Gefällt mir nicht

In der aktuellen Ausgabe der NEON beschreibt der Autor Felix Hutt in seinem Artikel „Gefällt mir zu sehr“ seine Facebook-Sucht: Wie er ins Bad verschwindet, Wasserhähne aufdreht und die Toilettenspülung betätigt, um seiner Freundin Körperpflege vorzugaukeln, in Wahrheit aber heimlich mit seinem Handy die neuesten Neuigkeiten in Facebook liest; die Freude, wenn jemand einen seiner Einträge kommentiert oder mit diesem Gefällt-mir-Dings versehen hat; seine ständige Angst, etwas zu verpassen; den ständigen Zwang, immer und immer wieder, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, nachzusehen, was es neues gibt; die Enttäuschung, wenn eine Freundschaftsanfrage unbestätigt bleibt.

Schließlich sucht er Suchtexperten, Psychologen und Wissenschaftler auf, wird in die Röhre geschoben, bekommt am Ende bestätigt: Ja, er ist süchtig, der Gedanke an Facebook aktiviert bei ihm dieselben Hirnregionen wie beim Raucher das Nikotin, man empfiehlt ihm, sich bei Facebook abzumelden oder eine Therapie zu machen. Abmelden kommt für ihn nicht in Frage, dann lieber eine Therapie.

Ich mag Facebook nicht. Lange Zeit habe ich mich geweigert, mich dort überhaupt anzumelden, allein schon wegen des Geschreis, das darum gemacht wurde; es ist derselbe Grund, weshalb ich keine Harry-Potter-Bücher gelesen und Der Herr der Ringe im Kino gesehen habe (also gut: den ersten Band Harry Potter habe ich gelesen, um mitreden zu können, ich gebe es zu). Meinen Facebook-Account habe ich mir schließlich doch zugelegt, mehr aus praktischen Erwägungen, ich kann, wenn ich will (meistens will ich nicht), Kontakt halten zu Leuten, die ich sonst aus den Augen verloren habe, oder ich erfahre von einigen Veranstaltungen, die ich sonst nicht mitbekommen hätte, und an denen ich dennoch fast nie teilnehme.

Es ist mir – bitte verzeihen Sie den Ausdruck – absolut scheißegal, wer gerade irgendwo kackt, wer das kommentiert, wem das „gefällt“; wer jetzt mit wem befreundet ist, wer welches dämliche Spiel spielt (und mich womöglich dazu einlädt – vergesst es!); irgendwelche Urlaubs- oder Partybilder langweilen mich sowieso, nicht nur auf Facebook.

Mich stört die inflationäre Verwendung, oder besser: der Missbrauch des Wortes „Freund“. Ein Freundschaft ist etwas, was Zeit braucht, wachsen muss, manchmal über Jahre; eine Freundschaft entsteht jedoch nicht durch das Anklicken einer Schaltfläche, ein Mensch, dem ich im echten Leben noch niemals begegnet bin, kann nicht mein Freund sein; vielleicht bin ich da etwas altmodisch, sei es drum.

„Dann ist doch alles gut“, könnte man jetzt annehmen, „der Artikel in der NEON betrifft dich nicht.“ – Doch, tut er. Ersetzt man Facebook durch Twitter, treffen 95% zu: Das ständige Lauern auf noch mehr Follower, die permanente Jagd nach Sternen, Retweets und Replies; die Enttäuschung, wenn ein vermeintlich guter Tweet ohne jegliche Reaktion im Rauschen untergeht, dagegen die freudige Überraschung, wenn ein mittelmäßiger Tweet im Sternenglanze erstrahlt (zum Beispiel dieser); dieser ständige Zwang, etwas witziges, geistreiches schreiben zu müssen, die allgegenwärtige Überprüfung jedes Satzes, jeder Bemerkung, jeder Situation, ob sich daraus ein netter Tweet formulieren lässt; dieser Selbstvorwurf „Warum ist mir das nicht eingefallen“, wenn wieder einer so einen Knaller losgelassen hat, und so weiter…

Schöbe man auch mich in die Röhre und läse man mir dann einige gute Tweets vor, würden vermutlich dieselben Hirnregionen aktiv wie bei Felix Hutt, siehe oben.

Und irgendwie gefällt mir das nicht.

Abgeschrieben: Das Mädchen mit den 3 Chromosomen

Am 5. April lud der @vergraemer zum Jour Fitz nach Köln ein und nach Zahlung eines geradezu lächerlichen Bestechungsgeldes war es mir vergönnt, daran teilzunehmen, aktiv und passiv, wenn man so will. Zu den besonderen Vergnügen meiner passiven Teilnahme zähle ich es, Anja Gottschling, in gewissen Kreisen besser bekannt als @3x3ist6, zuzuhören, die ihren Text „Das Mädchen mit den 3 Chromosomen“ las.

Nun ist dieser Text viel zu schön, um nach einmaligem Vortrag womöglich für alle Zeiten in der Versenkung zu verschwinden, deswegen bin ich sehr froh, ihn hier mit Anjas Erlaubnis wiedergeben zu dürfen. Also, ich wünsche viel Vergnügen!

Stancerblog proudly presents:

Das Mädchen mit den 3 Chromosomen.

von Anja Gottschling

Ich wurde als Mädchen mit 3 Chromosomen geboren. Zwei X und einem Y Chromosom. Äußerlich macht es sich nicht bemerkbar, außer vielleicht dem Bedürfnis, sich vorm Fernseher am Sack zu kratzen, nach Genuss eines Bieres mit Herzenslust aufzustoßen oder jeden morgen gähnend vor der Toilette zu stehen um enttäuscht festzustellen, dass einem die Optionen fehlen und man sich definitiv setzen MUSS.

Ansonsten bin ich ganz normal. Normal für ein Mädchen mit 3 Chromosomen.

Das ich 3 Chromosomen habe liegt daran, dass meine Eltern bei der Bestellung des ersten Kindes lediglich ‚Hauptsache gesund‘ ankreuzten. Das ist so, als würde man bei einer Pizza ‚Hauptsache Teig‘ ankreuzen. Teig ist wichtig, aber ob die Zutaten geschmacklich harmonieren liegt dann am Lieferdienst.

Mein Lieferdienst war ein Storch.

Storch, das ist heute ein sehr veraltetes Verfahren, haben wir doch DPD, UPS oder Hermes den Götterboten, aber damals war es so üblich. Als der Storch mich zu meinen Eltern brachte, hielt sich die Freude erstmal in Grenzen. Ich war recht proper und der Storch etwas schwach. Er konnte nicht mehr so hoch fliegen wie er wollte und so nahmen wir jedes Hindernis mit, das höher als 5m war.

Türme, Brücken, Bonsais… So wurde ich mit einem etwas deformierten Hinterkopf ausgeliefert, was meinen Vater überlegen lies, die Bestellung zu stornieren. Mama freute sich doch so sehr auf ein süßes Baby.

Nun hatte man aber schon so lange gewartet, Kilo, ach was, zentnerweise Eis in sich hinein geschaufelt, das Kinderzimmer fertig eingerichtet und der Retourenschein schien mit der unverständlichen Bauanleitung der IKEA-Wickelkommode im Müll gelandet zu sein.

Ich durfte also bleiben.

Meine Eltern wollten mich jedoch erstmal nicht den Nachbarn präsentieren und holten sich ärztlichen Rat, wie man denn aus so einem Eierkopf-baby etwas vorzeigbares hinbekommen würde. Sein Tipp war rundstreicheln. Jeden Tag zu den Mahlzeiten bekam ich also extra energische Streicheleinheiten.

Täglich wurden die Fortschritte gemessen, ob Conehead bald ein normales Leben führen und den Nachbarn vorgestellt werden könnte.

Als der Kopf auf der Birnenskala nur noch eine 2 von ursprünglich 10 brachte, war es soweit. Alle waren ganz entzückt, weil es ein Mädchen geworden ist und Mädchen rosa Kleidchen tragen, immer lieb sind, gerade am Tisch sitzen und mit Barbies spielen. Normale Mädchen.

Ich saß also in meinem Körbchen, wurde gefüttert, ließ mich von den Nachbarn verhätscheln und wartete darauf, dass endlich mein Bruder zur Welt kam, weil es mit den Alten etwas öde war.

Puh, das waren die längsten 22Monate meines Lebens.

Doch dann war er endlich da. Jung, schön, perfekter Hinterkopf und alle liebten ihn. Er war Mein! Ich ließ ihn nicht mehr aus den Augen, er war so schön, so klein, so blöd, so neu auf der Welt und er roch so gut.

ER WAR MIR – wie der Rheinländer grammatikalisch korrekt zu sagen pflegt.

Irgendwann, als meine Eltern ihn frei ließen, wohnten wir in einem Zimmer und hatten ein Doppelstockbettiges Boot. Es war herrlich, schließlich musste er als Jüngster im unteren Abteil schlafen und ich war der Kapitän! Aber mit meinem zusätzlichen Y-Chromosom war ich ja schließlich auch mehr als qualifiziert.

Wir durchsegelten die Weltmeere, überfielen Piraten, strandeten auf einsamen Inseln und erlebten Abenteuerliches. Ich glaube sowohl LOST als auch „Fluch der Karibik“ wurden nach unserem Vorbild gedreht.

Wir hatten aber auch Freunde. Alles Jungs. Das war etwas ärgerlich, da ich durch meinen erhöhten X-Chromosom-anteil und diesen auffallend mädchenhaften rosa Kleidchen, in die mich meine Eltern stopften, immer die Mutter beim Vater-Mutter-Kind Spiel sein musste.

Im Nachhinein finde ich es allerdings nicht mehr so schlimm, denn immerhin war ich so nicht das Kind!  Das 7jährige Kind eines 5-jährigen zu sein ist bestimmt kein Spaß. Ich war also die Mutter… Mutter und Bestimmerin.

Bestimmerin zu sein liegt nicht so sehr in meinem Naturell, aber ich musste. Es war ja für die Familie. Wir, Vater 8, Mutter 7 und die Kinder 5 und 5, nicht verzwillingt oder sonstwie verwandt, brauchten ja jemanden, der aus Kompost und den wunderschönen Zierpflanzen, dem ganzen Stolz unserer Eltern, essen kocht.

Ich bestimmte also, dass es Spaghetti Bolognese gab. Spaghetti Bolognese aus Gras und den wunderschönen roten Rosen. Wir aßen aus fiktiven Tellern mit fiktiven Gabeln, hatten fiktive Gläschen aus denen wir, die Eltern, fiktives Bier tranken und die Kleinen eine Vanillemilch. Es war köstlich!

So Familienlebten wir täglich fröhlich vor uns hin, bis etwas total unsinniges im Fernsehen kam und der Vater und ich uns scheiden lassen mussten. Sohn 2 nahm er mit.

Am nächsten Tag waren wir dann wieder verheiratet. Wir sahen das nicht so eng, brauchten weder Pfarrer noch Scheidungsanwälte, ein einfaches „spielen wir VaterMutterKind?“ genügte um wieder eine glückliche Ehe zu führen.

Eines Tages ereignete es sich, dass ich meinem Mann das Bestimmer-Zepter übergab, um einen Familienausflug zu planen. Wir wanderten fröhlich 250m in die weite Welt hinaus um Kastanien zu sammeln.

Als alle Kastanien vom Boden gesammelt waren und wir uns nach ganz unfiktiver Verköstigung ausgewundert hatten, warum denn Rehe so etwas ekliges wie Kastanien überhaupt essen, stieg mein ‚Mann‘ in den Baum um weitere Kastanien aus den Ästen zu schütteln. Er rüttelte und schüttelte was das Zeug hielt und die Mannes-Kraft eines 8-jährigen so zuließ.

Nach all der Anstrengung musste er pullern.

Die Kastanie war dicht beblättert, so vernahmen wir zuerst nur das Geräusch und ein leises Kichern. Alle waren hellauf begeistert, auf was für tolle Ideen der Vater so kam und da Eltern Vorbild sind, stiegen unsere 5-jährigen Nichtzwillinge ebenfalls hinauf um von hoch oben die Wiese zu wässern.

Nun war Mutter dran, deren zusätzliches Y-Chromosom sie daran hinderte an Etikette in rosa Kleidchen zu denken und die ihren Männern in nichts nachstehen wollte.

Es wäre auch alles gut gegangen, denn der Winkel um an den Rüschen-söckchen vorbei zu zielen war exakt berechnet, kämen nicht genau in diesem Moment Nachbarn vorbei.

„Wie liebenswert diese kleinen Lausbuben, sie pinkeln von der Kastanie!“

„Wie furchtbar, wie unerzogen, das Mädchen pinkelt von der Kastanie!!!“

Wochen lang mussten sich meine Eltern nun anhören, wie misraten ich sei und zustimmend nicken, während sie sich beim Umdrehen schon wieder fröhliche Blicke zuwarfen und stolz darauf waren, dass ihr Mädchen die anatomische Benachteiligung beim ‚imStehenpinkeln‘ durch mathematisches Geschick ausglich und dank exakter Winkelberechnung weder Rüschensöckchen noch Schühchen traf.

So lebten wir vor uns hin. Meine Eltern wahrten ihr Gesicht indem sie Bestürzung vorgaben, wenn sie jemand auf ihr ungezogenes Gör ansprach und ich konnte dennoch die Bedürfnisse, die mein Y-Chromosom vorgab, stillen.

Bis zum Frühjahr 1993… da brauchte ich göttliche Hilfe.

Jeden Abend lag ich im Bett und betete. „Lieber Gott, bitte schenk mir noch keine Brüste. Es wird bald Sommer und ich kann dann nicht oben ohne rumlaufen!“ Gott erhörte mich, ich war den Sommer über flach wie ein Brett.

Gott erhörte mich etwas zu lange.

Auch ein Jahr später war da… nix. Langsam machte sich eine leichte Panik breit.

Ich rutschte auf Knien, revidierte was ich im Sommer zuvor in die Luft sprach und flehte ihn an.

Gott hatte ein Einsehen. 3-Chromosomen-Girl bekam Brüste!

Ich ließ mir die Haare wachsen und kaschierte die genetische Anomalie gekonnt. Anfänglich zwar noch mit einem Wattezusatz im BH, aber es wirkte täuschend echt, wie mein Y-Chromosom mir bestätigte. Meine Mutter ließ sich zwar nicht so täuschen, aber das war uns egal.

Ich lernte damit umzugehen, weniger die Nachbarn zu verschrecken und öfter das rosa-Kleidchen-Mädchen zu geben, auch wenn dieses Verhalten eher in Docs und Army-Jacke stattfand.

Ich begann mich für Jungs zu interessieren und wenn mich einer nicht wollte, dann schlug ich eben direkt zu, statt später bei Herzschmerzsongs zu heulen.

Ich fand Freundinnen, mit denen ich mich beim gegenseitigen Fingernägel lackieren langweilen konnte und reihte mich brav mit ihnen in die Warteschlange vorm Frauenklo ein, auch wenn ich eigentlich ein Recht auf den schnellen Weg übers Männerklo hatte.

Mit 3 Chromosomen zu leben bedeutet manchmal Verzicht, aber wenn man damit umzugehen lernt, lebt es sich wirklich hervorragend. Das möchte ich auch irgendwann einmal weitergeben, denn ich bin mir sicher, ich werde mal ein guter Vater.

***

Und hier das ganze nochmals zum nachhören und -sehen:
http://www.youtube.com/watch?v=dPWikONErBo&feature=related

(Ich selbst langweilte das Publikum an diesem Abend übrigens mit zwei zweifelhaften Geschichten aus dem Darkroom und aus der Bahnhofshalle.)

 

 

Rosenkrieg!

Gestern war ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Poetry-Slam-Lesung. Die Veranstaltung heißt „Rosenkrieg“ und läuft jeweils am letzten Sonntag jedes Monats im NYX in der Bonner Altstadt (ja ja, ich weiß, eigentlich „Innere Nordstadt“!), die „Macher“ des Rosenkriegs sind Florian Müller und ein gewisser Florian H. H. Graf von Hinten, weitere Details dazu gibt es hier.

Die Zahl der Zuhörer war eher überschaubar, und es traten nur vier Schreiberlinge gegeneinander an (deren Namen ich mir leider nicht gemerkt habe), sonst sollen es wohl mehr sein; dennoch oder vielleicht gerade deshalb war es ein sehr unterhaltsamer Abend. Gelesen (bzw. in einem Fall auswendig vorgetragen) wurde in drei Runden, erste und zweite Runde jeweils alle vier, dritte Runde die beiden Poeten, die zuvor vom Publikum die meisten Rosen erhalten hatten; eingeleitet wurde jede Runde durch jeweils einen außer Konkurrenz gelesenen Text der beiden Florians. Das mit den Rosen geht so: nach jeder Runde geben die Zuhörer durch Heben langstieliger Rosen zu erkennen, welche Texte ihnen gefallen haben, nach der dritten Runde wirft man die Rose dann seinem Favoriten auf die Bühne vor die Füße; wer am Ende den dicksten Rosenstrauß aufweisen kann, hat gewonnen, ganz einfach.

Es kam auch zu einem Zwischenfall, ich zitiere von der Rosenkrieg-Internetseite:
„Ferner gilt:
Jeder dessen Handy während der Veranstaltung klingelt wird umgehend verhaftet und auf die Bühne transportiert. Dort muß er ein von uns aus der Mundorgel ausgewähltes Lied vortragen!“

Diesen Satz hatte ein junger Mann aus dem Publikum offenbar nicht vorher gelesen oder nicht damit gerechnet, dass sie es damit ernst meinen, und das tun sie: Nachdem sein Handy piepte, fand er sich kurz darauf auf der Bühne wieder und durfte uns mit „Die Affen rasen durch den Wald“ erfreuen; na ja, früher in der CVJM-Jungschar haben wir es mit etwas mehr Elan intoniert, fast war ich versucht, auf die Bühne zu springen, dem armen Kerl die Mundorgel mit einem beherzten „Gib mal her“ zu entreißen und ihn somit von seinem Schicksal zu erlösen…

Am besten gefallen haben mir übrigens die Vorträge der beiden Florians, vor allem des Grafen, aber für die konnte man ja nicht stimmen.

Apropos stimmen: Bislang war ich Lesewettbewerben gegenüber immer sehr skeptisch; Schreiben ist meines Erachtens nichts, was sich besonders gut dazu eignet, Wettkämpfe zu gewinnen wie z. B. Kugelstoßen, dazu sind Texte einfach zu unterschiedlich und die Gut-Schlecht-Kriterien zu subjektiv. Das ist ja das angenehme beim „Jourfitz“ des @vergraemer, die Leute lesen dort aus Spaß an der Sache und nicht, um zu gewinnen. Nachdem ich jedoch gestern gesehen habe, wie locker-unverkrampft die Veranstaltung lief und wie viel Spaß auch dort die Vortragenden hatten, habe ich meine Meinung hierzu etwas gelockert.

Nun das für mich wesentliche: während der Vorträge spürte ich ein gewisses Kribbeln, selbst mal daran teilzunehmen und nicht nur im Publikum zu sitzen. Dass mir das Lesen von eigenen Texten vor Publikum großen Spaß macht, habe ich ja schon hier angedeutet, warum also nicht auch einmal „um die Wette“? Selbst wenn ich nach der ersten Runde raus sein sollte, die eine oder andere Rose bekomme ich vielleicht auch gehoben mit meinen textuellen Ergüssen… (ich hoffe nun auf viele Kommentare im Sinne von „klar schaffst du das“). Ja, ich bin versucht, mich für den nächsten Rosenkrieg am 23. Januar anzumelden. Soll ich…?

Twitter-Thriller

Ein nicht näher bezeichneter Twitter-Nutzer versteht es, seine Leser mit unvergleichlicher Spannung in Atem zu halten. Lesen Sie selbst:

Ich bin jetzt Abendbrot essen.
vor 38 Minuten via web

Ich ware vorhin weg. Jetzt bin ich wieder da.
vor 43 Minuten via web

Die Arbeit war super.
vor ungefähr 3 Stunden via web

Tach da bin ich wieder.
vor ungefähr 3 Stunden via web

Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht bis Morgen.
vor ungefähr 22 Stunden via web

Ich zocke jetzt XBox 360.
vor ungefähr 23 Stunden via web

Ich esse jetzt Abendbrot.
vor ungefähr 24 Stunden via web

Und es schneid schon wieder.
7:31 PM Dec 13th via web

So ich bin wieder da.
7:31 PM Dec 13th via web

Ich muss weg. Bis später.
5:28 PM Dec 13th via web

Die Arbeit hat Spaß gemacht.
5:25 PM Dec 13th via web

Nabend da bin ich wieder.
5:24 PM Dec 13th via web

Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht bis Morgen.
9:41 PM Dec 12th via web

Morgen muss ich wieder Arbeiten.
9:40 PM Dec 12th via web

Jörgen und ich zocken jetzt XBox 360. Das Game GTA 4.
9:00 PM Dec 12th via web

Ich höre gerade Musik.
8:47 PM Dec 12th via web

Ich bin jetzt Abendbrot essen.
8:12 PM Dec 12th via web

Ich gucke gerade TV.
7:52 PM Dec 12th via web

Ich Telefoniere gerade mit einem Kumpel.
7:24 PM Dec 12th via web

heute Mittag ware aufen Geburtstag.
7:16 PM Dec 12th via web

Immerhin hat er es damit schon auf über 200 Follower gebracht. Respekt!

Schmerzwach: Pimmel zeigen

Hier nun wieder ein Text aus dem Blog von Jannis. Ich weiß nicht, wie viel davon Dichtung und wie viel Wahrheit ist, auf jeden Fall äußerst witzig. Viel Vergnügen!

Pimmel zeigen

Meine Mutter glaubt, dass ich verrückt bin. Verrückt. Ich weiß gar nicht, wie sie darauf kommt! Doch! Ich weiß es! Sie findet nicht gerade normal, dass ich….

…mit sechs eine ihrer Freundinnen auf den Mund küsste, als diese gerade ihre Kaffeetasse auf den Tisch gesetzt hatte. Meine Erzeugerin war zunächst perplex, entschuldigte sich dann tausend Mal für mein Verhalten, die Geküsste lachte und nahm mich in ihre Arme, allerdings entriss mich meine Alte daraus und brachte mich in mein Zimmer, während ich meiner Angebeteten einen Heiratsantrag zuschrie. Seitdem durfte ich an keinem der Kaffeekränzchen meiner Mutter teilnehmen.
…mit sieben jedem erzählte, dass ich nur noch ein halbes Jahr zu leben hätte, weil ich an einer unheilbaren Krankheit litte. Und mit jedem meine ich wirklich jeden. Wenn wir durch die Stadt bummelten, redete ich wildfremde Leute an, denen ich mein angebliches Todesschicksal aufzwang; meine Mutter schämte sich so sehr für mich, dass sie diese Ausflüge mit mir strich.
…mit neun behauptete, von Außerirdischen entführt worden zu sein, die mir ihr geheimes Wissen anvertraut hätten, damit ich die Welt retten könnte; ich gab ständig solche Weisheiten von mir wie: „Spucke drei Mal auf den Boden, bevor du durch ein Maisfeld gehst“ oder „Wer blaue Strümpfe trägt, sollte sich nicht darüber wundern, dass er beim Duschen nicht vollständig sauber wird“.
…mit elf nackt in unserem Reihenhausgarten lag, um mich zu sonnen. Die Nachbarn auf beiden Seiten schauten mich schräg an, schließlich war ich kein Kleinkind mehr, schon alt genug, um Scham zu besitzen. Als meine Mutter das sah, kam sie mit einer Badehose in den Händen aus dem Haus gerannt, die ich allerdings trotz ihrer Proteste und der von dem alten Knacker, der auf der rechten Seite neben uns wohnte, nicht anzog, stattdessen schlenderte ich frivol an unseren Zaun, der sehr niedrig war, stellte mich demonstrativ so davor, dass mein Pimmel über dem Zaun baumelte, steif wurde und ich onanierte auf das Grundstück des alten Sacks, der kurz vor dem Herzinfarkt stand, hechelte, schnaubte, meine Alte schmierte mir eine, zog mich ins Haus hinein; auch Sonnenbaden im Garten wurde mir verboten.
…mit zwölf in unseren Dorfpfarrer verliebt war, mit Freuden nicht nur jeden Sonntag in die Kirche ging, sondern in der ersten Reihe saß, diesen jungen Geistlichen anschmachtete, mich nach einer Predigt meldete und fragte, wie man Pfarrer werden könne. Erfreut sagte er mir es und bot mir an, mir nach dem Gottesdienst etwas über das Studium zu erzählen. Als wir in seinem Zimmer saßen, eröffnete ich ihm meine Liebe zu ihm, fragte ihn, ob ich ihn in vier oder fünf Jahren heiraten könne, das sei mein größter Wunsch. Erschrocken fragte er mich, ob ich ihn zum Narren halten wolle und ich sagte: „Nein, ich meine das wirklich so.“ Und danach meinte ich lässig: „Du kannst mir deinen Pimmel in meinen Popo stecken und ich mache das dann bei dir auch.“ Völlig errötet zerrte er mich sofort aus dem Zimmer, brachte mich nach Hause und erzählte meinen Eltern alles; ich durfte nie wieder in die Kirche mit.
…mit vierzehn mich angeblich umbringen wollte, was allerdings gar nicht der Wahrheit entspricht, da ich lediglich auf unserem Balkon im ersten Stock stand, weil ich darauf balancieren wollte. Ich meine, wenn ich mich selbst um die Ecke hätte bringen wollen, dann wäre ich doch von einem Hochhaus hinuntergestürzt.
…mit sechzehn meine Haare abrasiert habe, nur noch braune Gewänder anzog und den ganzen Tag vor mich hin meditierte; ich wollte ein perfekter Buddhist werden und das Nirwana so bald als möglich finden.
…mit achtzehn Jahren von einer Studienfahrt in London heimgeschickt wurde, weil ich meine Englisch-Lehrerin angeblich auf mieseste Weise sexuell belästigt hätte. Da war ich gerade dabei, Tim einen zu blasen, wir beide dementsprechend nackt und erregt, es klopft jemand an die Tür, ich sage: „Sind gerade voll beschäftigt.“ Die Antwort lautet: „Beeilt euch mal, wir müssen los, das Musical fängt gleich an, auf, eins, zwei, drei, macht mal.“ Ich sage: „Wenn Sie reinkommen, geht’s schneller.“ Während sie die Tür öffnet, ins Zimmer tritt, holt mir Tim einen runter und ich sage: „Wenn Sie mitmachen ist es noch geiler und erregender und ich komme schneller.“ Sie rannte schnurstracks aus dem Zimmer, verbannte mich am gleichen Abend zurück nach Deutschland.
…mit zwanzig vom Zivildienst suspendiert wurde, weil ich mir aus Versehen eine E in mein Maul stopfte, anstatt einer Kopfschmerztablette und dann hohldrehte, ich schob einen Behinderten im Rollstuhl, es ging ein wenig bergab und ich begann schneller zu werden, immer schneller, plötzlich rannte ich wie ein Irrer, konnte nicht mehr stoppen, was ja nicht so schlimm gewesen wäre, wenn mir die Rollstuhlgriffe nicht aus den Händen geglitten wären und der gute Behinderte schmerzhafterweise einen Crash mit einer Laterne gehabt hätte.
…mit zweiundzwanzig aus einem Seminar geflogen bin, weil ich – zugekifft wie ich war – von Peace, Love and Happiness träumend meine Professorin angelächelt und ihr gesagt hatte, dass sie Humanbiologie auch interessanter gestalten könnte, wir zwei könnten uns ja ausziehen und Sexualkunde plastisch darstellen, ich sei sowieso schon längst spitz auf sie.
…mit dreiundzwanzig als Stripper durch das Land zog, um mir mein Studium zu verdienen, allerdings nicht lange, denn ich ging meinen Chefs zu weit, was das Ausziehen und Erotisieren des Publikums betraf, ich zog zum Beispiel einmal einen Schwulen ganz aus, tanzte um ihn herum, er bekam einen Steifen, genauso wie ich, was sich durch meinen Slip abzeichnete, er zog ihn mir erregt herunter und begann meinen Pimmel zu lutschen, was die Veranstalter noch gestatteten, mich aber nie wieder irgendwo auftreten ließen. Doch ein Pornofilm-Produzent entdeckte mich bei dieser Gelegenheit und ich drehte einige Streifen, bis mich das annervte.

Tja, meine Mutter fände da sicherlich noch sehr viel mehr Gründe, die gegen meine Zurechnungsfähigkeit sprechen, aber wen interessiert das?

Quelle: http://schmerzwach.blogspot.com/2010/03/pimmel-zeigen.html

Quallenwanderung

Die Idee für nachfolgenden Text kam mir des Nachts zwischen eins und drei, als ich nicht einschlafen konnte, wobei unklar bleibt, was Ursache und was Wirkung war. Ich versichere jedoch, dass bei der Entstehung des Textes psychoaktive Substanzen keine Rolle gespielt haben.

Traten Quallenplagen in früheren Zeiten vor allem in Küstenregionen auf, so weitet sich das gehäufte Auftreten der schleimigen Zeitgenossen zunehmend auch auf innere Landesteile aus; Experten vermuten den Klimawandel und die zunehmende Verschmutzung der Meere als wesentliche Ursache hierfür. Für ihre Wanderung machen sich die Tiere hauptsächlich die Infrastruktur der Kanalisation zu nutze; mir selbst ist es bereits passiert, dass bei der morgendlichen Darmentleerung statt des gewohnten „Platsch“ ein gedämpftes „Pitsch“ meine Aufmerksamkeit nach unten lenkte, wer kennt es nicht, dieses Geräusch, wenn Kot auf Qualle fällt. Nur durch beherzte sofortige Betätigung der Spülung konnte ich schlimmeres verhindern.

Nicht unterschätzt werden darf die Gefahr für den Straßenverkehr. Stellt eine einzelne Qualle – abgesehen von der Schrecksekunde – noch keine ernste Gefährdung für Mensch und Maschine dar, lässt sie sich nach dem Auftreffen doch problemlos mit dem Scheibenwischer beseitigen, so ist das Gefahrenpotenzial größerer Gruppierungen erheblich, vor allem bei Dunkelheit. Erst kürzlich wieder geriet ein Autofahrer im Kreis Göttingen auf der Landstraße zwischen Kleinwiershausen und Settmarshausen in eine plötzlich aufgetretene Quallenbank, welche die Straße in eine Rutschbahn verwandelt hatte, sein Fahrzeug kam von der Straße ab und wurde erheblich beschädigt, zum Glück blieb es beim Blechschaden. Daher kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden: runter vom Gas, wenn das Verkehrszeichen 143q „Quallenwechsel“ und Hinweisschilder „Quallenwanderung“ aufgestellt sind.

Folie1

Doch darf man nicht verkennen, dass die Qualle auch ein nützliches und durchaus liebenswertes Wesen ist. Die letzte Qualle, die den Weg in die Kanalisation meiner Wohnung fand, eine Nordsee-Feuerqualle mit sehr schöner Zeichnung, spülte ich nicht achtlos weg, sondern gab ihr ein neues Zuhause in einem geräumigen Goldfischglas. Dort hielt sie es jedoch nicht lange aus und ließ nichts unversucht, das Glas zu verlassen und sich im Haushalt nützlich zu machen. Obgleich ihr Geschlecht nicht eindeutig zu bestimmen war, gab ich ihr den Namen Kalle*. Während sich Quallen in ihrem angestammten Lebensraum überwiegend von Plankton und Kleinlebewesen ernähren, bevorzugen die Landgänger Kerbtiere und Bodenbewohner aller Art. Seit Kalle bei uns wohnt, schwirren keine Fruchtfliegen mehr über der Obstschüssel, und Stechmücken im Schlafzimmer gehören der Vergangenheit an. Apropos Schlafzimmer: so sehr man seinen neuen Hausgenossen auch lieb gewonnen hat, eine Qualle gehört nicht ins Bett!

Kalle ist ein sehr geselliges und gelehriges Tier. Beschränkte er sich anfangs darauf, mit seinen brennenden Tentakeln den Nachbarhund zu ärgern, der unser Grundstück seitdem nicht mehr betreten hat, zeigt er sich inzwischen auch uns Menschen gegenüber sehr anhänglich. Es hat zwar etwas gedauert, bis wir ihm beigebracht haben, zur Begrüßung nicht die Tentakeln um unseren Hals zu legen, aber seitdem möchten wir ihn nicht mehr missen. Auch Feuergeben klappt inzwischen tadellos: sobald ich mir eine Zigarette in den Mund stecke, kommt Kalle und zündet sie an, mit Streichholz und Reibefläche ist er schon sehr geschickt, Feuerzeug übt er noch. Nachahmern sei dringend empfohlen, sämtliche Zündwaren gut zu verschließen, wenn Sie das Haus verlassen, da sonst unliebsame Überraschungen nicht ganz ausgeschlossen werden können.

Längst hat auch die gehobene Küche die kulinarischen Vorzüge der Qualle entdeckt. Ursprünglich ein Arme-Leute-Essen aus der Provence, gilt Confit de Médusé inzwischen als Delikatesse, und die Zubereitung ist denkbar einfach. Für sechs Personen benötigt man

1000 ml Wasser
3-4 Lorbeerblätter
5 Knoblauchzehen
10 Gramm Salz
eine Prise Pfeffer
frischen Thymian
frischen Rosmarin
Muskatnuss
50 Gramm Weizenmehl
eine Platte Gelantine
je nach Geschmack 25 – 50 ml trockenen Weißwein
zwei frische Quallen

Übrigens ist nahezu jede Qualle geeignet, bei der Zubereitung Spanischer Geleeren und ähnlich aggressiver Arten rate ich jedoch dringend zur Verwendung von Schutzhandschuhen. Auf südfranzösischen Wochenmärkten gehören Quallen schon seit vielen Jahren zum Standardangebot, hier bei uns ist man noch darauf angewiesen, was die Natur bzw. die Kanalisation bietet, im zweiteren Fall empfiehlt sich vor der Zubereitung eine gründliche Reinigung. Gut sortierte Lebensmittelmärkte bei uns bieten seit einiger Zeit Quallenmark aus der Dose an, von der Verwendung rate ich jedoch wegen der enthaltenen Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker ab.

Nun zur Zubereitung des Confit de Médusé:

Das Wasser aufkochen lassen, Lorbeerblätter, Knoblauch (unzerkleinert), Salz, Pfeffer und ca. ein Gramm geriebene Muskatnuss hinzu geben, die Menge des Thymians und des Rosmarins ist beliebig und ist eine Frage Ihres persönlichen Geschmacks. Das ganze etwa eine Stunde bei kleiner Flamme köcheln lassen, zwischendurch immer mal wieder umrühren. Nach einer Stunde den Sud vom Herd nehmen, durch ein Sieb streichen, die Gelatine hinzufügen, gut umrühren, Weißwein hinzugeben und das ganze erkalten lassen.

Da die Innereien einer Qualle, insbesondere die Tentakeln, aufgrund der darin enthaltenen Bitterstoffe für den Menschen ungenießbar sind, entfernt man diese; die übrig bleibende Galertglocke lässt sich jedoch bedenkenlos verwenden und gilt als äußerst vitaminreich. Diese legt man in einen Bräter, bestreut sie reichlich mit Mehl und schiebt sie bei 150 Grad in den vorgeheizten Backofen. Wegen der Geruchsentwicklung während des Backvorganges sollte die Dunstabzugshaube derweil auf höchster Stufe laufen. Die Backzeit beträgt eine Stunde, das Ergebnis ist geruchs- und geschmacksneutral und lässt sich bedenkenlos über den Hausmüll entsorgen.

Das erkaltete und gefestigte Confit in Scheiben schneiden, auf Schwarzbrot ist es eine Köstlichkeit gerade an kalten Tagen.

Apropos kalte Tage: Während sich die Landquallen anfangs regelmäßig gegen Herbst zurückzogen in wärmere Gefilde, wird zunehmend beobachtet, dass einzelne Exemplare bleiben wo sie sind, so wurden im Januar schon Quallen in Koblenz-Lützel, Dingolfing, Neustadt (Wied), Bielefeld-Großdornberg, Papenburg und Dortmund-Hörde gesichtet; Experten gehen inzwischen davon aus, dass künftig aufgrund der zunehmend milderen Winter immer mehr Quallen den mühsamen und gefährlichen Weg in den Süden meiden und und die kalte Jahreszeit in hiesigen Gefilden fristen werden. Die Tierfutterindustrie hat bereits reagiert, mittlerweile sind in einschlägigen Fachgeschäften Quallenknödel** erhältlich, die bei anhaltenden Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bzw. geschlossener Schneedecke ausgelegt und -gehängt werden können, um den wässrigen Gesellen das Überleben zu erleichtern.

* Anmerkung des Verfassers: Jegliche Verbindung zu tatsächlich lebenden Personen dieses Namens weise ich entschieden von mir.
** Bereits Anfang der 1980er Jahre verwendete der großartige Loriot diesen Begriff, wenn auch freilich noch ins grostesk-lächerliche ziehend. Ähnlich dem Begriff „Migrationshintergrund“ wird der Quallenknödel schon sehr bald aus dem deutschen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken sein und bei einem bekannten namhaften Buchstabenlegespiel mit einer hohen Punktzahl belohnt werden.

Gedanken über die Sprache

Die Sprache ist etwas wunderbares, ermöglicht sie uns doch in unvergleichlicher Weise durch Aneinanderreihung mannigfaltigster Wörter eine Art der Kommunikation, von der andere Spezies, zum Beispiel der gemeine Grottenolm, nur träumen können (so fern Grottenolme überhaupt träumen, ist das mal untersucht worden, wenn ja, warum?). Ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, die Sprache ist eine Grundfeste der menschlichen Intelligenz, auch wenn das bei der Betrachtung von „Bauer sucht Frau“, „Deutschland sucht den Superstar“ und ähnlicher zivilisatorischer Randerscheinungen nicht auf Anhieb deutlich wird; ohne unsere Sprache säßen wir vermutlich noch auf Bäumen und hätten weder das Rad noch den Laubbläser erfunden.

Damit nicht genug: aus Sprache lassen sich ausgezeichnete Kunstwerke erschaffen, man denke nur an Goethe, Thomas Mann, Wilhelm Busch, Heinz Erhard und Mario Barth (finde den Fehler, Anm. d. Red.); nicht selten bietet das geschriebene wie gesprochene Wort kulturelle Hochgenüsse ähnlich einer Sinfonie oder Marianne Rosenberg.

So weit so gut.

Doch kann die Sprache statt des vorgenannten Genusses auch eine Belästigung darstellen. Beim Geschriebenen bewegt sich diese zumeist noch in erträglichen Grenzen: Nehmen Sie diesen Text, Sie können ihn getrost ignorieren, womit sich die Belästigung, welche von ihm ausgeht, minimiert. Anders hingegen die Sprache in ihrer ursprünglichen Form des gesprochenen Wortes, welches stets mit einer Geräuschentwicklung einher geht, der kaum zu entkommen ist.

Morgens in der Bahn: Mit einer der Tageszeit angemessenen Übellaunigkeit finde ich einen freien Sitzplatz und packe mein Buch aus, um nicht die Gesichter der Mitreisenden betrachten zu müssen. Nächste Haltestelle: Hauptbahnhof. Hier fallen sie ein, die Bahn wird zum Bersten voll, mir gegenüber nehmen zwei Personen Platz, ein Mann im Anzug und eine Frau im Kostüm, offenbar Kollegen, und nehmen sogleich das Gespräch auf über das Projekt, Zeitplan, Performance, Ressourcen, sich gegenseitig immer wieder mit „Okay“ und ähnlichem Verbalunrat bestätigend. Das ist schlimm.

Schlimmer ist, wenn statt der beiden unbekannten Personen plötzlich meine Kollegin Christine gegenübersitzt und das Gespräch sucht, und zwar mit mir. Damit kein Missverständnis entsteht: ich mag Christine sehr, sie ist ein herzensguter Mensch, sympathisch, stets gut gelaunt. Und genau das ist das Problem: ihre stets gute Laune bricht sich Bahn in zahlreichen Worten, welche sie ohne Rücksicht auf meine morgendliche Befindlichkeit auf mich niederprasseln lässt, und da ich ein höflicher Mensch bin, kann ich den verbalen Niederschlag nicht völlig unbeantwortet vorüberziehen lassen, wenigstens ein gelegentliches „Ja…“ oder „Hm…“ muss ich ihr schon gönnen, auch wenn mich um diese Zeit weder berufliche Dinge noch ihre Katze interessieren.

Ein weiterer Ort sprachlicher Belästigung ist der Aufzug. Da ich in einem Hochhaus arbeite, kann ich dem nicht entgehen. Die schlimmsten Zeitgenossen sind die, die meinen, im Aufzug witzig sein zu müssen, können sie sich doch ihres Publikums sicher sein, niemand kann der Kabine vorzeitig entkommen. So ringt man sich ein gequältes Lächeln ab und steigt bei nächster Gelegenheit aus, Treppensteigen soll ja angeblich gesund sein. Ich wünsche mir in Aufzügen eine Automatik, die augenblicklich ohrenbetäubende Rockmusik in Gang setzt, sobald jemand auch nur den Mund aufmacht.

Das alles ist natürlich nichts gegen Menschen, die gar kein Gegenüber aus Fleisch und Blut benötigen, um zu sprechen; die Mobiltelefonie macht es ihnen möglich, einen ganzen Eisenbahnwaggon zu unterhalten durch ein Gespräch mit einer Person, die sich gerade in einem anderen Erdteil befindet. Ein solcher Mensch ist unser Nachbar: auch bei geschlossenen Fenstern hört man ihn schon von weitem kommen, wenn er in die Straße einbiegt, sich dem Haus nähert, die Treppe im Hausflur hochgeht; man hört ihn noch plappern, wenn er längst seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hat. Ich glaube, er kann nichts dafür, es ist einfach sein Schicksal, stets von einer Klangwolke umgeben zu sein.

Da sich die oben genannte Rockmusik-Automatik in Aufzügen wohl nicht durchsetzten wird, schlage ich eine andere Lösung vor: ein generelles Redeverbot an Orten, wo andere Menschen unschuldig gezwungen sind, mitzuhören, wie eben Busse, Bahnen und Aufzüge. Neben den bereits vorhandenen Verbotsschildern für den Verzehr von Speiseeis oder die Benutzung im Brandfalle könnte ein Symbol nach folgendem Muster die gesetzlich verankerte Sprachlosigkeit durchzusetzen helfen:

sprechverbot

Ich erkläre mich hiermit bereit, meine Designrechte an dem Symbol den maßgeblichen gesetzgebenden Stellen gegen ein geringes Honorar zur Verfügung zu stellen.

Besuch

(Aktualisiert 21.8.2010)

„Besuch ist etwas wunderbares, zum einen wenn er kommt, zum anderen, wenn er wieder geht.“ Ich weiß nicht, von wem dieser kluge Satz stammt, jedenfalls birgt er viel Wahrheit in sich, vor allem der zweite Teilsatz. Sagen Sie es bitte nicht weiter, aber im Grunde meines Herzens mag ich keinen Besuch, weder in aktiver noch in passiver Form, sprich, weder nehme ich anderer Leute Gastfreundschaft gerne länger in Anspruch, noch verfüge ich selbst über eine ausgeprägte solche.

Im Gegensatz zu meinem Nachbarn, der augenscheinlich an Einsamkeit verdorrte, hätte er nicht fast allabendlich Gäste um sich, genieße ich die Ungestörtheit innerhalb der eigenen vier Wände außerordentlich. Der eigene Kühlschrank, das eigene Bett, das eigene Klo; zudem niemand, den ich mit Speisen und Getränken versorgen oder mit dem ich Konversation halten muss zu Themen, die mich, sagen wir mal, nur mittelbar interessieren (Fußball, Haustiere, sein neues Auto, um nur einige zu nennen).

Dabei haben aktive Besuche gegenüber passiven einen Vorteil: Man kann gehen, wenn es reicht, meistens jedenfalls, wohingegen man dem Sitz- oder (je nach Anlass) Liegefleisch seines Gastes oft machtlos gegenüber steht / sitzt / liegt, so sehr man auch gähnt oder auffällig-unauffällig auf die Uhr schaut, woraus dann folgender Dialog erwachsen kann:

Ich: (auf die Uhr schauend, gähnend)
Gast: Musst du morgen früh raus?
Ich: Ja, gegen sechs.
Gast: hm… (eine bequemere Sitzposition einnehmend)
Ich: Noch ein Bier?
Gast: Gerne, eins geht wohl noch.
Ich: (siehe oben)

Besonders unlieb sind mir Übernachtungsbesuche: Als Gast kann ich eben nicht gehen, wenn es an der Zeit ist, gegen fremde Betten und Bäder habe ich eine natürliche Abneigung, und ich weiß nie, wie ich mich morgens verhalten soll, wenn ich schon wach bin und aufstehen möchte, vom Gastgeber aber noch kein Mucks zu vernehmen ist. – Schlimmer noch in der Rolle des Gastgebers: meine ganze Aufmerksamkeit muss ich anderen Menschen widmen, die sich in meiner Wohnung aufhalten und die meinen gewohnten Tages- und Nachtablauf durcheinander bringen.

Eine besonders perfide Erscheinung häuslicher Störung stellt der spontane, nicht angekündigte Besuch dar. Sonntagnachmittag, draußen ist es kalt, den ganzen Tag schon regnet es, die Stube ist warm, du hast es dir mit einem Buch oder einer DVD gemütlich gemacht, dazu eine Kanne Tee, alles ist gut. So lange, bis das Telefon klingelt und du den Fehler machst, dranzugehen. „Ich bin‘s, wollte nur hören ob du zu Hause bist, wir sind gerade in der Nähe und wollten fragen, ob wir gleich mal auf einen Sprung vorbeikommen können, in zehn Minuten sind wir da.“ Ehe du antworten oder gar protestieren kannst, ist das Gespräch beendet, keine fünf Minuten später klingelt es an der Tür, vor die steht dein Bruder nebst Gattin und den lieben Kleinen, zwei an der Zahl. Vielleicht rufen sie auch gar nicht erst an, sondern klingeln direkt, was du nicht ignorieren kannst, da sie längst das Licht in deiner Wohnung gesehen haben. Freude beteuernd legst du das Buch weg oder schaltest den Fernseher aus („Wir stören doch hoffentlich nicht?“ – „Aber nein, gar nicht…“) und widmest dich voll und ganz deinen lieben Gästen; das machst du so gut, dass sich der angekündigte „Sprung“ zu einem abendfüllenden Programm dehnt, so lange, bis die lieben Kleinen endlich müde und quengelig werden.

Nicht ohne Grund sind die Begriffe „Besuch“ und „Heimsuchung“ miteinander verwandt. Auch eine gewisse klangliche Ähnlichkeit zwischen „Besuch“ und „Vesuv“ ist nicht zu übersehen, überrollte dieser Vulkan doch im Jahre 79 nach Christi die Stadt Pompeji mit der Gewalt eines unangekündigten Verwandtschaftsbesuchs, der einem den Kühlschrank leer und die Haare vom Kopf frisst.

Sollten Sie einmal in der Nähe sein, scheuen Sie sich nicht, bei mir vorbeizuschauen. Nur anklingeln muss nicht unbedingt sein.