Zwischen den Jahren

Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester wird gerne „zwischen den Jahren“ genannt. Das ist natürlich Unsinn: Wie ein Blick in den nur noch dünnen Kalender zeigt, befinden wir uns noch immer im alten Jahr, das in letzten Zuckungen dem Ende entgegen siecht.

Und doch haben diese Tage etwas Zwischenzeitliches, jedenfalls wenn man keinen Urlaub hat: Die wesentlichen Aufgaben des Jahres sind erledigt, alles andere kann bis zum nächsten Jahr warten. Nächstes Jahr – wie fern das klingt, dabei ist es schon nächste Woche, übermorgen bereits. Man fängt nichts Neues mehr an, dafür macht man früh Feierabend, wenn man die Möglichkeit hat. Für das wenige, was noch zu tun ist, nimmt man sich Zeit, auch für Dinge, zu denen man sonst nicht kommt. Hektisch wird es erst wieder im neuen Jahr, wenn sie alle zurück sind aus dem Weihnachtsurlaub und die anderen mit Mails, Anrufen, Powerpoint und Besprechungen behelligen; alles dringend, alles wichtig.

Bis dahin herrscht himmlische Ruhe – das Telefon schweigt, kaum Maileingang, der Kalender terminfrei. Das Kantinenangebot ist eingeschränkt, wir sind noch satt von Weihnachten. Auch in den Büros ist fast niemand, daran wird sich indes auch im neuen Jahr so bald nicht viel ändern. Insofern hat „zwischen den Jahren“ noch eine andere, durchaus zutreffende Bedeutung bekommen.

Woche 52: So schlimm nun wirklich nicht

Montag: „Vielen Dank euch für das wunderschöne Jahr“, sagte der Projektleiter in einer kurzen Weihnachtsansprache. Motivation kann er.

Statt Weihnachtsmarkt und anschließendem Restaurantbesuch traf sich unsere Abteilung abends auf dem Monitor, erstmals mit bewegten Bildern, woanders längst an der Tagesordnung, von mir bislang nicht vermisst. Zunächst plauderten wir ein wenig und empfingen chefliches Lob, begleitet von Eierlikör, den der Geliebte diskret von der Seite reichte und den ich aus Gründen des Anstandsanscheins außerhalb der Kamerareichweite einnahm. Danach nahmen wir an einem dreistündigen Event teil, bei dem es galt, einen reichlich absurden Kriminalfall um eine entführte Weinkönigin zu lösen, was Menschen so tun und zu bezahlen bereit sind, wenn sie viel Zeit haben. Bereits nach weniger als zehn Minuten verlor ich aufgrund der zahlreichen handelnden Personen und bereitgestellten Informationen erst den Überblick, dann das Interesse an einer Mitwirkung, was nur zu einem sehr geringen Teil auf den Eierlikör zurückzuführen war. Ich glaube, für manches bin ich einfach zu alt, das ist nicht schlimm. Übrigens versagte unsere Gruppe kläglich: Am Ende verglomm die Weinkönigin in einer Explosion und die gesamte Weinernte der Region Rheinhessen wurde durch ein rätselhaftes Gift vernichtet. Wie gesagt, reichlich absurd das ganze. Und drei Stunden können sehr lang sein.

Dienstag: „Was macht das mit den Menschen?“, fragte morgens die Radiotante auf WDR 2 den Bundesgesundheitsminister. Ich habe einen zeitweise empfindlichen Zahn, der dritte oder vierte unten links. An manchen Tagen, ich weiß nicht, wovon es abhängt, vielleicht vom Wetter, dem Luftdruck, dem Hormonhaushalt, was auch immer; an diesen Tagen also durchzieht ihn ein kurzes Stechen, wenn er mit etwas Warmen in Berührung kommt. Dauerhaft hingegen wohnt in mir eine Empfindlichkeit gegen die Frage, was irgendetwas mit irgendwem macht. Jedes Mal, wenn ich das hören oder lesen muss, durchzieht mich ein kurzer, heftiger Schmerz in einer nicht näher zu lokalisierenden Hirnregion.

Sehr gefreut habe ich mich hierüber: „In einem anderen, sehr geschätzten Blog fand ich heute ein kleines Zitat rund um meinen kreativen Umgang mit Personalpronomen und gendergerechten Sprachkonstrukten und ich möchte dazu feststellen: Doch doch, nattürlich lese ich mit!“

Apropos sehr geschätztes Blog – auch schön: „Andere Menschen machen ja überhaupt vieles anders, das ist immer wieder irritierend.“ Gelesen hier.

Mittwoch: Gestern Abend schrieb mir Nachbar- und Leserin M., in diesem Blog würde nur gemeckert und kritisiert. Das liegt mir fern, vielmehr sehe ich mich als einen überwiegend ausgeglichenen und optimistischen Menschen, aber das ist ja immer so eine Sache mit Fremd- und Selbstbild. Nur gibt es halt immer wieder mitmenschliche Verhaltensweisen und Wortgeklingel, die unkommentiert zu lassen mir schwer fällt.

Im Übrigen stimmen Sie mir vielleicht zu, wenn ich behaupte, „In der Weihnachtsbäckerei“ ist ein ganz besonders unnötiges Lied.

Donnerstag: „Das Virus kennt keine Feiertage“, sagte mal wieder einer. Ja. Ich glaube, allmählich haben wir das verstanden und möchten es nicht mehr hören. – „Schöne Freiertage“ war der Verschreiber des Tages; glücklicherweise bemerkte ich ihn vor Absenden der Mail, man weiß ja nie, wie Leute auf sowas reagieren, auch wenn es unbeabsichtigt geschieht.

Den letzten Arbeitstag dieses Jahres beendete ich, wie schon die drei vorausgegangenen, dank ausreichend gefülltem Gleitzeitkonto und weitgehend abgearbeiteter Aufgabenliste frühzeitig, daher kam ich mittags noch vor dem einsetzenden Kaltregen zu Hause an, wo meine Lieben, deren letzte Arbeitstage schon länger zurück lagen, den Frühstückstisch bereitet hatten.

Nun also Heiligabend. In diesem Jahr auffallend ruhig draußen, keine Autos, die sich in unserer engen Straße auf dem Weg in die und aus der Tiefgarage böse gegenseitig anhupen, keine Menschen, die mit vollgepackten Taschen vorübereilen. Nur der Paketbube brachte mittags zwei letzte Pakete, davon eins für mich, worüber ich mich sehr gefreut habe, da es ein unerwartetes Kollegengeschenk enthielt.

Drinnen dagegen zeitweise leichtes Knistern, da Raumpflegedrang und Essensvorbereitungen ein brisant-interessantes Spannungsfeld bildeten.

Doch zog bald festliche Harmonie ein. Am frühen Abend kam es gar zu Gesang mit der Nachbarschaft, selbstverständlich unter Beachtung der gebotenen Abstandsregeln. Auch wenn es sich aufgrund der Qualität nicht unbedingt für die Verbreitung per Tonaufnahme eignete, bereitete es den unmittelbar Beteiligten Freude, aus einem fernen Fenster kam gar Applaus. Wer weiß, vielleicht war das der Auftakt für eine Tradition, die entstehen ja nicht selten aus den seltsamsten Anlässen, siehe Weihnachten.

Freitag: Dieses Weihnachten würde das schlimmste der Nachkriegszeit, hatte unser Ministerpräsident kürzlich behauptet. Statt familiärer Besuchspflichten heute ein Spaziergang, Sofa und Tee. Das ist so schlimm nun wirklich nicht.

Nachmittags wurde ein neues Haushaltsgerät in Betrieb genommen, das seit gestern den heimischen Maschinenpark bereichert.

Samstag: Vor dreißig Jahren, als ich noch evangelischer war, blies ich Trompete im Posaunenchor des CVJM Bielefeld-Stieghorst. Am schönsten fand ich das immer zur Weihnachtszeit; eines der großartigsten Stücke, mit dem traditionell an Heiligabend der Haupt-Gottesdienst um achtzehn Uhr eröffnet wurde (und vielleicht immer noch wird beziehungsweise in diesem Konjunktiv-zwei-Jahr worden wäre), war „Hoch tut euch auf“ von Christoph Willibald Gluck. Noch heute geht mir beim Hören das Herz auf und leichte Feuchte umspielt die Augen. Hören Sie selbst, vielleicht verstehen Sie, was ich meine.

Sonntag: Die Weihnachtswoche endete appetitlos, trübe, kalt und regnerisch. Das hielt mich nicht vom Sonntagsspaziergang ab, wenn auch nur kurz runter an den Rhein und durch die Nordstadt zurück. Ein Sonntag ohne Spaziergang ist für mich mittlerweile so unvollständig wie für andere Weihnachten ohne Amazon. Am Rhein saßen die Möwen zusammen mit ein paar Enten und Tauben, allesamt vom Wind sorgsam in Richtung Süden ausgerichtet, als schauten sie dem Gebläse entgegen und dächten: Menno (oder was Vögel so denken, wenn sie mit der Situation unzufrieden sind), wann hört das endlich auf?

Dies ist gleichzeitig mein voraussichtlich letzter Beitrag zur Blogaktion „Foto der Woche“ von Aequitas et Veritas, die am kommenden Donnerstag endet.

Woche 52: Traumreisen und Tütensuppe

KW52 - 1

Montag: Wo Menschen unterschiedlichen Charakters zusammenleben, kommt es mitunter zu Reibungen, auch und gerade so kurz vor Weihnachten. Doch verursacht Reibung bekanntlich Wärme, und die können wir gut brauchen, nicht nur zu Weihnachten.

„Viel­falt stei­gert das Auf­nah­me­ver­mö­gen: beim Kunst­ge­nuss, bei der Pfle­ge von Freund­schaf­ten. Manch­mal beim Sex. Ein kom­ple­xes The­ma“, so die Ernährungsforscherin Bar­ba­ra Jean Rolls im SPIEGEL auf die Frage, ob wir mehr essen, wenn das Angebot abwechslungsreich ist.

Vor fast genau sieben Jahren, konkret am 20.12.2012, endete ein TagebuchEintrag so: „Ach ja, laut Maya-Kalender geht morgen angeblich die Welt unter, somit war dies dann der letzte Eintrag. Sollte es so sein: Mein Leben auf dieser Erde war sehr schön!“ Drei Tage später dieses: „Wider Erwarten ist die Welt am Freitag doch nicht untergegangen. Stattdessen war ich am Freitagabend in der Stadt, Weihnachtsgeschenke kaufen; viel schlimmer hätte ein Weltuntergang auch nicht sein können.“

Dienstag: Während ich die Autos auf den Straßen und die Menschen auf den Bahnsteigen betrachte, frage ich mich, um wie vieles diese Welt friedlicher sein könnte, wären wir nicht bestrebt, ständig den Aufenthaltsort zu wechseln und Waren durch die Gegend zu schicken. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Mittwoch: Zum Beispiel von Bonn nach Ostwestfalen, wo wir heute und morgen den familiären Fest-Pflichten nachkommen. Wofür braucht man eigentlich Weihnachten?

Das Wort „Engentado“ kommt übrigens aus dem Spanischen, es bezeichnet den Wunsch nach Einsamkeit.

Donnerstag: Alle Lieben gesehen, alle Geschenke* verteilt und empfangen, viel gegessen und (vielleicht etwas zu viel) getrunken, viel gelacht, unter anderem über freilaufende Eier und die Frage: „Wo waren wir nochmal morgen?“ Gestaunt über ein Feuerzeug: Nicht eines mit gas- oder benzingenährter Flamme, sondern klimaschonend elektrisch, mit Lichtbogen oder so, fragen Sie mich nicht. Das Erstaunliche daran war allerdings nicht die Antriebsart, sondern ein Nebeneffekt. Bei Betätigung erzeugt das Gerät einen offenbar äußerst fiesen Ton, den nur Menschen unter dreißig wahrnehmen. Von so etwas hörte ich schon mal, dabei ging es, wenn ich mich recht erinnere, um Geräte zur Vergrämung Jugendlicher von beliebten Lungerstätten. Nun erlebte ich es in eigener Anschaung: In der anderen Ecke der Stube gaben sich die in den Zwanzigerjahren und somit der frischen Blüte ihres Lebens stehenden Neffen und Nichten dem Kartenspiel hin, mit richtigen Papierkarten und nicht etwa einer Kanaster-App. Jedes Mal, wenn nun jemand im Raum das Ding anschaltete, hielten sie sich schmerzverzerrt die Ohren zu und riefen herüber „Aua, mach das aus!“, während wir Alten beim Geplauder über vergangene Zeiten nicht den leisesten Piep vom Feuerzeug ausgehend hörten. Auch die älteste Nichte hörte nichts und fand das richtig doof, weil sie mit ihren zarten zweiunddreißig sich demnach nun auch zu den Alten zugehörig fühlen darf.

An den zwei Tagen etwa fünfhundert Kilometer mit dem Auto gefahren, nachmittags wieder zu Hause. Jetzt kann Weihnachten beginnen.

Woanders auch: „Wir schauten dann die erste Folge Schwarzwaldklinik in der Mediathek um unsere Gehirnzellen auf das traditionelle Traumschiff-Gucken heute Abend herunter zu kühlen …“

* Ach so, nein, nicht alle, ein Geschenk fehlt noch. Das bereite ich mir morgen selbst.

Freitag: Leider ist mein persönliches Selbstgeschenk im zuständigen Fachgeschäft vorübergehend ausverkauft, anscheinend bin ich nicht der einzige Verrückte, der das haben muss. Voraussichtlich im Januar kommt es wieder rein. Das ist nicht schlimm, im Januar freue ich mich auch noch über den Anruf des Fachhändlers, wenn die Ware eingegangen ist. Das finde ich im Übrigen schöner, als es irgendwo zu bestellen und dann auf das Paket zu warten. – Was es ist? Das wird nicht verraten, sonst ist es ja keine Überraschung. Also gut, ein kleiner Hinweis: die 87-fache Verkleinerung eines Gegenstandes, der an einem Montag schon einmal hier Erwähnung fand.

Auf den Besuch des Fachgeschäfts folgte ein nachweihnachtlicher Spaziergang durch die Stadt und an den Rhein. Ohne Notwendigkeit und konkretes Ziel durch die Gegend laufen zu können ist auch ein Geschenk, zudem äußerst kostengünstig.

„Was für ein kleiner Player“, hörte ich im Vorbeigehen eine junge Frau zu einer anderen sagen. Ich weiß nicht, um wen oder was es dabei ging, nach einer Liebesbezeugung klang es jedenfalls nicht.

Aus einem Zeitungsbericht zum 25-jährigen Bestehen der Telekom: „Ausländische Sex-Dienste wurden auf Handvermittlung umgestellt, die Nutzung ging stark zurück.“

Samstag: Abends aßen wir beim Spanier an der Ecke. Mit an unserem Tisch saß ein junges Paar. Zwar gelingt es mir mit zunehmendem Alter immer weniger, bei Hintergrundgeräuschen wie Gaststättengeraune anderer Leute Gespräche zu folgen (was ich nur selten als nachteilig empfinde), doch war offenbar, dass sich beide noch nicht lange kannten, vielleicht hatten sie sich erst kurz zuvor auf Tinder zusammengewischt. Ihn hörte ich fragen: „Du fertigst dann so die Packages?“ Vielleicht war sie in der IT-Branche tätig oder bei einem Versandhändler, was weiß ich, wo überall Packages gefertigt werden. Zwischendurch minutenlange Gesprächspausen, in denen sich dem jeweils eigenen Datengerät gewidmet wurde, vielleicht tinderten sie schon nach dem nächsten Partner, angeblich wollen sich die jungen Leute ja nicht so schnell festlegen, erst recht nicht bei der Partnerwahl. Doch sparte man unterdessen nicht mit dem Austausch von Zärtlichkeiten über Hand und Mund, auch in Kombination. Immerhin, und dafür bin ich den beiden wirklich dankbar, verzichteten sie darauf, sich gegenseitig Speisen zum Mund zu führen, wie man das aus Reklame für Beziehungsbörsen, Traumreisen und Tütensuppe kennt. Hoffen wir, dass der Abend und die Nacht noch einen für beide zufriedenstellen Verlauf nahmen. Ich an ihrer Stelle hätte ihn jedenfalls nicht mehr alleine in die Kälte entlassen, aber das ist ein anderes Thema.

Sonntag: In der Nacht kam ich sehr schlecht in den Schlaf, erst nach vier Uhr betrat ich das Reich wirrer Träume. Was mich solange wach hielt, war weniger die Sorge um das junge Liebesglück, vielmehr verdächtige ich den Espresso nach dem Essen in Verbindung mit den Kaffeebohnen im abschließenden Sambuca. Während ich mich wälzte, fielen mir folgende Zeilen ein:

Nimmst du Kaffee nach dem Essen / kannst die Nachtruh‘ du vergessen.

Nimmst du Kaffee vor der Nacht / bis du um den Schlaf gebracht.

Nimmst du Kaffee nach dem Nach- / tisch liegst du bis morgens wach.

Zugegeben, hinsichtlich der poetischen Qualität eher flachwurzelnd, jedoch immerhin erstaunlich, dass ich mir diesen Mist bis nach dem Aufstehen merken konnte.

Ansonsten erfuhr mein Leben während des Sonntagsspaziergangs insofern einen Wendepunkt, als dass ich nunmehr weiß, es gibt Fabrikschilder für Gehwegplatten.

KW52 - 1 (1)

Noch was zum Thema Alter – Hier bei Frau Postman gelesen und für gut befunden:

„In letzter Zeit – nein, eigentlich schon länger – denke ich oft, wie gut, dass ich nicht mehr so jung bin, dann werde ich die ganz grossen Katastrophen, auf die diese Welt scheinbar unaufhaltsam zusteuert (ich bitte, diese trivial-pathetische Ausdrucksweise zu entschuldigen, ich bin irgendwie noch im Weihnachtsmodus….), höchstwahrscheinlich nicht mehr erleben. Das ist noch nicht mal immer so ein schlimmer Gedanke, da es mich, logisch, mit dem Verstreichen meiner Lebenszeit ein klein wenig versöhnt.“

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Verkehrsminister entlassen werden sollte.

 

Übergebäck

Friede, Freude, Weihnachtszeit,

Lichterglanz, Besinnlichkeit.

Ruhe, Muße –

Doch stattdessen:

Keine Zeit, wir müssen essen.

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Gebrannte Mandel oder Nuss,

Nougat, Spekulatius,

Dazu Punsch, geglühter Wein,

Bratwurst und Dominostein.

Schokolade als Figürchen

Hinter dem Kalendertürchen.

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Gänsekeule, Rotkohl, Obstbrand,

Bis zum akuten Magenstillstand.

Kartoffeln, Brot aus Marzipan

Ich langsam nicht mehr sehen kann.

Kekse, Plätzchen allerorten,

Danke, Nein! – Mit andren Worten:

.

Tochter Zion, freue dich –

Mir reichts, drum bitte ohne mich.

Der bunte Teller wird nicht leer.

Sei es drum: Ich kann nicht mehr!

Aufgewärmt: Von einem anderen Stern

Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, einen älteren Aufsatz behutsam aufzuwärmen und ihn Ihnen erneut zur Lektüre zu geben. Ich bitte um Verständnis.

***

KW49 - 1 (2)

Bald feiern wir wieder das Fest des Kindes. Der Legende nach wurde es vor etwa zweitausend Jahren in Bethlehem geboren, nachdem es auf rätselhafte Weise in den Bauch einer gewissen Maria geraten war. Mit Vaterschaftstests und Unterhaltsklagen waren sie damals noch nicht so weit, daher kam Josef mit seiner War-ich-nicht-Nummer nicht durch, stattdessen musste er die Dame auf ihrem Weg durch Nacht und Kälte begleiten. In Bethlehem hatten sie Pech: Wegen einer Verbrauchermesse waren alle Hotels und Pensionen belegt oder überteuert, daher rasteten sie in einem zugigen Stall, wo das Kind schließlich unter den desinteressierten Blicken eines Ochsen und eines Esels zur Welt kam.

Drei Messeteilnehmer aus dem Morgenland waren spät dran, weil sie sich uneins waren über den Weg nach Bethlehem, bis einer von ihnen das Laserlicht entdeckte, das seit Tagen von der Messehalle aus in die Wolken strahlte. Als sie endlich ankamen, entdeckten sie den Stall, irrtümlich hielten sie das ganze für die sehr gelungene Warenpräsentation eines innovativen Leuchtmittelherstellers, dessen Produkte offenbar ganz ohne Flamme auskamen, die Kopfbeleuchtung des Babys strahlte besonders hell. Daher überreichten sie ihre Karten und einigen Kram von geringem Gebrauchswert, den sie in ihren Jackentaschen gefunden hatten. Josefs Frage nach einem wärmenden Schluck beschieden sie hingegen abschlägig, da ihre Cognacvorräte auf der langen Anreise schon draufgegangen waren.

Aus dieser mündlich überlieferten Begebenheit sind schließlich Weihnachten, Lichterketten und Glühweinbuden entstanden. Seitdem hat sich viel getan. Heute glauben die Kinder nicht mehr an drei nette Herren aus dem Osten, sondern an einen dicken Mann in rotem Gewand mit weißem Rauschebart und das Christkind, die unter Absingen von ‚“Last Christmas“‘ die Geschenke bringen, bevor sie wieder durch den Schornstein verschwinden – im Zeitalter der feinstauboptimierten Zentralheizung schon schwer vorstellbar, selbst für das gutgläubigste Kind. Apropos kindlicher Glaube: Früher, so mit vier oder fünf, glaubte ich, es hieße ‚Kristkind‘, weil es, während es die Geschenke verteilt, sagt: „Du krist (= ostwestfälisch für ‚kriegst‘) dieses Geschenk, du krist das und du das.“

Längst vorbei sind auch die Zeiten, da Neugeborene in Windeln gewickelt in einer Futterstelle für Nutztiere aufbewahrt werden, außer vielleicht in besonders ökoideologisch-traditionellen Haushalten. Dafür gibt es heute technologisch hochentwickelte Tragegefäße, welche sich mit wenigen Handgriffen in eine Babybox für Brust-, Auto- oder Fahrradbefestigung verwandeln lassen, um den Nachwuchs zum Geschenkeempfang oder zur Niedlichfindeaufforderung in die Verwandtschaft oder die Firma zu verbringen. Vielleicht wissen Sie, was ich meine: Des Kollegen Frau liegt in freudiger Erwartung. Wenige Tage später hört man auf dem Büroflur das hochfrequente Juchzen der Kolleginnen, mindestens eine Oktave über ihrer üblichen Sprechstimme. Ein vorsichtiger Blick aus der Bürotür verrät den Grund: Der junge Vater steht mit dem Tragekörbchen auf dem Flur, umringt von vor Entzückung entrückten Menschen.

Ein paar Minuten später steht der vaterstolze Kollege dann mit seinem Ableger in meiner Bürotür und sagt so etwas wie „“Sieh mal, Paul-Luca, und das ist Carsten,… sag mal hallo zu Carsten!““ Während ich mich mit gequältem Lächeln von meinem Platz erhebe und mir ein „Ganz der Papa““ abringe, sagt Paul-Luca weder Hallo, noch nimmt er überhaupt Notiz von mir. Das Desinteresse ist beiderseitiger Natur, mit Hunden und neu erworbenen Autos geht mir das übrigens genau so.

Ich gebe zu: meine Begeisterung für Neugeborene, Kinder generell, ist begrenzt, für mich sind sie so etwas wie Wesen von einem anderen Stern, mit denen ich nicht so recht etwas anzufangen weiß. Das war schon immer so, auch als ich selbst noch ein Kind war. Wenn in der Verwandt- oder Nachbarschaft ein neuer Mensch die Bühne betrat, hielt ich mich stets in sicherer Entfernung, und das Gewese, welches um diesen Neuankömmling gemacht wurde, fand ich unangemessen, schließlich hatte er bislang noch nichts geleistet außer schreien und kacken. Na ja, viel mehr konnte ich auch nicht vorweisen.

Meine Kinderlosigkeit empfand und empfinde ich eher als Segen denn als Mangel, ich vermisse diesbezüglich absolut nichts. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht habe ich Angst, meine Kinder könnten so werden wie ich. Wobei, die Geschichte mit dem Töpfchen, der A-A und der mit der Zahnbürste braun angemalten Tapete haben sich meine Eltern bestimmt nur ausgedacht, um mich gelegentlich in schlechtes Licht zu rücken. Oder um von der Nichtexistenz des Weihnachtsmannes abzulenken.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Liebe Kinder, ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest mit vielen pädagogisch wertvollen Geschenken! Und wie das Kind in Marias Bauch kam, fragt euren Papa.

KW49 - 1 (3)

(Ursprünglich veröffentlicht hier.)