesetzt, und dennoch beschließe ich, erstmal hier zu bleiben und nehme auf einer der gummibeschichteten abwaschbaren Matratzen Platz, in sicherem Abstand zu einem recht voluminösen, auffallend kinnlosen Herrn mittleren Alters, der mit dieser Art Western offenbar mehr anfangen kann, wie die Größe seines Körperteiles, mit dem er sich beschäftigt, eindrucksvoll beweist. Bei mir bleibt vorläufig alles klein, wobei klein relativ ist, ich habe schon kleinere gesehen, aber ich möchte jetzt nicht prahlerisch erscheinen; sagen wir mal so: ich bin ganz zufrieden; ich beschränke mich darauf, zu beobachten, und zu beobachten gibt es reichlich. Meine Erfahrung sagt mir, das Klügste ist, um einen Überblick über das Publikum zu bekommen, zunächst an einer Stelle zu bleiben und abzuwarten, bis sie alle vorbeikommen, kurz kucken und weiterlaufen, getrieben vom Zwang, den besten ausfindig zu machen, und früher oder später kommen sie alle. Das schlimmste, was hier passieren kann, ist, sich für einen entschieden zu haben, mit ihm bis zum Äußersten zu gehen und dann, wenn man fertig geworden ist miteinander, einen anderen, viel besseren zu entdecken, was aber zu spät ist, weil man ja sein Pulver soeben verschossen hat, und bis die Batterie wieder geladen ist, hat ihn sich garantiert ein anderer geschnappt, das Leben auf der Pirsch ist nicht einfach. Und richtig, sie kommen, schauen und gehen weiter, bislang noch keiner dabei, der mein Interesse zu wecken vermag, und umgekehrt offenbar. Der blonde Cowboy treibt sein durchaus beachtliches Teil in den dunklen, der, mittlerweile ohne Hut, rücklings auf einem Strohballen liegt und seine bestiefelten Füße in die Höhe reckt und dabei heftig stöhnt, zumindest sieht es so aus, denn der Ton ist abgestellt; derweil werden die Handbewegungen des Kinnlosen schneller, wie ich nur aus den Augenwinkeln mitbekomme, direkt hinschauen mag ich aus verschiedenen Gründen nicht. Obwohl der Film wirklich scheiße ist, anders kann ich es nicht nennen, muss ich immer wieder zwanghaft hinschauen, wie das so ist, wenn in einem Raum ein Fernseher läuft, man schaut immer wieder hin, ob man will oder nicht. Die allgemeine Musik passt übrigens perfekt zum Film, die Bässe wummern im Kopulationstakt der beiden Kuhtreiber, wie synchronisiert.

[…]

Nach wie vor herrscht das große Herumgerenne, die Suche nach dem idealen Fickpartner, wobei die Hauptverkehrsachse einer überdimensionierten Ameisenstraße gleich die Strecke zwischen der Bar und dem dunklen Durchgang neben der Nische mit dem Sling bildet; hinter diesem Durchgang befindet sich der eigentliche Darkroom, also der Bereich, wo man wirklich nichts mehr sehen, nur noch fühlen kann. Und genau dort ist immer das meiste los, seit jeher frage ich mich, warum, ich persönlich sehe oder zumindest erahne gerne, mit wem ich mich beschäftige, das Auge fickt mit, und doch herrscht immer und ausnahmslos in solchen Läden das größte Treiben dort, wo man nichts sieht, warum auch immer; auch die mögliche Erklärung, es sind vor allem die eher unattraktiven Kerle, die den Schutz der Dunkelheit suchen, greift nicht, zumeist sind es gerade die hübschesten Burschen, die sich auf derart unschöne Art den Blicken entziehen. Sehr beliebt ist es daher, sich abwartend vor dem Eingang zur Finsternis aufzuhalten, sobald ein attraktiver Bursche vom Dunkel geschluckt wird, lösen sich diese Torwächter von ihrem Platz und folgen dem Kerlchen in eindeutiger Absicht und Hoffnung, so auch jetzt und hier wieder.

Was wäre, wenn Patrick hier jetzt plötzlich aufkreuzen würde, nackt von der Bar kommend an mir vorbei ins Dunkel verschwände, sofort verfolgt von den Torwächtern? Kein Zweifel, sie würden ihm folgen, er ist ein verdammt attraktiver Bursche. Meine eben noch vorhandene Geilheit ist schlagartig verflogen; Patrick, du Arsch, warum verdirbst du mir permanent die Laune, selbst wenn du nicht da bist? Ich folge der Karawane ins Dunkle. Wie erwartet gerate ich in ein undurchschaubares Geknubbel aus Leibern, Hände, die mich befummeln und wieder ablassen, Erektionen, die in den Weg ragen, irgendwoher Gestöhne, Poppersgeruch in der feuchtwarmen Luft, augenblicklich werde ich wieder geil, Patrick ist zum Glück nicht gefolgt. Es ist nicht völlig dunkel im Sinne von schwarz, wie ich nach ein paar Sekunden merke, nur fast: man kann nichts richtig erkennen, immerhin aber, wo jemand steht und wo nicht. Ich taste mich vor bis zu einer freien Stelle an der Wand, wo ich abwartend verharre und das schemenhafte Treiben mehr akustisch als optisch verfolge (zudem auch haptisch und – in Ansätzen – olfaktorisch). Von links kommt eine Hand, greift ohne Umweg nach meinem Dings und pumpt es zur vollen Größe auf, wer auch immer es ist, er macht es gut, nur nicht aufhören. Ich behalte meine Hände noch bei mir, möchte mir die Illusion des jungen schlanken Typs, der sich mir gerade widmet, nicht zerstören; unnötiger Weise schließe ich die Augen und lasse es geschehen…

Ein Hinweis zum Schluss: Die Geschichte ist nur insofern jugendfrei, als dass keine Jugendlichen darin vorkommen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt, das gilt insbesondere für den Ich-Erzähler.

Max Frisch – Fragen und Antworten

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat anlässlich des hundertsten Geburtstages von Max Frisch einen Fragebogen an mehrere Schriftsteller gesandt, der seinem „Tagebuch 1966-1971“ entstammt. Die Antworten der Schriftsteller sind in der heutigen Ausgabe der Zeitung zu lesen.

Ich bin kein Schriftsteller, und ich gebe zu, bislang noch kein Buch von Max Frisch gelesen zu haben, dennoch reizte es mich, die Fragen für mich zu beantworten, und zwar möglichst wahrheitsgemäß:

1.) Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
Antwort: Ich bin mir sicher, dass es mich gerade nicht interessiert.

2.) Warum?
Antwort: Ich werde dieser Welt keine Nachkommenschaft hinterlassen, um die ich mich sorgen müsste.

3.) Wie viele Kinder von Ihnen sind nicht zur Welt gekommen durch Ihren Willen?
Antwort: Ich wollte nie Kinder haben, daran hat sich nichts geändert, und aller Voraussicht nach wird sich das auch nicht ändern. Alles andere wäre ein biologisches Wunder.

4.) Wem wären Sie lieber nie begegnet?
Antwort: Niemandem. Selbst die Begegnungen mit Hermann G., meinem damaligen Lateinlehrer – ein echtes Arschloch -, und Patrick B., meiner ersten großen unerfüllten Liebe, empfinde ich heute als Bereicherung, ich möchte sie keinesfalls missen.

5.) Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?
Antwort: Es gibt ein paar wenige Menschen, die ich nicht mag, obwohl sie mir nichts getan haben. Sie können sich noch so nett mir gegenüber verhalten, ohne jede Chance, auf meiner Sympathieleiter eine Sprosse zu nehmen. Das ist mir unangenehm, aber „hassen“ wäre zu stark ausgedrückt.

6.) Möchten Sie das absolute Gedächtnis?
Antwort: Wenn damit gemeint ist, alles, was ich je gesehen, gehört, gesagt, erlebt oder gelesen habe, erinnern zu können, dann auf gar keinen Fall. Allein schon die Musikbeschallung, der man ausgesetzt ist, verlangt oft nach schnellem Vergessen. Die Tage rief sich zum Beispiel „Sun Of Jamaika“ in mein Gedächtnis zurück, der Tag war gelaufen.

7.) Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Oder halten Sie keinen für unersetzbar?
Antwort: Ich lehne es ab, jemandem den Tod zu wünschen. Gut, mal abgesehen von Hitler, aber der ist ja schon tot, und ihn als Politiker zu bezeichnen erscheint mir zu euphemistisch.

8.) Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?
Antwort: Meinen Großvater väterlicherseits. Und Heinz Erhard.

9.) Wen hingegen nicht?
Antwort: Axel P. Kennen Sie nicht, tut auch nichts weiter zur Sache (er gehörte zur Gruppe der unter Frage 5 genannten Personen).

10.) Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?
Antwort: Ja, ich könnte mir sehr gut vorstellen, in Südfrankreich aufgewachsen zu sein und zu leben. Aber ob das tatsächlich besser wäre… on ne sais pas.

11.) Wie alt möchten Sie werden?
Antwort: Schwer zu sagen… vielleicht siebzig oder so. Wenn morgen das Licht für mich ausginge, wäre es aber auch in Ordnung. Könnte nur sein, dass es ein paar Menschen gibt, die was dagegen hätten.

12.) Wenn Sie Macht hätten, zu befehlen, was Ihnen heute richtig erscheint, würden Sie es befehlen, gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.
Antwort: Nein.

13.) Warum nicht, wenn es Ihnen richtig erscheint?
Antwort: Mein krankhaftes Harmoniebedürfnis würde es mir zur Hölle machen, die Mehrheit gegen mich zu wissen.

14.) Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder im Kollektiv?
Antwort: Das kommt auf das Hassobjekt an. Grundsätzlich ist meine Neigung zum Hass wenig ausgeprägt, worüber ich froh bin. Ich empfinde eine abgrundtiefe Abneigung gegen die Katholische Kirche (Kollektiv) und den Papst (Einzelperson), weil ich sie für sehr gefährlich halte. Aber auch hier wäre „Hass“ zu stark.
Wenn ich hassen müsste, dann lieber allein; kollektiver Hass ist sehr gefährlich und unberechenbar.

15.) Wann haben Sie aufgehört zu meinen, dass Sie klüger werden oder meinen Sie’s noch? Angabe des Alters.
Antwort: Mit vierzig, als ich bewusst und gewollt mit dem Rauchen angefangen habe.

16.) Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?
Antwort: Ja. Manchmal nervt sie mich auch sehr.

17.) Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie selbst übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: Wofür bitten Sie eher um Verzeihung?
Antwort: Da ich mir keiner Schuld bewusst bin, müssen andere beantworten, was sie mir übel nehmen. Ich selbst hasse – und hier passt das Wort ausnahmsweise mal – Unpünktlichkeit, für mich der größte Ausdruck von Unhöflichkeit. Dafür bitte ich auch am ehesten um Verzeihung.

18.) Wenn Sie sich beiläufig vorstellen, Sie wären nicht geboren worden: beunruhigt Sie diese Vorstellung?
Antwort: Kein bisschen. Wäre ich nicht geboren, würde mich niemand vermissen, und ich könnte mir diese Frage dann auch nicht stellen.

19.) Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschten Sie, dass der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?
Antwort: Wenn ich schon die Gelegenheit hätte, dann bitte als Dialog.

20.) Lieben Sie jemand?
Antwort: Ja, ohne jeden Zweifel.

21.) Und woraus schließen Sie das?
Antwort: Am deutlichsten aus dem Gefühl des Vermissens, wenn er mal nicht da ist und ich alleine einschlafen muss.

22.) Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht, wie erklären Sie es sich, dass es nie dazu gekommen ist?
Antwort: Bislang hatte ich keine Veranlassung dazu, und keine Gelegenheit; zudem ist meine Neigung zu Gewalt nur gering ausgeprägt. Und ich bin zuversichtlich, dass sich daran nichts ändern wird. Im übrigen: Krimis langweilen mich.

23.) Was fehlt Ihnen zum Glück?
Antwort: Einigermaßen normal geformte Füße. Siehe auch hier.

24.) Wofür sind Sie dankbar?
Antwort: Für vieles, nein alles, was mein Leben ausmacht, welches bislang ohne nennenswerte Probleme und Krisen verlaufen ist. Ich kann mir nichts vorstellen, was passieren müsste, damit ich noch glücklicher werde. Bis auf die Füße halt.

25.) Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als gesundes Tier? Und als welches?
Antwort: Ein Leben als Hummel könnte ich mir sehr gut vorstellen.

Bestseller

Neulich träumte mir, ich sei ein erfolgreicher Schriftsteller, der mit seinem Debütroman „Vom Leid des Kronkorkens“ innerhalb kürzester Zeit die Spitzen aller deutschen Bestsellerlisten erobert hat. Das Interview, welches der Feuilletonist einer führenden überregionalen Tageszeitung – im Folgenden der Einfachheit halber F genannt – anlässlich der Verleihung eines bedeutenden Literaturpreises mit mir führte, können Sie unten nachlesen. Da es die nachträgliche Wiedergabe eines Traumes ist, kann ich leider keine Garantie dafür übernehmen, dass das Interview genau so stattfand; mögliche Erinnerungslücken wurden phantasievoll aber plausibel ergänzt.

F: Herr Kah, Ihr Buch hat innerhalb von nur drei Wochen die Top Fünf fast aller deutschen Bestsellerlisten erreicht, selbst Marcel Reich-Ranicki äußerte sich schon verhalten begeistert. Wie erklären Sie sich den unglaublichen Erfolg Ihres Einstiegswerkes?

Ich: Keine Ahnung, ich fühle mich noch immer wie in einem Traum.

F: Können Sie uns etwas zur Entstehung des Buches sagen?

Ich: Es kam jäh über mich wie ein Anfall, als ich unter der Dusche stand, plötzlich war die Geschichte da und wollte aufgeschrieben werden, noch nass und nur mit einem Handtuch umwickelt, um meinen Kopf, stützte ich an meinen Schreibtisch und begann aufzuschreiben, was mir eine fremde Stimme in die Feder diktierte, Wort für Wort, Satz für Satz, Kapitel für Kapitel; nach zwei Wochen ununterbrochenen Schreibens war es dann fertig.

F: Sie meinen, Sie haben zwei Wochen lang ununterbrochen…

Ich: Bis auf kurze Unterbrechungen, die der menschlichen Natur geschuldet sind, sie verstehen. Man staunt, bei welchen Verrichtungen man alles schreiben kann: beim Essen, auf der Toilette, beim…

F: Gewiss, gewiss. Herr Kah, mit Ihrem Werk haben Sie ein Thema aufgegriffen, welches bislang in der Weltliteratur noch nicht behandelt wurde und womit Sie anscheinend den Nerv der Zeit getroffen haben. Wie kamen Sie dazu, ausgerechnet hierüber zu schreiben?

Ich: Sehen Sie, das erklärt vielleicht gerade den Erfolg meines Buches: Die Bücherschränke sind voll mit Werken über Liebe, Sex, Mord und Totschlag, Körperausscheidungen, Familienschicksale; zu diesen Themen gibt es im Grunde nichts, was nicht schon irgendwann geschrieben wurde. Mein Buch behandelt ein Thema, das jeden betrifft, vom Kleinkind bis zum Greis, vom Hartz IV- Empfänger bis zum Top-Manager. Ich möchte Ihre Frage mal umformulieren: Warum hat bislang noch niemand darüber geschrieben?

F: Es gelingt Ihnen, den Leser mit einer sehr dichten Sprache zu fesseln…

Ich: … nicht wahr, da bekommt das Wort Dichter eine ganz neue Bedeutung (albernes Lachen)

F: M-hm… Herr Kah, gerade mit Ihrem Romanhelden, Malte-Kevin, diesem gleichsam beneidens- wie bedauernswerten Halbidioten, liebt, leidet und empfindet der Leser in einer nahezu unbeschreiblichen Weise, er könnte als unsterbliche Figur ist die Weltliteratur eingehen, Seite an Seite mit Christian Buddenbrook, Oskar Matzerath und Wachtmeister Dimpfelmoser – Hand aufs Herz: steckt etwas Malte-Kevin in Ihnen?

Ich: Nein. In mir steckten schon einige, das können Sie mir glauben, aber ein Malte-Kevin noch nicht, das wüsste ich…

F: (errötend) Nein, nein, das meinte ich nicht, vielmehr wollte ich wissen… also, trägt Ihr Roman autobiografische Züge?

Ich: Sehen Sie, so ein bisschen Malte-Kevin sind wir doch alle: wir essen, trinken, spielen gelegentlich an uns herum, bohren in der Nase, wenn es keiner sieht, schauen uns Pornos an, hören gerne Volksmusik…

F: Sie mögen Volksmusik?

Ich: Natürlich nicht. Sie?

F: Nun, ab und zu schaue ich schon das Musikantenstadel, wenn es nichts besseres gibt, das Fernsehprogramm wird ja auch immer schlechter…

Ich: Interessant… Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Volksmusik lieben?

F: Nun ja, lieben, so weit möchte ich nicht gehen, aber… ähem… – Herr Kah, haben Sie schon ein neues Werk in Arbeit, werden Sie versuchen, an den Erfolg vom „Leid des Kronkorkens“ anzuknüpfen?

Ich: Nein. Ich werde nie wieder etwas schreiben. Wissen Sie, nach dem Erfolg des „Kronkorkens“ kann ich mir nicht vorstellen, etwas vergleichbares oder gar besseres zu schreiben; alles, was jetzt noch käme, könnte dagegen nur farb- und tonlos erscheinen.

F: Was werden Sie stattdessen tun?

Ich: Ich spiele mit dem Gedanken, mir die Brust vergrößern zu lassen, und dann… mal sehen.

F: Eine Brustvergrößerung als… äh… Mann?

Ich: Ja warum denn bitte nicht? Wir leben im Zeitalter der Gleichberechtigung, Frauen arbeiten in metallverarbeitenden Berufen, die Zahl der Stahlträgerinnen ist in den letzten zehn Jahren sprunghaft gestiegen, sie fahren Bus, ja selbst ein Laubbläser in Frauenhand ist heutzutage nichts außergewöhnliches mehr; da werde ich als Mann mir ja wohl die Brust vergrößern lassen dürfen!

In diesem Moment ging der Wecker los und beendete jäh das Gespräch. Leider kann ich mich nicht erinnern, was das Thema meines Romans „Vom Leid des Kronkorkens“ war, welcher mir diesen Erfolg bescherte. Aber die Idee mit der Brustvergrößerung gefällt mir immer besser.

Schmerzwach: Kitchen Stories VI

Es ist schon eine Weile her, dass ich meine saumäßige Schreibdisziplin beklagte, die mich beharrlich hindert, endlich meinen Bestseller zu schreiben, damit ich mein schnödes Tagwerk (vulgo: Arbeit) hinter mir lassen und morgens länger schlafen kann. Zwar hat sich daran seitdem nicht viel geändert, aber wenigstens weiß ich nun, dass ich damit nicht alleine bin. Auch mein Blogfreund Jannis äußerte sich kürzlich in seinem Blog zu dieser an sich unerfreulichen Problematik, lesen Sie selbst:

Kitchen Stories SIX

Menschen, die schreiben, sagen oft: Wenn ich doch nur die Möglichkeit hätte, mehr Zeit für das Schreiben zu investieren, dann… ja dann wäre mein Leben sehr viel lebenswerter, glücklicher. Nicht schuften müssen, um Geld zu verdienen und zu überleben, sondern einfach Zeit zur freien Verfügung – und schreiben, schreiben, schreiben…

So einfach ist das natürlich nicht. Wer kennt nicht diese Situation: Du musst eine Haus-/ Magister-/ Diplomarbeit schreiben… und dir fallen plötzlich so viele Dinge ein, die dich am Schreiben hindern, was du alles unbedingt machen musst, putzen zum Beispiel, einkaufen gehen, schließlich hast du nichts da, und was ist, wenn du während des Arbeitens plötzlich Hunger bekommst oder Durst, nein, dann geht es nicht weiter, und schließlich musst du das jetzt noch schnell machen, bevor du nachher in einen Schreibfluss kommst; und dann ruft dich nach dem Putzen/ Einkaufen auch noch der beste Freund an, der Liebeskummer hat – natürlich musst du dich mit ihm treffen, dich um ihn kümmern… Und so geht es auch mir: den Freitag halte ich mir in der Regel frei, um zu schreiben. Diesen Freitag stand ich also früh auf, und dann fielen mir eine Million Dinge ein, die ich ja noch unbedingt machen muss… Aber es geht noch weiter. Man sucht ja eine Ausflucht, man hat Angst sich hinzusetzen, Angst zu schreiben, Angst vor der Angst – nämlich, dass das alles anstrengend ist, dass man blockiert ist, und so blockiert man sich tatsächlich. Schlechte Laune kommt hoch, man gerät in so eine Panik-Situation. Dann hilft so gar nichts mehr. Plötzlich ist man ganz schön gereizt, die Zeit rennt einem davon und bald denkt man: Heute klappt dass eh nicht mehr, ist ja schon Abend, dann gehe ich doch lieber raus. Aber dann wird einem bewusst: Scheiße, diesen Freitag hatte ich mir doch extra zum Schreiben freigehalten, der Samstag ist verplant und Sonntag, wer weiß, was Sonntag wieder ist, mit den Sonntagabend-Gefühlen. Und dann ist auch schon wieder dieser Manic Monday!…

Quelle: http://schmerzwach.blogspot.com/2011/02/kitchen-stories-six.html

Darkroom Diaries

Es ist mal wieder Zeit für einen Blogtausch mit Jannis. Der nachfolgende, schon ein paar Tage alte Text aus seinem Blog „Schmerzwach“ beschreibt sehr anschaulich-drastisch die Erlebnisse eines jungen Mannes in gewissen Etablissements zur Befriedigung spezieller männlich-menschlicher Bedürfnisse (das darf man glaube ich so schreiben, jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass es ähnliche Lokale auch für Frauen gibt).

Ich habe diesen Text ausgewählt, weil er zum einen sehr, ja geil, geschrieben ist, zum anderen aber, weil dieses Thema so wunderbar polarisiert: die einen lehnen derartige Läden empört ab, die anderen lieben diese Art der Abwechslung. Zu welcher Gruppe ich mich selbst zähle, dürfte ich an einigen Stellen schon deutlich gemacht haben…

Vorsorglich weise ich darauf hin, dass der Text für Leser unter achtzehn Jahren nur bedingt geeignet ist; allen anderen wünsche ich viel Vergnügen!

Quelle: http://schmerzwach.blogspot.com/2011/01/darkroom-diaries-3.html

Darkroom Diaries -3-

Wenn es um die Darkroom Diaries geht, dann ist niemand berufener davon zu erzählen, als mein lieber Freund Jott A. Er machte einst eine Führung mit mir durch den Karlsruher Nymphengarten und bewies mir, dass es auch in dieser langweiligen Beamtenstadt Cruising Areas für Schwule gibt. Unangenehm vielleicht, dass ich beim Umschauen entdeckte, dass einer meiner Verehrer dort rumlungerte – der bekam, wie man sich denken kann, keine Chance mehr bei mir. Jott A., der so ganz anders mit seiner Sexualität umgeht als ich – ein Besucher nicht nur von Parks, sondern auch von Sex-Kinos und Klappen – erzählte und erzählt mir noch immer Geschichten, mit denen ich nicht dienen kann. Das geht dann so: Ich war einmal in einem Darkroom in Mannheim, im Connexxion, unten in den Katakomben, die haben ja jetzt zugemacht da. Da sind ja vor den eigentlichen Darkrooms noch so allerlei „Liebes“-Schaukeln, Zahnarztstühle, Slings etc… Dort habe ich mich in einen dieser Slings begeben, da ist einer vor dieser Toilette, wo die Jungs auf Golden Shower warten (angepisst zu werden!), nackt, wie ich war, die Typen konnten mich betrachten, an mir spielen, an meinem dicken Schwanz, an meinem Anus, lecker, yummie, das war sooo geil. Manch einer hat mir in die Nippel gezwickt, andere haben mich mit Zigaretten bearbeitet, und dann, und dann, dann hat sich da jemand hinter mich gestellt, der hat mich gefickt, voll der Riese war der, aber mit was für einem geilen Rohr, abartig, wasn Durchmesser, fast wie eine Pringles-Verpackung, so dick… Ich spürte ihn in mir, es war … Oh Mann! Und gleichzeitig spielte einer, so der Fußballer-Typ, jung, an meinem Schwanz, ein anderer leckte an meinen Fußzehen. Ich hielt es vor Geilheit kaum aus und spritzte dem einen Typen heftig ins Maul, so krass, und der andere fickte mich immer weiter...

Ich müsste mal wieder was schreiben…

Vor einiger Zeit ließ ich mich hier über meine Freude am Schreiben auf der einen und über meine saumäßige Schreibdisziplin auf der anderen Seite aus. Was hat sich seitdem geändert? Nichts. Jedenfalls nichts in Richtung einer erkennbaren Verbesserung. Obwohl, ich schreibe seit einigen Monaten sehr regelmäßig und relativ viel: kurze Texte, nicht länger als 140 Zeichen, die sogar eine gewisse Leserschaft finden und von dieser zuweilen mit einem gelben Sternchen bedacht werden, Sie wissen was ich meine.

Auch einen längeren Text habe ich (seit über einem Jahr, insofern relativiert sich der Begriff „länger“ etwas) in Arbeit, ich weiß noch nicht, was daraus werden soll, ein Roman, eine Kurzgeschichte vielleicht. Das Problem ist (normalerweise hasse ich diese Phrase als Einleitung eines Satzes, in diesem Falle trifft sie jedoch den Nagel ins Auge): Ich schreibe nicht weiter daran, jedenfalls nicht regelmäßig. Dabei mangelt es nicht an Zeit und auch nicht an Ideen. Ich schreibe einfach nicht, warum auch immer. Nehmen wir einen typischen Sonntag, der eigentlich ideale Tag für schriftliche Betätigung. Erstmal ausschlafen, das ist ja klar. Dann ein ausgedehntes Frühstück mit meinem Partner, das ist uns heilig. Keine Ahnung, warum die diese Sonntagszeitung immer so umfangreich machen. Im Kulturteil lese ich über erfolgreiche Buchneuerscheinungen und die Schilderung eines normalen Arbeitstages des Autors. Schlechtes Gewissen packt mich und der feste Entschluss, mich später an den Schreibtisch zu setzen. Nach dem Frühstück verlagere ich mich in meinen bequemen Lieblingssessel am Fenster, wo ich die Zeitung zu Ende lese, anschließend blättere ich noch etwas in den Zeitschriften, die ich endlich mal lesen sollte, zumal die nächste Ausgabe bald kommt.

Das Wetter ist schön, wir beschließen, einen Spaziergang zu machen; danach, von der Wirkung frischer Luft getrieben, werde ich meiner kreativen Tätigkeit nachgehen. Der Weg führt uns am Biergarten vorbei. Wollen wir kurz auf eins…? Klar wollen wir. Kaum sitzen wir am Tisch unter hohen schattigen Kastanien, kommen Freunde von uns dazu, zufällig, nur auf ein Bier. Dabei bleibt es natürlich nicht, es ist so gemütlich, das Bier schmeckt. Als wir am frühen Nachmittag nach Hause kommen, lege ich mich hin, ein Stündchen nur. Als ich die Augen wieder aufschlage, schlägt die Kirchturmuhr sechs. Ich fühle mich noch etwas matt, zwinge mich aber vom Sofa. Einen Kaffee, eine Zigarette, dann an die Arbeit.

Während ich den Rechner starte, schauen mich ungeöffnete Post und zu tätigende Überweisungen anklagend an, die sich im Laufe der Woche auf dem Schreibtisch angesammelt haben. Deren Erledigung geht natürlich vor, erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nachdem alles geöffnet, abgeheftet und überwiesen ist, öffne ich nun endlich die Datei meines Textes, der nun schon so lange seiner Vollendung harrt. Die erste halbe Stunde ist eine Qual. Ich lese das bereits geschriebene, ändere, ergänze oder streiche vielleicht das eine oder andere Wort oder einen ganzen Satz. Dann nähere ich mich dem vorläufigen Ende meines Textes, also der Stelle, an der es weiter gehen müsste. Ich habe lange nicht mehr meine Twitter-Timeline nachgelesen, nur ganz kurz. Zwei Tweets verlangen nach einer Antwort meinerseits, was ich umgehend voller Witz und Charme erledige.

Zurück zum Text. Also, wo war ich stehen geblieben. Der Satz, der jetzt geschrieben werden will, ist mit Abstand der schwerste. Er muss das vor längerer Zeit geschriebene verbinden mit dem noch zu schreibenden. Ein Blick auf die Uhr: ich muss meine Eltern anrufen, sonntags um diese Zeit rufe ich sie immer an, die warten sicher schon. Danach wird mir der Satz wie von selbst aus der Feder fließen, weil ich denn den Kopf etwas freier habe nach Erledigung familiärer Pflichten. – Keiner da, sind wohl unterwegs. Dann eben nicht. Gut, zum Text also. Ich beginne den problematischen Satz, kette mühsam Wort an Wort, bringe ihn zu Ende, Punkt. Nein, das geht nicht, er passt zum übrigen Text wie eine weiße Hand, die man einem Dunkelhäutigen transplantiert hat, weil gerade keine andere zur Hand, also ich meine, verfügbar war. Das Bild ist witzig, daraus kann man einen guten Tweet machen, der mir Sternchen, RT´s und Neufolger bringen wird, also wieder bei Twitter rein, wo ich neben der Platzierung des witzigen Tweets kurz die Timeline überfliege (33 Neueingänge, davon vier Antworten auf meine Tweets, denen ich gewohnt elegant entgegne).

Ich lösche den soeben geschriebenen Satz, der so gar nicht passen wollte und beginne einen neuen, wobei ich im Schreiben merke, ja, der fügt sich harmonisch an, davon noch zwei, drei weitere und der Schreibfluss würde mich erfassen. – Telefon. Meine Mutter. Detailreich erzählt sie mir die mehr oder weniger bedeutenden Ereignisse ihrer zurück liegenden Woche, ich ihr meine, wenn auch vielleicht nicht ganz so bis in alle Einzelheiten (manches müssen Mütter ja auch nicht wissen). Eine knappe halbe Stunde später, nachdem alles wesentliche ausgetauscht ist, widme ich mich wieder der Schrift. Der Satz steht wie eine Eins, perfekt, nun also der nächste, der mich dem Traum schriftstellerischen Ruhmes näher bringen wird. Mein Held betritt eine Kneipe. Ich habe Durst. Genauer: Kaffeedurst. Koffein wird die kreativen Gedanken erblühen lassen. Der Weg zur Kaffeemaschine führt mich an meinen Zigaretten vorbei. Gute Idee, lange nicht geraucht. Genüsslich stoße ich die bläulichen Wolken durch die Balkontür nach draußen, während der Kaffee duftend durchläuft.

In der Tat gehen mir die folgenden Sätze wesentlich besser von der Hand, der Text wächst, ich fühle mit meinem Helden, ich komme gut voran. Die Uhr leider auch. Nachdem ich den Satz zu Ende gebracht habe, muss ich aufhören, unaufschiebbare Einladung zum Essen, wir sind sowieso schon spät dran. Morgen; morgen werde ich an dieser Stelle nahtlos anknüpfen, das nehme ich mir fest vor. Wenn nicht… siehe oben.

Kurzgeschichte: Am Ende des Tages

Grau und scheinbar unbewegt erstreckt sich die Ostsee unterhalb des Fensters der weißen Villa; nur undeutlich ist am Horizont die Trennlinie zwischen dem Meer und dem Grau des Himmels auszumachen. Den ganzen Tag lang schon regnet es, zudem weht ein zwar leichter, jedoch eisig kalter Ostwind. Nur wenige Menschen spazieren heute dick vermummt die Strandpromenade und den kilometerlangen weißen Sandstrand entlang; fast menschenleer auch die Seebrücke, die unweit der Villa etwa hundert Meter weit ins Meer ragt. Im Sommer muss hier Hochbetrieb herrschen, doch jetzt ist eindeutig Nebensaison, worauf auch die zahlreichen Schilder „Zimmer frei“ in den Fenstern der Hotels, Pensionen und Ferienhäuser hindeuten.
Heinrich Kahmann sitzt in der rundum verglasten Veranda, die seinem erstaunlich großem Zimmer vorgelagert ist, deren Fenster sich bei schönem Wetter großflächig öffnen lassen, um der frischen Seeluft Einlass zu gewähren. Doch dazu besteht heute keine Veranlassung: Regentropfen perlen an der Scheibe herunter, und dass es jenseits der Fenster saukalt ist, das spürt Heinrich, auch ohne heute schon einen Fuß vor die Tür der Villa gesetzt zu haben. Er zündet sich eine Zigarette an, bereits die dritte seit dem Frühstück, von welchem er noch nicht lange zurückgekehrt ist, vielleicht eine knappe Stunde oder so. Frühstücksräume in Hotels und ähnlichen Häusern sind ihm verhasst, immer schon, vor allem wenn er alleine reist, was sein Job mit den vielen Geschäftsreisen immer wieder mit sich bringt. Aber das ist ja nun bald vorbei. Er mag es nicht, so kurz nach dem Aufwachen schon von fremden Menschen umgeben zu sein, mit ihnen Brötchen, Butter, Wurst und das immer und in ausnahmslos allen Hotels (warum nur?) lächerlich kleine Glas mit Fruchtsaft vom Büffet zu holen und dann, in der einen Hand den Teller und in der anderen das Säftlein, nach einem freien und möglichst frisch eingedeckten Tisch Ausschau zu halten, wo er in Ruhe und vor allem unbehelligt von irgendwelchen sinnlosen Gesprächen, die ihm ebendiese fremden Menschen aufzudrängen suchen, mit morgendlich-mäßigem Appetit sein Frühstück einnehmen kann, schweigend, umgeben vom geschäftigen Geklapper und Geplapper der Nachbartische. Die Strandvilla scheint nicht mal zur Hälfte belegt zu sein; im Frühstücksraum waren heute Morgen nur zwei ältere Ehepaare, ein alter Mann im schwarzen Anzug, dessen gesamte Aufmerksamkeit der Tageszeitung galt, und ein jüngeres Paar mit seinem missmutig dreinschauenden Sohn im Pubertätsalter. In dem Raum herrschte eine geradezu sakrale Stille, keiner sprach, keiner von ihnen suchte Kontakt zu einem der Nachbartische.
Heinrich ist froh, wieder hier oben in seinem Zimmer zu sein, alleine und ungestört. Genüsslich bläst er den Rauch in den Raum, wo er sich nach kurzer Zeit verliert. Im Frühstücksraum ist Rauchen nicht erwünscht, jedenfalls legen das die nicht vorhandenen Aschenbecher nahe. Ein tiefer Zug noch, dann drückt Heinrich die kaum mehr als halb aufgerauchte Zigarette neben ihren erloschenen Vorgängerinnen aus; ein dünner Rauchfaden steigt zunächst gerade, dann sich kräuselnd nach oben, ehe die Glut erstirbt.
Ein Seewind kommt auf, der die Regentropfen frontal gegen die Scheiben peitscht. Nur noch vereinzelte Menschen sind auf der Strandpromenade zu sehen, in diesem Moment gibt es wahrlich gemütlichere Orte. Umgeben von der wohligen Wärme seines Zimmers betrachtet Heinrich die winterlich-kalte Ungemütlichkeit jenseits des nur wenige Millimeter dicken Glases. Genau so hatte er sich das vorgestellt, als er diese Reise plante. Er zündet sich eine neue Zigarette an. Ich sollte nicht so viel rauchen, denkt er. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle …
Damals, vor sechs Jahren, rauchte er noch nicht. Sie waren nicht weit von hier untergebracht, er und Matthias, im Vier-Sterne-Hotel „Seestern“. Ihren dritten Jahrestag feierten sie dort, im Hotelrestaurant, was nicht gerade billig war, aber wer schaute zu einem solchen Anlass schon auf den Cent, zumal sie es sich ohne Probleme leisten konnten. Auf die ewige Liebe stießen sie an, zumindest aber, unausgesprochen, darauf, dass sie noch viele gemeinsame Jahrestage feiern würden. Doch bereits wenig später ahnte Heinrich, dass nicht mehr gar so viele gemeinsame Jahre zu erwarten wären. Dabei gab es keinerlei äußere Anzeichen, die diese Vermutung bestätigt hätten; beide erfreuten sich bester Gesundheit, und ihre Beziehung stand im Lichte einer geradezu bilderbuchhaften Harmonie. Und doch war plötzlich, gleichsam über Nacht, diese einerseits vage und andererseits erschreckend konkrete Erkenntnis da, dass er, Heinrich, nicht mehr lange zu leben habe, konkret noch sechs Jahre; das hieß, im Jahre Zweitausendsechs, im Alter von gerade mal vierundvierzig Jahren würde für Heinrich das Licht ausgehen. Über den genauen Zeitpunkt sowie die Ursache seines Ablebens schwieg sich die Erkenntnis aus, somit blieb offen, ob er durch einen Unfall, eine Krankheit oder gar eine Gewalttat aus dieser Welt scheiden wird. Auch die Herkunft dieser Ahnung blieb im Dunkeln; weder war ihr ein finsterer Traum noch eine mysteriöse Begegnung vorausgegangen. Auf beides hätte Heinrich ohnehin nichts gegeben; seit jeher ist er ein Mensch, der nicht an Zeichen und Prophezeiungen aller Art glaubt, der die Dinge stets nüchtern-analytisch betrachtet. Auch den Glauben an Gott hat er bereits kurz nach dem Kindergartenalter verloren, sehr zum Leidwesen seiner Eltern, die ihn gerne im Sinne christlich-moralischer Grundsätze erziehen wollten. Aber die leben ohnehin in einer anderen Welt, einer Welt, zu der Heinrich keinen Zugang findet und ihn auch nicht sucht. Seit er sie darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass er mit Matthias zusammen lebt und sie von ihm keine Enkelkinder erwarten können, haben sie sich völlig von ihm zurückgezogen. Gut, ein Stück weit ist es auch er, der sich von ihnen zurückgezogen hat und ihnen niemals eine Chance gegeben hat, ihn und seine Welt zu verstehen. Doch so lange jedes Mal, wenn er mit seiner Mutter telefoniert, was selten genug vorkommt (mit seinem Vater hat er seit Jahren kein Wort mehr gesprochen, weil diese Gespräche stets nach kurzer Zeit zu einem heftigen Streit ausarteten), dieser unausgesprochene Vorwurf anklingt, sieht er keinen Grund, daran etwas zu ändern. Dabei macht er ihnen keinen Vorwurf; aus ihrer Sicht der Welt können sie wohl nicht anders. Das einzige, was Heinrich seinen Eltern seit frühester Kindheit vorwirft, ist die Auswahl seines Vornamens. Nur weil sein Großvater, der Vater seines Vaters so hieß! Wie er diesen Namen hasste: Die anderen Jungs in seiner Klasse hießen Markus, Stefan, Jens, Jörg, Frank, Michael, Torsten, Thomas, Christian, Philipp; keiner jedoch August, Gustav, Herrmann, Walter, Oskar, Günther (wie sein Vater) – oder eben Heinrich. Keiner außer ihm jedenfalls. Wie peinlich war es ihm jedes Mal, wenn der Lehrer ihn aufrief, oder wenn er sich irgendwo vorstellen musste. Stets fühlte er sich viel älter, als er tatsächlich war, was in einem krassen Gegensatz stand zu seinem Äußeren: Während seine männlichen Mitschüler nach und nach in den Stimmbruch kamen und ihnen, wie Heinrich neidvoll beim Umkleiden für den Sportunterricht sah, Haare in verschiedenen Körperregionen wuchsen, blieb seine Stimme noch lange Zeit piepsig und die Körperregionen kindlich-kahl. Noch heute blickt er – jetzt nicht ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit, so ändern sich die Bewertungen – in das Spiegelbild eines jungen Mannes, dessen Alter zumeist auf Anfang bis Mitte Dreißig geschätzt wird. Schon oft wurden sie gefragt, wer von Ihnen der jüngere sei: Er, Heinrich, oder Matthias, sein fast fünf Jahre jüngerer Freund.
Wie mag es Matthias jetzt gehen, ist er glücklich? Heinrich hat länger nichts von ihm gehört. Matthias die große Liebe seines Lebens. Nie zuvor hat er einen Menschen dermaßen geliebt, und er weiß, nie wieder würde er einen Menschen so lieben. Aber dazu bleibt ihm ja auch keine Zeit mehr. Ihr gemeinsamer Traum, irgendwann zusammen ein kleines Haus auf dem Land zu kaufen, wo sie zusammen alt werden können, ist ausgeträumt, wobei es für Heinrich allein schon am Altwerden scheitert, ob mit oder ohne Matthias. Durch die regentropfenbehängte Scheibe blickt er auf die weite Ostsee, deren einheitliches Grau von einzelnen weißen Gischtkronen getupft ist. Der Wind ist stärker geworden und weht hörbar in Böen um die Villa, deren weiß gestrichene und reichlich mit filigranen Holzschnitzereien versehenen Holzbalken, die die Balkons und Veranden einfassen, ab und zu unter der Windlast knacken, ohne den geringsten Anlass zur Sorge um die Standfestigkeit des Hauses, das in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte schon ganz anderen Stürmen standgehalten hat. Was für ein wunderbarer Tag zum Sterben, denkt Heinrich und zieht genüsslich an der Zigarette, deren Glut daraufhin hell aufleuchtet. Wenn er nur wüsste woran … Abgesehen von einer leichten Erkältung, die in dieser Jahreszeit ja nichts Besonderes ist, fühlt er sich bestens. Vielleicht breitet sich ja auch seit Längerem, bislang unbemerkt und ungestört, ein Gehirntumor aus, der bereits ein Stadium erreicht hat, das jede Operation in die Zwecklosigkeit verweist. Waren da nicht neulich diese schrecklichen Kopfschmerzen? Gut, da hatte er tags zuvor eine ganze Flasche Whisky alleine geleert, weil er keine Lust hatte, seinen vierundvierzigsten Geburtstag mit irgendjemandem zu feiern. Niemanden hören und sehen wollte er, nicht einmal Matthias. Keine Glückwünsche, das Mobiltelefon war ausgeschaltet (wie fast immer), ans Telefon ging er nicht, und zu Besuch kam niemand. Wozu auch noch Glückwünsche entgegennehmen, es war schließlich sein letzter Geburtstag, und das ist auch gut so. Als die Erkenntnis seines nahenden Endes über ihn kam, damals vor nunmehr sechs Jahren, reagierte er keineswegs schockiert, sondern er nahm es mit einer Leichtigkeit hin, die ihn selbst erstaunte. Gut, sechs Jahre, die vor einem liegen, erscheinen lang; wenn man denselben Zeitraum jedoch rückblickend betrachtet, so sind sechs Jahre erschreckend kurz. Doch nahm Heinrichs Gelassenheit über sein näher kommendes Ende nicht ab, je mehr die ihm noch verbleibende Zeit hienieden auch zusammenschmolz: fünf, vier, drei, zwei Jahre, ein Jahr, dann eine ihm unbekannte Anzahl von Monaten, Wochen, Tagen, Stunden …
Den letzten Jahreswechsel feierte er noch mit Matthias und ein paar Freunden in ungetrübter Ausgelassenheit. Immerhin, so viel hatte ihm die Erkenntnis verraten, dass er seinen vierundvierzigsten Geburtstag noch erleben würde, und der war ja erst im September, mithin blieben ihm mindestens noch neun Monate und ein paar Tage; selbst dieser Zeitraum erscheint lang, wenn er vor einem liegt. Sind seitdem wirklich schon elf Monate vergangen, seit sie, wie immer zu Silvester, um die schon traditionelle Feuerzangenbowle herum saßen, einschließlich dem berühmten gleichnamigen Film mit Heinz Rühmann? Unglaublich. Auch jetzt, da der finale Termin fällig, wenn nicht überfällig ist, empfindet Heinrich nicht die Spur von so etwas wie Todesangst. In den zurückliegenden sechs Jahren hat er eine geradezu erstaunliche Nüchternheit in Bezug auf den Tod, insbesondere seinen eigenen, entwickelt. Die Erkenntnis über den nahenden Tod von Matthias hätte ihn, wenn es sie denn gäbe, ungleich schmerzlicher getroffen. Irgendwann ist jeder einmal dran, warum nicht schon jetzt mit Vierundvierzig? Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. In der Tat empfindet Heinrich seit längerem eine gewisse Lebensmüdigkeit, allerdings in äußerst positivem Sinne. Sein Leben ist bislang sehr geradlinig mit steigender Tendenz verlaufen, mal abgesehen von seinem Verhältnis zu den Eltern; nie gab es irgendwelche Schicksalsschläge, die ihn zurückgeworfen hätten. Und so ist die Bilanz seines Lebens durchaus sehenswert: Er ist gesund, zumindest fühlt er sich so; er hat eine gut bezahlten Job, den er dazu nicht ungern ausübt und der es ihm ermöglicht, sein Dasein in zwar nicht luxuriösen, jedenfalls aber äußerst zufrieden stellenden wirtschaftlichen Verhältnissen zu fristen; er wohn in einer schönen Wohnung in einer wunderbaren Stadt; er hat gute Freunde, zwar nicht viele, aber immerhin welche, auf die er sich verlassen kann. Und – das wichtigste von allen – in Matthias hat er die Liebe seines Lebens gefunden. Mit anderen Worten, er hat allen Grund, wunschlos glücklich zu sein. Jedenfalls kann er sich nichts vorstellen, auch nicht ein Lottogewinn, wenn er denn Lotto spielte, das ihn langfristig glücklicher machen würde. Aber ist es nicht geradezu fatal, wunschlos glücklich zu sein? Auf was soll man sich noch freuen, wenn nichts besser werden kann? Schlimmer noch: Wenn nichts besser werden kann, dann kann es doch nur schlechter werden! Wenn auch nicht sofort, so doch ganz sicher irgendwann. Und genau das ist es, wovor Heinrich, der, dessen Leben sich bislang nur, ungetrübt durch irgendwelche Schicksalsschläge, positiv entwickelt hat, Angst hat. Wie soll er, ungeübt im Umgang mit negativen Ereignissen, damit klarkommen, wenn sich die Entwicklung eines Tages, und der Tag würde unweigerlich kommen, umkehrt? Ist es da nicht viel besser, jetzt, da alles um ihn so gut bestellt ist, aus der Zeit zu gehen? Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören, in dieser abgegriffenen Floskel steckt doch eine Menge Wahrheit.
Der Regen hat nachgelassen, daher beschließt Heinrich, die warme Behaglichkeit seines gemütlichen Zimmers zu verlassen, sich im Ort eine Tageszeitung zu kaufen und diese im Café am anderen Ende der Strandpromenade in Ruhe zu lesen. Heftiger eisiger Wind umweht ihn, als er die Strandvilla verlässt und auf die nahezu menschenleere Promenade tritt; trotz der dicken Winterjacke ist im kalt. Dennoch nimmt er nicht den direkten Weg zum Zeitungsladen im Ort, sondern er schlendert die Promenade entlang, die aufgewühlte Ostsee zu seiner Rechten. Damals, Ende August vor sechs Jahren, war es warm, die See lag ruhig unter einem strahlend blauen Himmel, auf dem der Promenade vorgelagerten fast weißen Sandstrand standen Strandkörbe in einer in einer unendlich erscheinenden Anzahl, aus dem Wasser lugten zahlreiche Köpfe badender Urlauber, Kinder kreischten vergnügt. Und doch fühlt sich Heinrich hier heute, da er fast alleine ist, nicht weniger wohl. Er betritt die menschenleere Seebrücke, die ins Meer ragt und an deren Pfählen sich einige Meter unter ihm die Wellen weiß schäumend und mit rhythmischem, nicht enden wollendem Rauschen brechen, so dass die Luft erfüllt ist von einem salzigen Niesel, eine vage Andeutung von Naturgewalt, die Heinrich in wohligen Schauer versetzt und ihn die Kälte augenblicklich vergessen lässt. Trotz heftiger Windböen, die ihn immer wieder fast von den Füßen reißen, geht er weiter bis zum Ende der Seebrücke, wo sie sich zu einer Aussichtsplattform verbreitert, an der Stirnfront ein fest installiertes Fernrohr, das, heute arbeitslos, nach Münzeinwurf für einige Minuten einen näheren Blick auf das gegenüberliegende Ufer der Bucht und die Weite der Ostsee ermöglicht. Immer wieder schießen Gischtwolken hoch und erfüllen die Luft mit Wasser, Salz und Rauschen. Heinrich dreht sich um und blickt zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist, das Ufer, an dem sich die Villen und Hotels, zumeist in der für diese Gegend typischen weißen Bäderarchitektur gehalten, wie eine Perlenkette aufreihen. Bei einigen von ihnen blättert, aus der Nähe betrachtet, die weiße Farbe ein wenig ab, was ihnen jedoch eher den Anschein einer gewissen Patina und weniger den des Verfalles verleiht. Doch von hier, aus der Ferne der Seebrückenspitze, wirken sie alle gleich adrett und einladend. Davor der menschenleere helle Sandstrand, der sich kilometerweit nach rechts erstreckt. Links, auf einer kleinen Anhöhe, der alte Leuchtturm, der während der dunklen Stunden, vielleicht auch nur noch für die Touristen, Heinrich weiß es nicht, seinen Lichtkegel im gleich bleibenden Rhythmus über die schwarze See streichen lässt. Heinrich dreht sich wieder um, lehnt sich auf das Geländer, das die Spitze der Seebrücke umschließt, und blickt nach unten auf das schäumende Wasser. Nur noch ein Schritt, ein kleiner Sprung, und er hätte der Vorahnung genüge getan. Niemand würde es heute bemerken, man würde ihn vielleicht erst Tage später finden, wenn die Wellen seinen Körper an den Strand getragen hätten, wie einen unzeitigen Badegast. Wie lange würde es wohl dauern, bis der Tod eintritt, vielleicht drei Minuten, vielleicht fünfzehn, bis die eisige Kälte des Wassers dem Körper das Leben entzogen hätte? Keine angenehme Vorstellung, womöglich minutenlang im Eiswasser darauf zu warten, dass das Bewusstsein erlischt. Zudem ist Heinrich ein ausgezeichneter Schwimmer, was der Sache vermutlich nicht gerade dienlich ist. Nein, das ist keine Idee, die weiter zu verfolgen ist. Schon oft hat Heinrich darüber nachgedacht, wie er es anstellen würde, sich das Leben zu nehmen, wenn es denn erforderlich würde, einfach so darüber nachgedacht, ohne konkreten Anlass und erst recht ohne konkrete Absicht. Eine abschließende Antwort hat er bis jetzt nicht gefunden, denn zwei Kriterien müssten die Umstände seines Suizides erfüllen: Es dürft nicht zu qualvoll für ihn sein, womit der Tod durch Ertrinken, Ersticken, Erfrieren und Verbrennen schon einmal ausscheidet; und es dürften keine weiteren unbeteiligten Personen mit hineingezogen werden, der Lokführer, dem er vor den Zug springt, oder der Spaziergänger, der ihn im Wald an einem Baum baumelnd findet. Da bleibt dann nicht mehr viel, gar nicht so einfach, für alle Beteiligten einigermaßen angenehm zu sterben …
Durchgefroren verlässt Heinrich den ungemütlichen Ort und die düsteren Gedankengänge, über die umtoste Seebrücke zurück in Richtung Strand und Stadt, um sich endlich eine Zeitung zu kaufen. Die launige, in mecklenburgischem Dialekt vorgetragene Bemerkung des Zeitungsverkäufers über das ungemütliche Wetter quittiert er wortlos mit einem freundlichen Lächeln. Eine Viertelstunde später sitzt er im Café, an einem kleinen Tisch direkt am Fenster mit Blick auf die See, über der dunkle Wolken aus Richtung Westen aufziehen, vor sich einen dampfenden Grog mit einem robusten Mischverhältnis Rum – Heißwasser, der die Lebensgeister langsam wieder erweckt, welche Heinrich vor weniger als einer halben Stunde noch, jedenfalls theoretisch, der Ostsee zu übergeben überlegte. Er studiert die Todesanzeigen in der Zeitung mit einer besonderen Aufmerksamkeit, die er hierbei schon seit Längerem an den Tag legt. Vor allem interessiert er sich für die Geburtsdaten, begleitet von einer unerklärlichen Zufriedenheit, wenn einer der Schwarzgerahmten in Heinrichs Alter oder gar jünger war, so als ob diese an sich bedauernswerte Tatsache direkt zu ihm spräche: Siehst du, die Einschläge kommen näher, bald steht dein Name auch hier, oder als ob es einer Rechtfertigung bedurfte, bereits in seinem Alter das Zeitliche zu segnen. Da, wieder einer: ein junger Mann, geboren 1969, plötzlich und unerwartet … aus unserer Mitte gerissen. Heinrich lässt mit einem kaum merklichen Lächeln die Zeitung sinken und schaut auf das unsterbliche Meer, jedenfalls aus der Sicht eines begrenzten Menschenlebens. Wie wird seine eigene Todesanzeige wohl aussehen? Wird es überhaupt eine geben, wenn ja, wer wird sie formulieren und in die Zeitung setzen? Seine Eltern („… für uns unfassbar …“)? Matthias („… in Liebe …“?)? Seine Freunde („… du fehlst uns…“)? Seine Firma („… haben wir einen wertvollen Mitarbeiter verloren …“)? Wirklich schade, dass er sie nicht selbst lesen können wird.
Nach einem weiteren Grog hat Heinrich die Zeitung durch. Da er müde wird, entschließt er sich, zurück in seine Villa zu gehen und sich etwas hinzulegen. Er muss an Matthias denken, als er auf dem Bett liegt, über sich die stuckverzierte Zimmerdecke. Er fehlt ihm sehr, der Mann, die Liebe seines (voraussichtlich nicht mehr allzu langen) Lebens. Drei Monate ist es her, seit er ihn verloren, kampflos aufgegeben, oder sozusagen umständehalber in gute Hände abgegeben hat. Ja, wenn es sich nicht um Matthias sondern um ein Haustier, einen Hund vielleicht, handeln würde, wäre diese Formulierung wohl die zutreffendste. Es begann ganz harmlos: In ihrer Lieblingskneipe kamen sie mit Ottmar ins Gespräch, aus einer zunächst oberflächlichen Unterhaltung wurde bald heftiges Flirten, zunächst scheinbar zufällige Berührungen, die im Laufe des Abends immer häufiger und immer absichtlicher wurden, später, nach mehreren gemeinsamen Bieren, war allen dreien klar, dass man sich nicht nur sympathisch fand und dass man die Nacht zusammen verbringen würde, und das nicht Bier trinkend. Es war nicht das erste Mal, dass Heinrich und Matthias einen Dritten mit zu sich nahmen. Da er anschließend keine Möglichkeit mehr hatte, nach Hause zu fahren, blieb Ottmar über Nacht, nicht auf dem Gästesofa, sondern in ihrem Bett, zwischen ihnen. Am nächsten Morgen wurde Heinrich bereits früh geweckt, dadurch, dass sich seine beiden Bettgenossen schon wieder miteinander beschäftigten. Als morgendlicher Muffel bezüglich derartiger körperlicher Betätigungen verzichtete er drauf, mitzuspielen und ließ die beiden machen. Wie Heinrich später beim gemeinsamen Frühstück bemerkte, verstanden sich sein Matthias und dieser Ottmar offenbar auch auf einer anderen Ebene sehr gut. Gewiss, ihr Gast war schon sehr attraktiv, keine dreißig Jahre alt, schlank, sympathisch, witzig und in speziellen Dingen nicht unbegabt. Doch hätte Heinrich nichts dagegen gehabt, wenn er vor dem Frühstück verschwunden wäre; das ungestörte Frühstück am Sonntag mit Matthias war ihm heilig. Doch der schien gar nicht daran zu denken, vielmehr schwatzten die beiden angeregt miteinander, Heinrich kam kaum dazwischen. Plötzlich war er der Dritte, hatte er den Eindruck. Dieser Eindruck verstärkte ich in den folgenden Tagen: Ottmar rief fast täglich an. Während es zwischen Heinrich und ihm immer nur zu einem Austausch von Höflichkeiten kam, was innerhalb weiniger Minuten erledigt war und dann in beidseitiger Sprachlosigkeit mündete, konnte Ottmar mit Matthias kleine Ewigkeiten, für Heinrich gefühlte Stunden lang plaudern, wobei Matthias einen Tonfall bekam, der in Heinrichs Ohren sehr intim, zu intim klang. Spätestens jetzt wäre es an der Zeit gewesen, die Zügel ein wenig anzuziehen, doch Heinrich kam ein anderer Gedanke: Kam es nicht geradezu einer günstigen Fügung des Schicksals gleich, dass Ottmar jetzt in ihr Leben trat, da Heinrich nicht mehr lange für Matthias da sein konnte? War er nicht genau der richtige, der Matthias auffangen, seinen Kummer mildern konnte, wenn er, Heinrich, nicht mehr da war? Aber reichte es aus, so lange zu warten? Bis zu Heinrichs Abgang konnte noch einiges geschehen, Ottmar konnte inzwischen einen anderen kennenlernen, so dass Matthias dann doch alleine da steht. Nein, die Sache duldete keinen Aufschub, Heinrich musste die Übergabe sofort in die Wege leiten, so schmerzlich das auch war, aber für Matthias war es das Beste, und nur darum ging es, schließlich liebte er ihn über alles. Genau darin lag die Schwierigkeit seines Vorhabens: Wie trennt man sich von dem Menschen, den man liebt, und das möglichst ohne Drama? Am besten, indem man die Trennungsabsicht bei dem anderen weckt. Die Voraussetzungen hierfür waren nicht schlecht: Dass Matthias für Ottmar mehr empfand als Sympathie und Freundschaft, war offensichtlich; klar war auch, dass sie regelmäßig Sex miteinander hatten, ohne Heinrich. Heinrich ertrug es, obwohl er hätte schreien können: die täglichen Telefongespräche, manchmal auch mehrere an einem Tag, bei denen Heinrich, um Matthias´ liebevoll säuselnde Stimme nicht ertragen zu müssen, stets den Raum verließ, am liebsten fortgelaufen wäre, aus der Wohnung, aus der Stadt; die Erwähnung Ottmars in jedem zweiten Satz, den Matthias von sich gab; die Nächte, in denen Matthias erst spät nach Hause kam, was keiner Erklärung bedurfte. All das nahm Heinrich fragen- und widerspruchslos hin, auch wenn es ihn innerlich fast zerriss. Als Matthias eines Abends sagte: „Wir müssen mal miteinander reden“, da wusste Heinrich, sein Plan war aufgegangen, die Übergabe vollzogen. Kurz darauf buchte er eine Woche Ostsee, für eine Person …
Heinrich schreckt hoch, irgendetwas hat ihn aufgeweckt. Auf die Ellenbogen aufgestützt, horcht er. Es ist dunkler geworden im Zimmer, offenbar hat die Abenddämmerung bereits eingesetzt, wie spät ist es eigentlich? Das Wetter scheint sich beruhigt zu haben, kein Wind mehr weht um das Haus, kein Regen peitscht gegen die Fenster. Wie lange mag er geschlafen haben? Als er zu seiner Armbanduhr greifen will, die auf dem Nachttisch liegt, ein erneutes zaghaftes Klopfen an der Zimmertür, so als ob der Klopfende auf keine Fall stören wolle, ihm jedoch bewusst ist, dass er genau dieses tut. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Neugierde erhebt sich Heinrich vom Bett, schließt die Tür auf und öffnet sie. Er wähnt sich noch im Traum des soeben abgebrochenen Nachmittagsschlummers, doch er ist wach, daran besteht kein Zweifel, vielleicht sogar so wach wie schon lange nicht mehr: Vor ihm steht, mit feuchten Augen lächelnd, Matthias. Als sie sich wortlos, noch im Türrahmen, in den Armen liegen, weiß Heinrich, dass er nicht sterben wird. Noch nicht.