Woche 40/2025: Krabbensuppe statt Currywurst und barfuß durchs Watt

Vorbemerung: Aus gegebenem Anlass ist dieser Rückblick etwas umfangreicher als gewohnt geraten. Ich bitte um Verständnis.

Montag: Die erste Nacht in Büsum schlief ich gut. Mit dem Hotel bin ich weiterhin sehr zufrieden: Neben Seeblick vom Balkon und Jackenhaken im Zimmer verfügt es über einen angenehm großen, ruhigen Frühstücksraum mit umfangreicher Auswahl und ausreichend großen Saftgläsern. Wer über ein nicht mehr ganz modernes Bad in beigebraunem Design mit feuchtraumtypischer Patina in Fliesenfugen hinwegsehen kann, dem empfehle ich es. Noch ein Vorzug: Frühstück gibt es bis zwölf Uhr.

Nach einem für meine Verhältnisse umfangreichen Frühstück unternahm ich die erste Wanderung: über den Deich nördlich bis Hedwigenkoog, von da durch die Marsch über Westerdeichstrich zurück nach Büsum. Die Wanderung endete am Büsumer Hafen, wo ich für morgen eine Schiffsfahrkarte nach Helgoland erstand, anschließend suchte ich eine nahe Gaststätte auf für das Belohnungsbier, dazu statt Currywurst eine Krabbensuppe.

Zwischen Hedwigenkoog und Westerdeichstrich ging ich an zahlreichen Windrädern vorbei. Gewiss, eine Zierde für das Landschaftsbild sind sie nicht, aber es hilft ja nix – Wir wollen Bahnfahren, künstliche Inkompetenz nutzen und Pornofilme striemen, gleichzeitig das Klima schützen; irgendwoher muss der Strom ja kommen, und wo wenn nicht hier sollte man die Dinger hinbauen. Und wer weiß, vielleicht wird man sie dereinst, wenn dieses Blog und sein Schreiber längst verstummt sind, mit ähnlich romantischen Gefühlen betrachten wie heute die Windmühle von Westerdeichstrich, vielleicht stellt man die letzten Exemplare unter Denkmalschutz und sagt einander: Stell dir vor, so wurde früher Strom erzeugt.

Erstmals kam ich den Windrädern richtig nahe, sonst sieht man sie ja immer nur beim Vorbeifahren mit dem Auto oder der Bahn. Dabei interessierte mich, welche Geräusche sie machen, die ja häufig, neben der Optik, als Argument gegen das Aufstellen genannt werden. Ja, man hört sie schon, ein gleichförmiges Flap – flap – flap im Takte der Rotorblätter. Andererseits nicht lauter als das Rauschen von Blättern bei Wind oder Meeresgetöse. Warum deshalb ein Mindestabstand zu Wohngebäuden einzuhalten ist, erschließt sich mir nicht.

Der Prototyp solcher Anlagen mit dem schönen Namen „Growian“ (für „Große Windenergieanlage“) stand übrigens in den Achtzigern gar nicht weit von hier im Kaiser-Wilhelm-Koog; Näheres dazu ist bei Interesse hier nachzulesen. Witzig: Mit dem Growian sollte vor allem der Beweis erbracht werden, dass die Windenergieerzeugung mit so großen Anlagen nicht funktioniert.

Wie stets auf Wanderungen, so auch hier: Sobald man eine gewisse Siedlungsdichte hinter sich gelassen hat, grüßt man einander bei der Begegnung, egal ob zu Rad oder zu Fuß. Hier mit dem üblichen „Moin“ zu jeder Tageszeit, was mir sehr sympathisch ist.

Das Wetter zeigte sich auch heute angenehm: Die Sonne schien, dazu ein anhaltender Wind, in der leichten Daunenjacke gut auszuhalten, zeitweise fast schon etwas zu warm.

Hotelblick, frühmorgens
Man sieht es auf dem Foto nicht direkt, aber ich meine, es neigt sich etwas in Richtung Meer. Eine Schönheit ist es nicht, gehört aber zum Büsumer Erscheinungsbild umbedingt dazu.
Wattenmeer
Das Verb „mähen“ hat zwei Bedeutungen. Hier treffen sie aufeinander.
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Dithmarscher Kohl
Idyll in Hedwigenkoog
Flap – flap
Immerhin schon künstlerisch verarbeitet
Bei Hedwigenkoog
Die Margaretenmühle in Westerdeichstrich
Ein Wort mit hoher Punktzahl bei Scrabble
Kurz vor Büsum
Die SC 34 gibt es auch noch. Auf ihr fuhren mein Vater und ich in den Achtzigern bei der Büsumer Kutterregatta mit. Sie wurde etwas modernisiert, unter anderem erhielt sie ein neues Ruderhaus. Schön, dass sie noch immer fährt.
Dieses Ding, eine Seemine aus dem zweiten Weltkrieg, steht dort im Beet am Hafenbecken 1 schon mindestens so lange wie ich nach Büsum fahre, also ziemlich lange. Immerhin erfüllt sie mittlerweile eine friedliche Funktion als Liebesschlosshalter.
Abend wird es wieder

Dienstag: Etwa eine Stunde vor dem Wecker wachte ich auf und schlief nicht mehr ein. Ob das wieder diese seltsame Unruhe vor Reisen war oder andere Gründe hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls stand ich um kurz nach sieben gut gelaunt und ausgeschlafen auf. Nach dem Frühstück und Zeitungslektüre begab ich mich gemütlich zum Hafen, wo um halb zehn die Funny Girl nach Helgoland ablegte. Da der Wind kühl blies, verzogen sich die meisten Fahrgäste ins Innere, ich hingegen blieb mit wenigen anderen, unter anderem einem augenscheinlich extremverliebten jungen Paar*, das vermutlich schon aufgrund innerer Wallungen keine Kälte spürte, auf dem Außendeck und genoss die Fahrt. Erst als das Büsumer Hochhaus hinter der Erdkrümmung verschwunden war, immerhin anderthalb Stunden nach dem Ablegen, wärmte auch ich mich im Unterdeck etwas auf. Dort las ich im SPIEGEL den Titelartikel über das Erstarken der Christextremisten in Amerika mit Unterstützung ihres (nicht ganz so christlichen) Präsidenten und gruselte mich angemessen. Wenn sich das, wie so vieles aus Amerika, auch bei uns irgendwann ausbreitet, dann gute Nacht.

*Ich weigere mich, hierfür das Wort „Pärchen“ zu benutzen. Ein Paar besteht aus genau zwei Personen, nicht eine mehr oder weniger. Was soll ein Pärchen sein? Eineinhalb, eindreiviertel?

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichten wir Helgoland. Das letzte Mal war ich dort vor über vierzig Jahren. Damals mussten die Schiffe noch vor dem Hafen festmachen, die Fahrgäste wurden ausgebootet. Dazu mussten sie umsteigen in kleine schaukelnde Motorboote, die sie an Land brachten und zur Rückfahrt wieder zurück zum Schiff. Das ging so bis zur Corona-Zeit, wie ich heute erfuhr. Dann konnten in den Booten die Abstandsregeln nicht eingehalten werden, plötzlich konnten die Schiffe am Kai anlegen und ganz normal über eine Gangway verlassen werden. Die Bootsbetreiber mussten sich was anderes einfallen lassen, um die Touristen auszubooten.

Ohne besonderen Plan ließ ich mich treiben, spazierte durch die untere und obere Siedlung sowie über den Klippenweg, was man als Helgoland-Tagestourist so macht, das war sehr angenehm. Der kühle Wind ließ nach, zwischendurch zeigte sich die Sonne und es wurde warm. Die Insel erscheint wie in eine andere Welt, allein schon durch die fast völlige Abwesenheit von Bäumen. Ob ich dort länger als einen Tag verweilen wollte, weiß ich nicht, ganz ausschließen möchte ich es nicht; auf einen Versuch käme es an.

Nach zwei Stunden Treibenlassens verspürte ich jähen Heißhunger auf ein Fischbrötchen, die dort an mehreren Verkaufsstellen angeboten werden. Nachdem das Brötchen verzehrt war, blieb noch eine gute Stunde Zeit bis zur Rückfahrt. Diese verbrachte ich überwiegend untätig sitzend, während am Horizont große Frachtschiffe unseren Konsum und Wohlstand durch die Gegend fuhren, was überhaupt nicht langweilig war. Das nennt man wohl inzwischen Rawdogging, wie ich neulich las; ich beherrsche es gut.

Auch die Rückfahrt verbrachte ich zunächst auf dem Außendeck und sah Helgoland beim Kleinerwerden zu. Nach einer Stunde ging ich rein und wärmte mich äußerlich wie innerlich, letzteres mit einem Pharisäer, eine friesische Spezialität aus Kaffee, Sahne und einem kleinen Schuss. (Jägermeister und andere Spirituosen laufen in der Bord-Karte übrigens unter „Miniaturen“.) Am frühen Abend erreichten wir wieder Büsum, wo ich sogleich ein Restaurant am Hafen aufsuchte. Wieder ein richtig schöner Tag.

Morgens in Büsum
Büsum, Seesicht
Auf hoher See mit Bohrinsel im Hintergrund
Fußgängerzone im unteren Ortsteil von Helgoland
Blick vom oberen Ortsteil mit Düne im Hintergrund
Klippenblick
Die berühmte Lange Anna, gleichsam die Mona Lisa von Helgoland
Noch mehr Klippen
Unterland
Architektur im Oberland
Das Interesse der Fotografen galt einem kleinen Vogel, nicht viel größer als ein Sperling, der auf einer Wiese herumhüpfte. Es liegt mir fern, darüber zu spotten; oft genug war ich selbst Teil einer solchen Gruppe. Nur dass wir nicht einen Vogel fotografierten, sondern eine Lokomotive.
Tschüss, Helgoland!
Büsum backbord

Mittwoch: Auch heute war ich schon gegen sieben Uhr hellwach, obwohl keine Reise oder sonstige Termine anstanden. Vielleicht ist das diese präsenile Bettflucht, das Alter hätte ich langsam. Nach einem wieder ausführlichen Frühstück wanderte ich, und zwar zunächst durch den Hafen, dann über die mehr oder weniger zugewachsenen Gleise der Hafenbahn bis zum alten Deich. Diesen erklomm ich, dann weiter über Deichhausen bis zum Vogelschutzgebiet Wöhrdener Loch. Dort verließ ich die (von Schafen vollgekackte) Deichkrone, kratzte mit einem Stöckchen die Schafsch… aus den Schuhsohlen und ging hinter dem Deich zurück bis Warwerort, dann durch die Felder zurück nach Büsum.

Eines der Dinge, die ich mir für diesen Urlaub vorgenommen hatte, war eine Wattwanderung, oder wenigstens ein Wattspaziergang, wie es sich gehört barfuß. Das erledigte ich direkt im Anschluss. Die Flut hatte schon wieder begonnen, doch es stand noch genug frei begehbare Fläche zur Verfügung. So ging ich bis zur Wasserlinie und war überrascht, wie warm die Nordsee noch ist. Nachdem ich wieder an Land war und die Füße an einer der Fußbrausen gereinigt hatte – vorsorglich hatte ich morgens ein Handtuch eingepackt – ging ich in die Stadt und kaufte Postkarten, die ich umgehend bei einem Nachmittagsgetränk in einer Gaststätte beschriftete und noch am Abend in den Briefkasten einwarf. Dass ich voraussichtlich früher in Bonn zurück bin als die Karten bei den Empfängern nehme ich in Kauf, sie freuen sich hoffentlich trotzdem darüber.

Abendessen beim Griechen. Am Nebentisch ein Paar, sie redete ununterbrochen. Vielleicht erwägt er auch, demnächst mal alleine Urlaub zu machen. Eine Anmerkung zum Alleinreisen: Mehrere, denen ich vor dem Urlaub davon erzählte, fragen: „Alleine? S. (der Liebste) kommt nicht mit?“ – Warum denn nicht allein? In einer Partnerschaft zu lebten bedeutet nicht, alles gemeinsam tun zu müssen. Zumindest für uns gehört es dazu, dem anderen seine Freizeiten und -heiten zu erlauben. Und ich weiß von mindestens drei Frauen – interessanterweise alles Frauen – die regelmäßig ohne den Gatten verreisen und ohne, meines Wissens jedenfalls, dass eine Beziehungskrise vorliegt. Letztlich gibt es auch hier, wie in so vielen Dingen, kein Richtig oder Falsch. Die einen können keine zwei Stunden ohne Partner sein, die anderen genießen vorübergehende Alleinzeit sehr.

Kutter im Hafenbecken 2
Ein bisschen kitschig ist es ja, aber es ergab sich gerade.
Womit bewiesen ist: Der Krabbencocktail kommt aus Büsum
Hafenbahn
Büsumer Deichhausen
Ebbe in der Meldorfer Bucht
Hinten Büsum
Wöhrdener Loch mit Dithmarscher Wasserbüffeln
Ferienhäuser in Warwerort
Ein Dithmarscher Hof bei Warwerort
Noch mehr Kohl
Im Watt. Ich bleibe dabei – das Ding steht schief
Mein Zimmer (Pfeil)
Gute Nacht

Donnerstag: Am letzten Urlaubstag (morgen zählt nicht, dann ist Abreise) schlief ich länger. Als möglicher Programmpunkt stand noch eine Bahnfahrt nach Neumünster auf der Liste. Die Nebenbahn von Heide nach Neumünster bereiste ich in den Achtzigern mehrfach, weil dort noch die alten roten Schienenbusse fuhren, jede Station war mit Bahnpersonal besetzt, dazu die damals schon historische, mechanische Stellwerks- und Sicherungstechnik, somit toll für Eisenbahnfreunde wie mich, ansonsten ohne Zukunft. Ein sicheres Zeichen für die baldige Stilllegung. Doch es kam anders: Die Strecke wurde umfassend modernisiert, heute fahren, batterieelektrisch, mehr Züge als je zuvor. Hier wollte ich gerne nochmal fahren.

Stattdessen entschied ich mich für einen planlosen Schreib- und Drömmeltag mit lange im Bett bleiben und ausgiebigem Frühstück. („Ausgiebig“ ist auch so ein seltsames Wort. Man gibt ja nichts aus, im Gegenteil, man nimmt ein. Egal.) Nach dem Frühstück ging ich gemütlich auf dem Deich bis zur Hafenmole, dann am Strand entlang in die andere Richtung bis zur Perlebucht, ein künstlich angelegter Sandstrand unterhalb des Hochhauses. Überhaupt ging ich wieder sehr viel in den zurückliegenden Tagen. Auf der Liste der Fertigkeiten, deren Ausfall meine Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen würde, steht Gehen sehr weit oben, gleich nach Sehen.

Dort, in der Perlebucht, wollte ich mir eine freie Bank suchen und was schreiben. Die fand ich auch, allerdings blies mich heftiger Wind von der Seite an. Daher versuchte ich, einen Strandkorb zu mieten, ein paar standen da noch. Elf Euro Tagesmiete fand ich nicht zu viel, selbst wenn ich ihn nur drei Stunden genutzt hätte. Doch leider waren sie nicht mehr zu mieten, da sie heute abgeholt würden, wurde mir beschieden. Ich fand dann doch noch ein angenehmes Pläzchen zum Schreiben, erst auf einer Bank, dann in einer Außengastronomie, wo noch ein Tisch frei war. Während ich saß und schrieb, griffen mehrere Möwen den Nebentisch an, wo gerade Pommes gegessen wurden, mit Geschrei von beiden Seiten.

Nachdem ich genug geschrieben hatte, unter anderem dieses, trat ich den Rückweg an, und zwar, weil es gestern so schön gewesen war, nochmals barfuß durch das Watt. Beim Queren eines Priels und Durchschreiten der Wasserlinie wunderte ich mich erneut, wie warm mir das Wasser vorkam.

Zum Abendessen bestellte ich Fisch, wieder versuchte ich mir wider besseren Wissens einzureden, frisch aus der Region. Es schmeckte jedenfalls passabel, somit scheint es funktioniert zu haben. Danach mit Wehmut eine letzte Runde durch den Ort, schließlich im Hotel den Koffer gepackt.

Büsum ist auch zu dieser Jahreszeit gut besucht. Der Altersschnitt ist gehoben, die Dichte an Rollatoren und Klapp-Telefonhüllen recht hoch. Ab einem gewissen Alter tragen einige Herren eine Mütze, die aussieht wie eine Baseballkappe, nur flacher und ohne Schirm, scheint was Regionaltypisches zu sein wie früher das Finkenwerder Fischerhemd, das ich zum Erstaunen in keinem Laden mehr gesehen habe. Vielleicht hätte ich mir nochmal eins gekauft.

Auch die Mitbloggerin Kaltmamsell ist weiterhin auf Reisen. Dabei notiert sie kluge Gedanken:

FOMO (fear of missing out, also Angst, etwas zu verpassen) kenne ich ja nicht. Meine Motivation ist oft fear of regret, also Angst, dass ich mich später darüber ärgere, etwas nicht gemacht zu haben. Oder überhaupt die Befürchtung, mich rückblickend zu ärgern. Das führt zum Beispiel zu sorgfältiger Planung von fast allem, denn ich möchte mich nicht ärgern, weil ich etwas vergessen oder übersehen habe.

So frage ich mich auch nie, was ich eigentlich gerade will (woher soll ich das wissen?!). Statt dessen versuche ich mir vorzustellen, die Erinnerung woran, die Rückschau worüber mir Freude bereiten wird. Ich behaupte mal, dass ich damit vielleicht nicht die Mehrheit, aber sicher nicht allein bin.

Nein, ist sie nicht.

Hier ist an alles gedacht
Perlebucht I
Perlebucht II
Noch etwas Kitsch
Watt mutt dat mutt

Freitag: Am Abreisetag wachte ich eine Stunde vor dem Wecker auf, den ich mit reichlich Zeitpuffer eingestellt hatte, ich kann da nicht aus meiner Haut. Ich schlummerte dann doch nochmal ein. Im Vergleich zu den Vortagen war der Frühstücksappetit gering, was auch an der frühen Stunde gelegen haben mag. Nach einem letzten Blick vom Balkon über den Deich bezahlte ich das Zimmer und ging langsam zum Bahnhof, von leichtem Abschiedsschmerz begleitet. So hat ein jeder sein Köfferchen zu rollen.

Aufgrund des Zeitpuffers verließ ich Büsum eine Stunde früher als notwendig. Das war nicht schlimm, in Heide fand ich auf dem Bahnsteig ein sonniges, windgeschütztes Plätzchen, wo ich die Zeit mit Blogs Lesen verbrachte. Neben mich setzte sich eine Dame mit Koffer, Rucksack und großer Tasche und begann umgehend, intensiv darin zu kramen. Mich machen solche Leute immer wahnsinnig.

Der Intercity fuhr pünktlich in Heide ab und kam mit gerade mal fünf Minuten Verspätung in Köln an, da gab es nichts zu klagen. Durch den Wagen ging ein kleiner Junge und sagte „Blablablablabla …“. Wenn er mal groß ist und vielleicht in einem großen Unternehmen arbeitet, wird er andere Worte gebrauchen, um sinngemäß das gleiche zu sagen.

Bei Ankunft in Bonn wehte kühler Wind, der Himmel war trüb und ein paar Regentropfen fielen. Für die Küste wird morgen Sturm erwartet. Eine Fahrt nach Helgoland dürfte interessant werden.

Nach fünf Tagen Alleinzeit ist es wieder schön, daheim bei den Lieben zu sein. Abends gingen wir ins Wirtshaus, wo ich, um die norddeutsche Woche abzurunden, Fisch und Jever-Pils bestellte. Dithmarscher Dunkel gibt es hier leider nicht.

Einfahrt des IC nach Köln in Heide. Auch nach über 50 Jahren ist die gute alte 218 noch unentbehrlich.

Samstag: Der Tag begann mit heftigem Regen. Ein Trost, wenn auch nur ein äußerst schwacher: In Büsum regnete es auch. Nachmittags lockte mich die Sonne zu einem Spaziergang an den Rhein. Ein Tag ohne Gehen ist wie ein … ohne … – ach denken Sie sich einfach irgendwas aus.

Mindestens eine der am Mittwochabend eingeworfenen Postkarten kam heute an, wie mir dankend mitgeteilt wurde. Da behaupte niemand, die Post sei langsam.

Laut Zeitungsbericht traf sich kürzlich in Bonn auf einer Wiese eine größere Gruppe junger Leute, um Pudding zu essen, und zwar mit einer Gabel. Warum tun die das, vor allem: Warum berichtet die Zeitung darüber?

Der Rhein

Sonntag: Tief Detlev bläst seit gestern durch das Land, für die Küste besteht Sturmflutwarnung. Auch in Büsum ist die Nordsee deutlich aufgewühlt, wie über die örtliche Webcam zu beobachten ist. Einerseits freue ich mich über das Glück, das ich dort mit dem Wetter hatte, andererseits wäre ich gerne noch dort, es ist bestimmt beeindruckend, das Tosen aus der Nähe zu erleben.

Ansonsten verbrachte ich wesentliche Teile des Tages auf dem Sofa, unterbrochen durch den üblichen und notwendigen Spaziergang am Nachmittag. Hier und da ist noch Außengastronomie geöffnet, doch vermochte sie mich nicht zum Verweilen zu locken.

***

Danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben. Für die nächsten Rückblicke ist wieder die gewohnte Kürze angestrebt. Kommen Sie gut durch die Woche.

17:00

Woche 41/2024: Kiloweise Trüffel, nicht geleerte Teller und Abschied

(Der letzte Blogeintrag vergangener Woche war der eintausendste, wie ich erst jetzt bemerkt habe. Somit ist dies der tausenderste.)

Montag: Die Woche begann bewölkt mit ein wenig Regen, dafür ungewöhnlich warm. Also nicht T-Shirt-kurze-Hosen-warm, jedenfalls nicht für mich, immerhin ließ es sich mit Pullover im Liegestuhl ganz gut aushalten. Wobei ich dazu kaum kam, nachmittags unternahmen wir eine Ausfahrt in die Umgebung: In Saint-Maurice-sur-Eygues erstanden wir in der Bisquiterie eine größere Menge regionaltypischen Gebäcks. In Vinsobres besuchten wir das befreundete Weingut, wo man gerade gut mit der Lese beschäftigt ist. Wie überall ist die Erntemenge in diesem Jahr wegen des Wetters gering, dafür wird eine hohe Qualität erwartet. Auf einen größeren (W)Einkauf verzichteten wir, irgendwann muss das ganze Zeug in unserem Keller ja mal getrunken werden. In Nyons besorgten wir im Brauerei-Werksverkauf lokales Bier und Limonade, außerdem in der Coopérative zwei Eimer Oliven für das befreundete Restaurant in Bonn.

Für das Abendessen (wegen ungünstiger Wetterprognose zu Hause) kauften wir bei Puyméras weißen Trüffel, dessen Preis, wie bei Trüffeln üblich, mit einem vierstelligen Betrag je Kilogramm ausgewiesen war. Wer kauft kiloweise Trüffel? Warum keine Preisangabe je Tonne? Für alles weitere, wie Nudeln und Knoblauch, suchten wir den Super-U in Vaison-la-Romaine auf. Gelernt, als ich einfach einen Beutel Bandnudeln aus dem Regal nehmen wollte: Man muss sich an das Produkt herantasten.

Bewölkung, morgens
Krokusse im Oktober? Nein, Herbst-Goldbecher, sagt die künstliche Intelligenz. Und eine Schnecke.
Besuch zum Aperitif am Abend (Foto: Stefan K.)
0,000018 Tonnen Weißer Trüffel; nach meinem Geschmack überbewertet, was am erkältungsbedingt immer noch eingeschränkten Geschmacksempfinden liegen mag

Dienstag: Der Regen, der seit der Nacht bis zum Mittag teils heftig fiel, verwandelte den Hof vor dem Haus in einen kleinen See. Immerhin, die von Wetter Online für heute Vormittag in tiefstem Violett angekündigte Gewitterzelle, in deren Zentrum Malaucène liegen sollte, blieb aus. Daher begab ich mich nach dem Frühstück zunächst lesend in den Liegestuhl auf der Terrasse, um mich herum zahlreiche kleine Schnecken, denen es wohl draußen zu naß war. Dabei stelle ich es mir recht heimelig vor, sich bei Regen einfach ins Spiralhäuschen zurückzuziehen und abzuwarten, bis es vorbei ist. Nach dem ersten Knacks unter der Schuhsohle bemühte ich mich, keine weiteren zu zertreten.

Land unter am Morgen
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Nachmittags schien wieder die Sonne, wir unternahmen eine kleine Wanderung durch die nähere nördliche Umgebung, die im Ort mit zwei Bierchen endete.

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Massenhaft Kakteen, als wäre es das natürlichste von der Welt, dass hier massenhaft Kakteen wachsen
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Herzliche Grüße an den Kiezschreiber, auch wenn die Schreibweise etwas abweicht.

Abends versuchten wir es mal wieder mit einem Dreigängemenü im Restaurant. Es ging einiges zurück, was will man machen. Satt ist satt.

Mittwoch: Trotz am Vorabend nicht geleerter Teller erfreuten heute blauer Himmel und warme Luft Auge und Seele, nur der Wind blies unangemessen heftig. Selbst einer Frostbeule wie mir war es problemlos möglich, große Teile des Tages ohne Jacke und Pullover zu verbringen. Nach dem Frühstück (wegen des Windes weiterhin drinnen) besuchten wir den Wochenmarkt von Malaucène, um Gegrilltes und diverse Sättigungsbeilagen für das Abendessen einzukaufen. Der Markt war wesentlich kleiner als im Sommer, die Durchgangsstraße nicht gesperrt. Als wir um kurz nach zwölf ankamen, wurden einige Stände schon abgebaut, obwohl offiziell bis dreizehn Uhr geöffnet.

Bereits gestern Abend hatten wir für mich ein (elektrisch unterstütztes) Leihfahrrad geholt. Der Liebste hat seins schon seit Samstag für seine Alleinzeit jeden Morgen mit Kaffee in der Bar und Baguettekauf, derweil ich zu Hause das Frühstück vorbereite. Nach Rückkehr vom Markt machten wir damit heute eine Tour, wie wir sie ähnlich schon im Sommer letzten Jahres gemacht hatten: über den Berg (nicht den Mont Ventoux, im Leben fiele mir, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht ein, den mit einem Fahrrad zu bereisen, auch nicht elektrisch unterstützt) bis Mollans-sur-Ouvèze, zurück über Entrechaux, teilweise auf der ehemaligen Schmalspurbahn-Trasse. Immer wieder von heftigen Windböen umtost, die uns mehrfach vom Sattel zu pusten versuchten.

Nach Rückkehr zogen wir uns bald ins Haus zurück, als die Sonne hinter Wolken verschwand und der Wind kühl unter das Terrassendach blies. Später kam Regen dazu und wir waren froh, zum Abendessen nicht mehr raus zu müssen.

Bei Malaucène, mit herzlichen Grüßen an das Fachblog für Bewölkung
Blick über den Berg auf den nächsten und Wolken
Mollans

Eine schlechte Nachricht erreichte uns aus Bonn, einen sehr lieben Menschen betreffend, dem wir es unter anderem zumindest indirekt verdanken, dass wir so oft und gerne hier in Malaucène sind.

Donnerstag: Vorletzter Urlaubstag, wie immer vergeht so eine Woche viel zu schnell. Während der Liebste ein paar letzte Einkäufe in Vaison erledigte, machte ich einen Spaziergang, der ungeplant zu einer Wanderung wurde, weil ein von Google Maps behaupteter Weg nicht existiert. Zum Glück hatte ich vorsorglich Wanderschuhe angezogen. So zog sich der Weg stetig ansteigend mit schönen Aussichten in die fernere Umgebung, bis der Bergkamm erreicht war und es auf der andere Seite über steinige Pfade wieder herunter ging bis Beaumont-du-Ventoux. Von da an flanierte es sich recht entspannt weiter durch Obstplantagen und Weinfelder, wie ursprünglich beabsichtigt. Zu meiner Freude begegnete mir niemand. Man möge mir verzeihen, dass mich das freut, doch manchmal, wirklich nur manchmal, betrachte ich die Abwesenheit von (anderen) Menschen als Geschenk. Was mir auch nicht begegnete, daran dachte ich erst in des Waldes Einsamkeit, waren Wildschweine, deren es hier dem Vernehmen nach reichlich gibt; in den letzten Tagen waren immer wieder Gewehrschüsse aus den umliegenden Wäldern zu hören, die Jagd ist eröffnet. Auch hielt mich glücklicherweise kein Chasseur im Pastisnebel für ein solches.

Nach ziemlich genau zwei Stunden kam ich wieder am Haus an, wo ich mich mit einem kleinen Imbiss belohnte. Kurz darauf traf auch der Liebste wieder ein und wir genossen noch etwas Liegestuhlzeit auf der Terrasse bei Sonnenschein und nur noch leichtem Wind.

Aufstieg
Aussicht
Abstieg
Reptil mitten auf dem Weg
Für Frau Lotelta
Blick auf Vaison-la-Romaine
Moos
Obst
Imbiss nach Rückkehr

Obwohl noch letzte Ausläufer der Erkältung spürbar sind, scheint der Appetit wieder hergestellt. Abends im Restaurant gelang es, das Dreigängemenü rückstandsfrei und mit Genuss zu verzehren.

Freitag: Letzter Urlaubstag. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, die Luft war zunächst kühl, im Laufe des Tages wärmte sie sich auf, ich war genötigt, den Pullover gegen ein Polohemd zu tauschen. Nachmittags begannen wir, die ersten Sachen ins Auto zu packen, ansonsten verbrachten wir die meiste Zeit auf der Terrasse, wo diese Zeilen sowie der Entwurf eines neuen Blog-Aufsatzes entstanden. Außerdem las ich den Stanišić fertig. Es bleibt dabei, das Buch kommt demnächst in den öffentlichen Bücherschrank, wenn es niemand haben möchte.

Was ich mir für den Urlaub vorgenommen hatte, jedoch nicht getan habe: an meinem Romandings weiter zu schreiben. Im Moment hänge ich etwas in der Geschichte, auch fehlen Antrieb und Inspiration. Das ist nicht schlimm, es hat keine Eile. Zudem ist, wie der SPIEGEL gestern meldete, der Literatur-Nobelpreis für dieses Jahr ohnehin bereits vergeben. (Die Meldung erreichte mich während des Aufstiegs auf den Berg. Deswegen stört ihr mich?, dachte ich. Meldet euch erst wieder, wenn der Preis an mich geht. Was man so denkt in Momenten größerer Anstrengung.)

Die Müllentsorgung verband ich mit einem Spaziergang durch die environs. Man hat hier übrigens keine verschiedenfarbigen Hausmülltonnen, die regelmäßig durch die Müllabfuhr geleert werden. Stattdessen stehen an vielen Stellen öffentliche Müllcontainer, in die man die Abfälle einwirft, immerhin seit einigen Jahren auch hier getrennt nach Verpackung, Papier, Glas und Restmüll.

Gegend und unser Haus (Pfeil)

Die übliche Urlaubsende-Melancholie und das Bedauern über die morgige Abreise hielten sich in Grenzen. Nicht, dass ich mich wieder auf die Werktätigkeit ab Montag gefreut hätte, doch löste der Gedanke daran auch kein Unbehagen aus. Vielleicht liegt das etwas an meinem neuen Arbeitszeitmodell, der nächste freie Donnerstag steht schon im Kalender.

Zum Abendessen gingen wir runter in die Pizzeria, die erst seit gestern wieder geöffnet hat. Dort war es sehr laut durch eine sechsköpfige Herrenrunde am Nachbartisch, später kam noch eine vierköpfige, nicht viel leisere am Nebentisch hinzu. Hatten wohl alle Ausgang. Der Genuss von Pizza und Rosé wurde dadurch nicht wesentlich gemindert.

Malaucène-Zentrum, nach der Pizza

Samstag: Abreisetag. Morgens um sieben schlug der Wecker an, eine halbe Stunde später standen wir auf; noch hatten wir Urlaub, da kann der Wecker allenfalls unverbindliche Vorschläge machen. Eine gute Stunde später war alles Restliche zusammengeräumt, der Kühlschrank geleert, ohne Frühstück verließen wir das Haus. Bevor es in Richtung Autobahn ging, fuhren wir zu einem Obstbauern ein Tal weiter, um eine Kiste frisch geernteter Muscat-Trauben für das befreundete Restaurant in Bonn abzuholen.

Bei Abfahrt stellte Frau Navi eine Ankunft nach bereits neuneinhalb Stunden in Aussicht. Gedanklich schlug ich aus Erfahrung eine halbe bis ganze Stunde drauf für Pausen und Staus. Lyon durchfuhren wir dann ohne die übliche Umleitung auf eine Ausweichstrecke und ohne auch nur einmal staubedingt anhalten zu müssen, das ist sehr selten. So kamen wir wirklich fast zur angezeigten Zeit zu Hause an, vom Geliebten wiedersehensfreudig und mit Cremant begrüßt.

Sonntag: Der Tod ist unabwendbarer Teil des Lebens* – das sagt sich so leicht. Wenn er dann in der näheren Umgebung zuschlägt und einen lieben Menschen holt, trifft es einen doch. Was sich am Mittwoch ankündigte, wurde heute Morgen zur Gewissheit. Lieber K, wir werden dich sehr vermissen.

*Auch wenn irgendwelche Spinner glauben, die natürliche Alterung des Körpers ließe sich aufhalten und umkehren, somit wäre ewiges Leben möglich. Welch furchtbare Vorstellung.

Für uns geht das Leben vorerst weiter. Heute mit einem herbstlichen Spaziergang durch die Südstadt und an den Rhein. Hier ist deutlich mehr Herbst als in Südfrankreich. Die Außengastronomien sind noch nicht überall eingeräumt, dort, wo noch Tische und Stühle vor den Lokalen stehen, sitzt niemand mehr. Der Rhein fließt bräunlich dahin, er scheint anzusteigen.

Südstadt
Rheinufer

„Das Mittel gegen den rauen Ton“ wird eine Halspastille an einer Litfaßsäule beworben. Davon sollten einige Politiker, und nicht nur die, ganz viel nehmen.

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Kommen Sie gut durch die Woche. Wenn auch Sie Urlaub hatten, einen guten Start in den Alltag. Sonst auch.

Woche 28/2022: Zwischen den Wellen

Montag: Manchmal muss man aus Routinen ausbrechen. Entgegen der Gewohnheit ging ich bereits heute zu Fuß ins Werk, in der Hoffnung, ein längerer Gang durch die Morgenfrische würde des Montags Müdigkeit mildern. Was den gewünschten Effekt betrifft: ging so.

Vergangene Woche beschrieb ich im Zusammenhang mit einem Friseurbesuch mein Unbehagen, das allzu Offensichtliche auszusprechen. Heute erschien beim Öffnen eines neuen Internet-Tabs das vermutlich von Microsoft so eingerichtete Bild eines Eisberges, dazu dieser Hinweis:

Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.

Auf dem Rückweg ging ich hinter dem Mutterhaus an einem vorbei, der Tenorhorn übte, weithin gut hörbar, beziehungsweise nicht gut; er mühte sich immer wieder mit einer kurzen Tonfolge ab, die nicht recht gelingen wollte, auch nicht bei der werweißwievielten Wiederholung. Ob es Teil eines Liedes war oder eine Etüde, war nicht zu erkennen. Ebenfalls nicht, warum er ausgerechnet dort übte statt im Schallschutz des heimischen Kellers. Vielleicht haben die Nachbarn auf Unterlassung geklagt oder der Vermieter mit Beendigung des Mietverhältnisses gedroht, wundern würde es nicht. Er muss noch viel üben. Oder besser Briefmarken sammeln.

Das Wetter zeigte sich tagsüber trübe, erst am Abend heiterte es auf und bildete auf diese Weise meine persönliche Stimmung ziemlich genau ab.

Dienstag: Gegen 14 Uhr ist die Arbeitsunlust am größten. Dann rief auch noch ein ehemaliger Kollege an und schwärmte vom Ruhestand. Als er fragte, wie lange ich noch zu arbeiten habe, kamen mir die Tränen und die Lippen begannen zu zittern.

In einem Artikel der PSYCHOLOGIE HEUTE über Alter und Eintritt ins Rentenalter las ich von „Firmenpatriarchen und -patriarchinnen.“ Patriarchinnen? Ein weiteres Mosaiksteinchen im Bild einer Welt, die immer weniger meine ist.

Oder dieses: Die Zeitung berichtet über einen vierzigjährigen Wanderer, der vom Rhein-Sieg-Kreis einen Bußgeldbescheid über mehr als zehntausend Euro erhalten hat. Grund: Bei seinen Wanderungen verstieß er immer wieder gegen Naturschutzbestimmungen, indem er gesperrte Wege benutzte, in Schutzhütten übernachtete, im Wald Feuer entfachte und mutwillig einen Feuersalamander und eine Spinne beunruhigte. Über all das berichtete er umfassend auf Youtube, was der behördlichen Beweisführung sehr entgegenkam. Bei Reue hätte man ihm einen Nachlass gewährt, indes: „Ich bin es leid, mich zu verbiegen und die geforderte Einsicht und Reue zu zeigen“, so der vom rechten Wege Abgekommene. Weiter: „Es kann aber auch nicht sein, dass man erst Verordnungen lesen muss, bevor man einen Wald betritt.“ Ich finde es einmal mehr unerträglich, wie Medien Menschen, die sich nicht an Regeln halten wollen und deswegen zur Rechenschaft gezogen werden, Gelegenheit geben, sich als Opfer darzustellen.

Mittwoch: Wie der heutigen Wikipedia-Startseite zu entnehmen ist, starb vergangenen Sonntag im Alter von 69 Jahren ein „kanadischer Rockeranführer und Verbrecher“. Bemerkenswert, mit welchem Lebenswandel man es auf die Wikipedia-Startseite schafft. Doch wer weiß, vielleicht steht dort dereinst, wenn für mich die Zeit gekommen ist: „Carsten K., erfolgloser und weitgehend unbeachteter Kleinblogger“.

»Ich könnte heulen vor Wut!«, so endet ein Kommentar in der Berliner Zeitung. Dabei ging es nicht um den russischen Angriff auf die Ukraine oder die beharrliche Weigerung der FDP, Vernunft anzunehmen, vielmehr wurde die Schließung zweier Postfilialen beklagt. Heul doch, möchte man da antworten.

Donnerstag: Zu Fuß ins Werk, wie jeden Donnerstag.

Morgendliche Rheinruhe
Wenn es doch so einfach wäre
Das Geheimnis meiner Schönheit
Um Gottes Willen

In der Zeitung ein weiterer Artikel über den Dienstag genannten Falschwanderer, dieses Mal etwas kritischer, vielleicht haben sie es selbst gemerkt. In diesem Zusammenhang ist das Wort „Outdoorer“ zu lesen, was vermutlich soviel wie Freiluftinfluencer bedeutet. Die Verwendung solcher Wörter sollte auch bußgeldbewehrt sein.

Ich habe mir übrigens einen lang gehegten Wunsch erfüllt, beziehungsweise seine Erfüllung in die Wege geleitet: Ende September werde ich eine viertägige Alleinzeit am Niedersonthofener See im Allgäu verbringen, wo unsere Familie bis in die Achtziger häufig Urlaub machte. Darauf freue ich mich sehr und bin gespannt, was sich dort seitdem verändert hat, und was nicht. In letztere Kategorie fällt hoffentlich der allgegenwärtige leichte Kuhdungduft, ohne den das Allgäu für mich undenkbar wäre.

Freitag: Dieses Layla-Lied, über das sich gerade empört wird, kenne ich nicht, und das zu ändern liegt nicht in meiner Absicht. Es interessiert mich einfach nicht. Im Übrigen verstehe ich die Aufregung nicht. Der Anteil der Liedtexte, die in fragwürdiger Weise körperliche Reize preisen, dürfte erheblich sein, ohne dass daran nennenswert Anstoß genommen wurde und wird.

Gelesen in der PSYCHOLOGIE HEUTE über Hochbegabte: »Das Erdulden von Geschwätz erzeugt bei ihnen immense innere Spannung.« Bin ich hochbegabt? Aber in was nur?

Samstag: Aus Gründen familiärer und freundschaftlicher Kontaktpflege reiste ich nach Bielefeld, man muss diese Zeit zwischen den Wellen nutzen. Bei der Gelegenheit komme ich nicht umhin, den Schienenpersonennahverkehr zu loben: Die Bahnen waren pünktlich und nicht überfüllt.

„Alles wird schlechter“, hörte ich hinter mir jemanden ins Telefon sprechen, der am Düsseldorfer Flughafen zugestiegen war und seine Gesprächspartnerin davon in Kenntnis setzte, dass sein Gepäck nicht mitgeflogen war und sich noch in München befand.

Das sah der Vater einer dreiköpfigen Familie vermutlich anders: Immer wieder zeigte er sich begeistert von dem modernen Zug, der Anzeige der Anschlüsse vor dem nächsten Halt auf dem Monitor und der (funktionieren) Klimaanlage. Vielleicht war er zum letzten Mal Zug gefahren, als die Bahn den Nahverkehr noch mit Silberlingen abwickelte.

Flickwerk in Duisburg

In Essen ist an einem Gebäude der Stadtwerke der Schriftzug »Wohlfühlwärme von STEAG« zu lesen. Hoffentlich noch recht lange, möchte man eingedenk der aktuellen Entwicklung hinzufügen.

Kurz vor Rheda-Wiedenbrück mahnte der Triebfahrzeugführer per Lautsprecherdurchsage einen Fahrgast, der offenbar Freude daran hatte, immer wieder den Knopf für die Anforderung einer Rollstuhlrampe zu betätigen: „Dieser Zug ist ein Beförderungsmittel und kein Abenteuerspielplatz.“ Ein Satz aus Kindertagen: Oft, wenn wir uns irgendwo aufhielten, wo es einem Erwachsenen nicht genehm war, auf einer Baustelle oder so, wurde uns beschieden „Hier ist kein Spielplatz.“ Lange nicht gehört.

Vor Gütersloh sagte mein Sitznachbar ins Telefon: „Die Aufgabenstruktur soll ziemlich geil sein.“ Ein ebenso bemerkens- wie notierenswerter Satz.

Sonntag: Am Vormittag besuchte ich kurz die Dampfkleinbahn, die nach zweijähriger Zwangspause wieder fährt.

Lok 7 „Gustav“, Baujahr 1949, baustellenbedingt (auch bei der Kleinbahn wird gebaut) auf der sonst planmäßig nicht mehr befahrenen Oststrecke zwischen Mühlenstroth-Postdamm und Mühlenstroth-Forst

Danach trat ich ab Gütersloh die Heimreise nach Bonn an mit einer Bahn, die wesentlich stärker ausgelastet war als die Dampfkleinbahn. „Es zwingt Sie niemand, sich für neun Euro in überfüllte Züge zu quetschen“, sagte ein offenbar genervter Triebfahrzeugführer per Lautsprecher, nachdem er Fahrgäste aus der ersten Klasse verscheucht hatte. Er schien noch nicht völlig überzeugt von dem aktuellen Angebot der Bundesregierung.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst in Wohlfühlwärme statt allzu großer Hitze.

Woche 21/2022: In Erwartung einer Aufheiterung

Montag: Der Arbeitstag geriet sehr lang, da wegen der Dienstreisen vergangener Woche und konsequenter Arbeitsverweigerung am Wochenende einige Rückstände aufzuarbeiten waren. Die Aussicht auf eine dank Feier- und Brückentag kurze Arbeitswoche ließ ihn dennoch in erträglichem Licht scheinen.

Nach der trotz weißem Hemd unfallfrei verzehrten Currywurst am Mittag spazierte ich eine Runde durch den Rheinauenpark, wo die Teiche zurzeit grundsaniert werden. Dazu wurde das Wasser weitgehend abgelassen, damit Radlader Schlamm, Schotter und Sand verteilen können. Einer sauste durch knöcheltiefes Wasser, eine schwarze Bugwelle aus übelriechender Miege vor sich her schiebend; der Fahrer schien dennoch Spaß bei der Arbeit zu haben. Davon unbeeindruckt zeigten sich mehrere Graureiher, die durch die Restpfützen stakten und nach Beute pickten.

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Der Feierabend kam auch deshalb so spät, weil zur sonst üblichen Zeit starker Regen und Gewitterandrohung die Rückfahrt mit dem Fahrrad nicht ratsam erscheinen ließen. Vielleicht bin ich einfach zu empfindlich.

Dienstag: Bereits um kurz nach halb fünf wachte ich auf; statt entzückender Träume stellten sich Gedanken um Werksgedöns ein, was zum Glück nicht oft vorkommt, da ich Arbeit und Privat sonst sehr gut trennen kann, und Bettzeiten fallen überwiegend in die zweite Kategorie. Da die Frühgedanken wohl als Arbeitszeit zu werten sind, geriet nach dem Mittagessen (Graupeneintopf mit Bockwurst) der Spaziergang durch den Park, wo Radlader und Reiher noch immer wirkten, etwas ausgedehnter.

Mittwoch: Währen im persönlichen Umfeld auf zufriedenstellende Nachtruhe ein weitgehend ruhiger, ereignisloser Quasifreitag folgte, war in der Welt wieder einiges los: In den USA erschoss ein Achtzehnjähriger in einer Schule einundzwanzig Menschen, ehe er selbst erlegt werden konnte. Nun werden wieder, wie stets nach derartigen Ereignissen, Rufe nach schärferen Waffengesetzen laut. Doch damit ist es in Amerika so wie bei uns mit dem Tempolimit auf Autobahnen: Da kann man nichts machen, fragen Sie die FDP.

Donnerstag: Heute ist Himmelfahrt. Wobei sich das Auffahren in höhere Gefilde derzeit als schwierig erweist, da in den Flughäfen Personal für die Sicherheitskontrollen fehlt, wie gemeldet wird. Das überrascht, da private Unternehmen das bekanntlich viel besser können als der Staat. Fragen Sie die FDP.

Freitag: Kürzlich las oder hörte ich einen Satz, der ungefähr so lautete: „Allein bedeutet nicht nur einsam, sondern auch frei.“ Da ich dazu nichts notierte, kann ich weder den originalen Wortlaut wiedergeben noch die Quelle nennen, sehen Sie es mir nach. Inhaltlich jedenfalls ein wahrer Satz, ich bin gerne mal allein, nicht dauerhaft, nur für ein paar Stunden. Wobei eine der schönsten Alleinzeit-Formen für mich unbegleitetes Wandern ist. Aus verschiedenen Gründen kam ich dieses Jahr noch nicht dazu, deshalb nutzte ich den heutigen Brückentag für eine Wanderung von Bonn nach Siegburg, immer an der Sieg entlang.

Unerwartet regnete es morgens, wodurch sich der Beginn verzögerte. In Erwartung einer Aufheiterung startete ich bei Niesel, eine halbe Stunde später hörte es auf und die Sonne kam durch, kurz darauf setzte ich mit der Siegfähre über und wandelte durch liebliche Auenlandschaft.

Die Annahme, die Strecke führte nur über befestigte Wege, erwies sich als Irrtum, vielmehr stapfte ich längere Zeit auf schmalen Pfaden, von hohen Gräsern gesäumt, die sich regenschwer in den Weg legten. Bald waren die Hosenbeine durchnässt und die Wanderschuhe wurden geprüft, ob sie dicht sind. Ergebnis: Sind sie nicht. Oder doch, einmal eingedrungenes Wasser bleibt zuverlässig drinnen. Insofern hätte ich zuvor auf die Fähre verzichten und einfach durch die Sieg waten können, das Ergebnis wäre ungefähr das gleiche gewesen.

Dennoch war es schön; das letzte Drittel nicht ganz so, weil es in unmittelbarer Nähe zur Autobahn verläuft. Am Ende gabs auf dem Siegburger Marktplatz das Belohungsweißbier, das über die immer noch nassen Füße hinwegtröstete.

Man beachte die Dienstmütze
Da waren Hosen und Füße noch trocken.
Da schon nicht mehr.
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Die Brücke zum Brückentag
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Samstag: Unerwartet erreichte mich ein handgeschriebener Brief, über den ich mich sehr freute. Das schöne an Briefkommunikation alter Art ist, es wird nicht sofort oder innerhalb von Stunden eine Antwort erwartet, nicht einmal innerhalb einer Woche. Selbstverständlich werde ich bald antworten, weiß auch schon ungefähr, wann und bei welcher Gelegenheit.

Nach samstäglichen Erledigungen schaute ich bei der Vinothek des Vertrauens rein, wo Champagner gereicht wurde, um damit auf einen gebrochenen Fuß anzustoßen. Zum Glück nicht meiner.

»Der Mensch braucht sinnvolle Aufgaben. Geld auch.« So wirbt eine Bank in der Innenstadt. Leider schließt sich beides zumeist aus: Entweder hat man das eine, wie Altenpfleger, oder das andere, etwa Investmentbanker. Beides zusammen ist selten, das wird auch die Bank nicht auflösen können.

Sonntag: Während des Spaziergangs sah ich in der Nordstadt Werbung für eine Veranstaltung mit dem Namen „Lieblingslieder“, als Spezialgast wird Dieter Bohlen angekündigt. Auch das schließt sich gegenseitig aus.

„Schildkröte entlaufen“ hat jemand an mehrere Lampenpfähle in Bonn-Endenich aufgeklebt, mitsamt Telefonnummer. Das mag auf den ersten Blick erheitern, ist mir indes selbst schon passiert, als das Kind mit meinem Namen seiner Landschildkröte im Garten etwas Auslauf verschaffte. Normalerweise wohnte sie im Sommer in einem Holzverschlag auf dem Rasen im Garten, ab und zu durfte sie frei herumlaufen, selbstverständlich unter meiner strengen Aufsicht. An einem Sommertag holte ich die Dampfmaschine raus und heizte sie auf dem Rasen an, was ich mit einem Schildkrötenfreigang verband, was sich bald als liederlich* erwies: Während ich mich eine Minute der Maschine widmete, büxte das Tier aus. Die sofort eingeleitete Suche blieb erfolglos, so langsam sind Schildkröten gar nicht. Ich war sehr traurig, aber nur ein paar Tage lang, dann fanden Nachbarn sie bei sich im Beet und brachten sie zurück. Ich hatte meine erste Lektion in Multitasking-Fähigkeit erhalten, auch wenn das Wort vermutlich noch nicht gebräuchlich war.

* Liebe N., wie finden Sie dieses Wort?

Dem öffentlichen Bücherschrank an der Poppelsdorfer Allee entnahm ich zwei Bücher, beide von 1985: „Wir amüsieren uns zu Tode“ von Neil Postman und „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“ von Georg Heinzen und Uwe Koch, die auf den wachsenden Stapel der Ungelesenen kommen.

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Gut in dieser Woche waren: eine kurze Arbeitswoche, ein endlich veröffentlichter Text, ein erhaltener Brief.

Nicht so gut: nasse Füße

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Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Wochenstart, kommen Sie gut durch.

Woche 16/2022: Halbfinger, Warmduscher und Hintensitzer

Montag: Vergangenen Woche nahm ich Anstoß an zahlreichen Motorrädern, die den ganzen Tag an unserer Ferienwohnung vorbeidonnern. Immerhin beginnen sie damit erst nach neun Uhr, somit ist die Nachtruhe ungestört, man soll ja möglichst auch das Positive sehen. Dennoch frage ich mich nicht zum ersten Mal, warum die Dinger, also jedenfalls viele davon, so laut sein müssen und dürfen, zumal es ja auch durchaus moderat gestimmte Modelle gibt. Findet man als Motorradfahrer das Geknatter generell toll, oder nur das der eigenen Maschine?

Nachmittags machten wir einen Ausflug nach Vaison-la-Romaine, das noch erstaunlich touristenleer schien. Den Geliebten zog es in ein Geschäft, dass ausschließlich Geschirr vermeintlich provencalischer Machart anbietet, Sie kennen vielleicht diese grellfarbige Keramik, vermutlich aus chinesischer Produktion. Mit geradezu kindlicher Begeisterung nahm er einige Tassen in Augenschein, deren Erwerb nur mit Mühe zu verhindern war, zumal wir zu Hause Tassen in ausreichender Anzahl und etwas darüber hinaus im Schrank haben. Gleichsam ein Enfant im Porzellanladen.

Blühendes in Vaison-la-Romaine

Bei Frau Diekmann las ich erstmals vom äußeren Schweinehund, der meines Erachtens, im Gegensatz zu seinem inneren Bruder, viel zu wenig Beachtung findet.

Dienstag: Nach Ostern ist die Zahl der am Haus vorbeibrausenden Motorräder merklich zurückgegangen. Dafür brausen nun umso mehr P- und LKW vorbei. Was soll man machen.

Wir wohnen hier nicht nur in häuslicher Gemeinschaft mit Hühnern, die durch ihre Bewegungen und Geräusche Stadtbewohnern wie uns stets ein Lächeln entlocken, sondern auch mit einem Gecko, genauer: einem Europäischen Halbfinger, wie der Liebste recherchiert hat, der abends, während wir uns dem Nachtglas widmen, regungslos an der Hauswand oder kopfüber an der Decke der Terrasse verharrt, um seinen Appetit auf Spinnlein und ähnliches Getier zu stillen. Also der Gecko, nicht der Liebste; letzterer isst normalerweise mit uns am Tisch.

Auf dem Weg zum Nachmittagsgetränk

In Frankreich ist Wahlkampf.

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Was man hier nur wenig sieht, sind blau-gelbe Ukraineflaggen. Gleichwohl ist die daraus folgende Ölkrise auch in hiesigen Supermärkten angekommen.

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Mittwoch: Morgens gab es kein warmes Wasser mehr. Die Warmwasserbereitung erfolgt hier in einem großen Behälter im Nebenraum, der mit (vermutlich Atom-)Strom aufgeheizt wird und offenbar seine Funktion vorläufig eingestellt hat. Somit startete der Tag für mich als im Kaltduschen Ungeübter ohne das tägliche Brausebad, was man wohl überlebt.

Nachmittags besuchten wir zwei Weingüter in Beaumes-de-Venise und Vacqueyras. Auf dem Hinweg kamen wir an La Roque-Alric vorbei, einem pittoresk an einen Berghang gebauten Dorf, dessen wesentliche Funktion darin liegt, als Motiv für Postkarten und Touristenfotos zu dienen. Vom Verkaufs- und Verkostungsraum in Vacqueyras aus ein wunderbarer weiter Blick über noch zart begrünte Weinberge, Wege, Baumgruppen, Hecken, Zypressen, Ginsterbüsche, einzelne Häuser und Gehöfte; ein Gemälde aus verschiedenen Grün-, Ocker-, Braun-, Grau und Blautönen mit einigen gelben Sprenkeln darin. Auch an diesem kühltrüben Tag hätte ich dort stundenlang stehen und schauen können, obwohl nicht viel passierte; hier wurde etwas an den Reben gezupft, dort fuhr ein Traktor durch das Bild. Wie schön muss es sein, jeden Morgen nach dem Aufwachen diesen Anblick zu genießen? Und wie lange würde es dauern, bis durch die Gewohnheit des Täglichen auch hier der Genuss ermattet?

Im Übrigen verweise ich auf meine diesbezüglichen Ausführungen hier von 2010 sowie aus vergangenem September:

»Nicht zum ersten und bestimmt nicht zum letzten Mal stelle ich mir vor, wie es wäre, dauerhaft hier zu leben. Vielleicht in einem eigenen Haus etwas außerhalb, umgeben von Weinreben und Olivenbäumen, ein Lavendelfeld in Sichtweite, dazu Aussicht auf den Mont Ventoux und unser Schwimmbecken, in dem meine Lieben plantschen, während ich im Schatten der Terrasse belanglose Zeilen im Notizbuch vermerke. Im Winter knackt das Feuer im Kamin, während eisiger Mistral das Haus umtost. So schön das klingen mag – es spricht doch einiges dagegen. Allein schon fehlte mir der Mut, zu Hause alles abzubrechen und hier neu anzufangen, einschließlich Erlernen der Sprache, die ich auch nach Jahren nur rudimentär beherrscheanzuwenden im Stande bin. Und verliert das Schöne nicht irgendwann seinen Reiz, wenn man dauerhaft darin wohnt? Wer weiß, vielleicht werden durch den Kimawandel bald alle Sommer in der Provence unerträglich heiß, oder Marine Le Pen übernimmt die Macht, dann heißt es womöglich „Ausländer raus“ und „Schwule hängen“ mit unabsehbaren Folgen für ausländische Schwule. – Freuen wir uns also lieber auf das nächste Mal.«

Nach Rückkehr hatten die Vermieter unserer Wohnung das warme Wasser wieder ans Laufen gebracht. Ab morgen wieder Warmduschen.

Zur Feier des Liebsten Geburtstags verbrachten wir den Abend in einem sehr guten örtlichen Restaurant. Nach dem Hauptgang brachte der Wirt eine kleine quadratische Torte mit brennendem Kerzlein darauf an unseren Tisch, nötigte uns, für den Liebsten zu singen, auf dass auch die übrigen Gäste von seinem Anniversaire erfuhren, teilweise stimmten sie gar ein. Kaum war das Kerzenlicht ausgeblasen, wurde das noch unangetastete Törtchen wieder abgeräumt; wenig später servierte der Wirt drei Streifen daraus, von der Menge her völlig ausreichend, als Dessert. Was er mit dem Rest gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Die Neigung, in Dingen Gesichter zu erkennen, heißt übrigens Pareidolie.

Donnerstag: Nach Brausebad und Frühstück fuhren wir nach Avignon, der Stadt der Päpste, halben Brücke und Mireille Matthieu. Dort besuchten wir die örtliche Markthalle, wie es sie in vielen größeren französischen Städten gibt. Während der Liebste Einkäufe tätigte, prüften der Geliebte und ich die Getränkequalität einer der Bars und wir kamen zu einem zufriedenstellenden Ergebnis. Erstaunlich, wie viele Menschen, augenscheinlich keine Touristen, sich mittags an einem gewöhnlichen Wochentag an der Bar einer Markthalle aufhalten, nicht nur für einen schnellen Kaffee oder ein Wasser, die meisten hatten ein Weinglas vor sich, das vom freundlichen Barmann regelmäßig nachgefüllt wurde. Offenbar nicht oder nicht überwiegend aus Verzweiflung, sondern Lebensfreude. Wie wenig Aufenthaltsqualität bietet dagegen etwa der Bonner Wochenmarkt, wo man mit Angeboten wie „Ein Kilo Tomaten ein Euro“ angeschrien wird und schon deshalb lieber schnell weitergeht.

»Lungensport in Schwarzrheindorf« lautet eine Artikelüberschrift in der Zeitung, die ich dank Netz auch im Urlaub lese, wohingegen ich auf die Fernsehnachrichten problemlos verzichten kann. Klingt nach einem Wettrauchen.

Freitag: Der letzte Urlaubstag ist stets mit einer gewissen Melancholie belegt. Die Sachen, darunter zahlreiche Weinkartons (und Kaffee, fragen Sie nicht) ins Auto packen, das letzte Nachmittagsbier auf der Terrasse der Lieblingsbar, abends nochmal in die Pizzeria, das war es dann, morgen früh fahren wir zurück.

Nach dem Frühstück fuhren meine Lieben nach Vaison-la-Romaine, den Supermarkt leerkaufen. Da ich Supermarktaufenthalte ermüdend, allenfalls mäßig interessant finde, nutzte ich die Alleinzeit für einen knapp zweistündigen Gang rund um den Ort. Nichts hilft besser gegen Urlaubsendemelancholie als Gehen.

Drogenanbau südlich von Malaucène
Lavendelfeld, Vorsaison
Stillleben, provencalisch

Samstag: Der Vorteil, wenn man zu dritt verreist, ist, ich kann im Auto hinten sitzen. Vorne sitze ich ungern, am unliebsten auf dem Fahrersitz, meine Bewertungen als Beifahrer sind auch nicht besonders gut („Warum blinkst du nicht?“ – „Fahr doch nicht dauernd links!“ – „Vorsicht!“ – und so weiter). Hinten kann ich einfach aus dem Fenster schauen und nachdenken, wovon ich in den vergangenen Tagen ausgiebig Gebrauch machte, freilich ohne zu einem nennenswerten Ergebnis zu kommen.

Übrigens male ich mir nur über weniges so viel aus wie vor einer Reise darüber, was alles schiefgehen kann: Zugausfall, Reifenpanne, Hagelschlag, Gezänk, Meteoriteneinschlag. Doch ging es gut, bereits gegen 17:45 Uhr, somit fast eine halbe Stunde vor der ursprünglich errechneten Ankunftszeit trafen wir nach staufreier Fahrt mit nur geringem Gezänk zu Hause ein.

Sonntag: Die erste Nacht im eigenen Bett schläft es sich wie üblich besonders gut. (Ist der Satz so korrekt, oder muss es heißen „In der ersten Nacht“? Egal, Sie wissen, was ich meine.)

Diese Wochenbetrachtung wäre unvollständig ohne Erwähnung des Vogels, der in Malaucène die Umgebung mit seinem Ruf erfreut: ein etwa halbsekündiger gleichbleibender Ton (E, wie eine zur Ermittlung heruntergeladene Klavier-App, die auf Datengeräten der neuen Generation ohne Zurück-Knopf nur schwierig wieder zu schließen ist, ergeben hat) ungefähr alle zwei Sekunden, an eine Alarmanlage oder einen Feuermelder erinnernd. Abends nach Einbruch der Dunkelheit piept er besonders ausdauernd, manchmal über Stunden, auch tagsüber ist er hin und wieder zu hören, wenn nicht gerade ein Motorrad brüllt. Manchmal gesellt sich nachts in größerer Entfernung ein Artgenosse hinzu, in Tonhöhe und Frequenz geringfügig von ersterem abweichend. So tanzen ihre Töne minutenlang umeinander her, mal treffen sie aufeinander oder verfehlen sich knapp, trennen sich wieder, bis sie erneut verschmelzen, während der Mensch sich wach in seinem Tuch wälzt. Um was für einen Vogel es sich handelt, war nicht zu ermitteln. Ein wenig vermisse ich ihn.

Zum Schluss einige weitere bildliche Eindrücke der Woche.

Der Verfasser bei einem wichtigen Tagestermin
Landschaft bei Vinsobres
Avignon
Blick aus unserer Ferienwohnung über die Straße, ausnahmsweise ohne Kraftfahrzeuggeräusche
À bientôt

Zurück in Bonn. Heute war ich spazieren. Auf dem Friedensplatz war Antikmarkt, wo der übliche Krempel feilgeboten wurde, wie eine kurze Inaugenscheinnahme ergab. Nachdem ich mich einige Meter entfernt hatte, um den Gang fortzusetzen, gab es eine lautes Scheppern und Klirren, als ob einer der Stände mit Geschirr, Gläsern und Hausrat umgekippt wäre. Ich verzichtete auf eine Rückkehr, um nachzuschauen; es wird wohl niemand verletzt worden sein. Desweiteren zog es mich auf die andere Rheinseite, wo am Beueler Rheinufer ebenfalls eine Art Markt mit Verkaufs-, Trink- und Essständen stattfand, das ganze akustisch hinterlegt mit Musik von Bernd Clüver. Für den Rest des Spazierens begleitete mich leider die Liedzeile »Mexican Girl, heut Nacht oder nie«. Ansonsten war es schön:

Rheinaue vor Bonn-Schwarzrheindorf
Ebenda
Der Rhein nördlich von Bonn

»Schick deinen Love Standort« hat jemand mit Kreide auf eine niedrige Mauer in der Inneren Nordstadt geschrieben. Leider nicht, wohin.

Nachtrag am Abend: Frankreich hat gewählt. Nochmal gut gegangen. Wir können wiederkommen.

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Ab morgen wird es wieder ernst. Kommen Sie gut durch die Woche, ich versuche es auch.