Verschlusssache

Es gibt wieder Grund zur Empörung, vermutlich sind die Grünen schuld oder die Bürokraten in Brüssel. Nein, keine neuen Vorgaben, wie man sein Haus zu beheizen hat. Auch werden Gendersterne nicht verbindlich eingeführt, und auf deutschen Autobahnen darf weiterhin ungehemmt gerast werden. Gegenstand des Anstoßes sind die Plastikverschlüsse von Einwegflaschen und Getränkepackungen, die nun gemäß einer neuen Vorschrift über eine Lasche fest mit dem Behältnis verbunden sein müssen und sich ohne Gewalt oder technische Hilfsmittel nicht mehr ablösen lassen. Zweck der Verordnung soll die Vermeidung von Plastikmüll in den Meeren sein. Ob es nützt, ich weiß es nicht; ob die Flaschen nun fest verbunden mit den Verschlüssen auf den Wellen tanzen oder davon separiert, ist kein großer Unterschied. Zudem dürften deutsche Flaschen nur selten den Weg ins Meer finden, das verhindert schon das hohe Pfand. Nicht alles ist schlecht.

Jedenfalls ist die öffentliche Erregung groß, in Leserbriefen und den asozialen Hetzwerken wird gewettert: Gibt es keine dringender zu lösenden Probleme? Das ist meine Flasche, damit mache ich, was ich will! Dazu Anleitungen, wie man die Kappe am besten wegbiegen muss oder ganz abtrennt, um sich beim Trinken aus der Flasche nicht am Auge zu verletzen oder beim Einschenken von Milch nicht den Tisch zu fluten. Es würde mich nicht wundern, wenn manche die Verschlüsse extra mit dem Seitenschneider abknipsen, sammeln und sie beim nächsten Urlaub auf Sylt oder Mallorca persönlich den Fluten überlassen, um es denen da oben mal richtig zu zeigen, aber so richtig!

Ich verstehe die Aufregung nicht. Meine erste Begegnung mit angeleinten Verschlusskappen von Mineralwasserflaschen hatte ich schon vor einigen Jahren in Frankreich, wo das anscheinend schon länger vorgeschrieben ist. Zunächst hielt ich es für einen Produktionsfehler, zog und zerrte an der Kappe, ehe ich erkannte, dass das wohl so sein musste. An den Meeresschutz dachte ich dabei nicht, überhaupt machte ich mir, wie so oft, keine größeren Gedanken über das Warum, bog die Kappe nach hinten, bis sie mit einem leisen Knacken einrastete und es so ermöglichte, mich ohne nennenswerte Augenverletzung und sonstige Beeinträchtigungen am Nass zu erquicken.

Nun sind die Franzosen nicht gerade für ihre ausgeprägte Obrigkeitshörigkeit berühmt, vielmehr reagieren sie gerne lautstark und heftig schon auf die kleinste staatlich verordnete restriction. Doch wurde meines Wissens wegen der angebundenen Verschlüsse keine Guillotine aus dem Heimatmuseum gerollt, keine Plastikflaschenhalden vor dem Élysée-Palast abgekippt und in Brand gesetzt, auch die gelben Westen blieben in den Schränken.

Ich glaube, einem Land, in dem angebundenen Drehverschlüssen derartige Aufmerksamkeit wie bei uns zuteil wird, geht es, trotz Klimawandel, zunehmender politischer Bräunung und der Auferstehung von Stefan Raab, noch ganz gut. Und solange sich Weinflaschen noch problemlos entkorken lassen, sehe ich keinen Grund zur Sorge. Santé!

Prognose

Neulich wachte ich nachts mal wieder ohne besonderen Grund auf und es dauerte einige Zeit, bis ich wieder einschlief. In solchen Wachphasen kommen manchmal Fragen, Ideen, Gedanken, wie dieser: Wie geht es mit der Menschheit weiter, was könnte sein in zehn, hundert, tausend, hunderttausend, eine Million Jahren? Vielleicht so:

In zehn Jahren wird sich nicht sehr viel geändert haben. Die Sommer sind noch etwas heißer, in einigen Regionen das Wasser knapper. Unser Konsum- und Reiseverhalten ändert sich dadurch nicht. An die ständigen Nachrichten über Dürren, Waldbrände, Unwetter und Überschwemmungen haben wir uns gewöhnt, wir akzeptieren sie als Preis für Wohlstand, Wachstum und unbegrenzte (Auto-)Mobilität.

Nach wie vor ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins, dem sich, trotz aller Bemühungen, die Innenstädte vom Autoverkehr zu befreien, alle anderen unterzuordnen haben, immerhin inzwischen überwiegend mit Elektroantrieb. Der Anteil der SUV hat sich weiter vergrößert. Der Umgang der Verkehrsteilnehmer untereinander ist noch rauer, vor allem Auto- gegen Radfahrer. Auf deutschen Autobahnen gibt es weiterhin kein Tempolimit. Das Autoposen mit knallenden Auspuffen ist strengstens verboten und wird hart bestraft. Immerhin.

Die Union regiert wieder, vielleicht heißt der Bundeskanzler Linnemann, vermutlich nicht Merz. Koalitionspartner sind die Grünen. Die AfD ist weiter erstarkt, auf Bundesebene will noch keine Partei mit ihr zusammenarbeiten. Anders in den Bundesländern: In Sachsen ist sie Koalitionspartner der CDU, in Thüringen stellt sie den Ministerpräsidenten.

Die Meinungsfreiheit ist weiterhin sichergestellt, doch wird die Empörung vor allem in den elektronischen Hetzwerken immer schriller, sobald jemand öffentlich eine von der Allgemeinheit abweichende Meinung äußert oder falsch, womöglich gar nicht gendert.

Auf CSD-Paraden kommt es zunehmend zu Anfeindungen und Gewalt, von rechten Gruppen wie von Islamisten.

Der Duden empfiehlt beim Gendern die Schreibweise mit Doppelpunkt.

Die Pünktlichkeit des Bahn-Fernverkehrs liegt im Jahresschnitt bei dreiundvierzig Prozent. Den Verkehrsminister stellt die CSU.

Die Rolling Stones veröffentlichen ein neues Album und gehen noch einmal auf Abschiedstournee.

In hundert Jahren wird Deutschland, wie die meisten europäischen Länder, von Rechtsautoritären regiert. Eine nennenswerte Opposition gibt es nicht, die Grünen sind verboten. Abweichende Meinungen von der offiziellen Linie und jede Kritik an Regierung und Präsidenten werden hart bestraft. Es kommt zu Inhaftierungen und Einweisungen in Umerziehungslager, aus denen viele nicht zurückkehren. Die Todesstrafe ist wieder eingeführt.

Immer mehr Regionen der Welt sind wegen hoher Temperaturen und Wassermangels dauerhaft unbewohnbar, immer mehr Menschen streben in Richtung Norden, wo es zu heftigen Konflikten und Verteilungskämpfen kommt. Deutschland hat seine Grenzen geschlossen, ein strenges Einwanderungsgesetz regelt, dass Zuwanderung nur noch unter bestimmten Voraussetzungen wie einer hohen Qualifikation, perfekten Deutschkenntnissen und passender Hautfarbe möglich ist. Das Recht auf Asyl ist aufgehoben, Abschiebungen sind jederzeit möglich.

Homosexualität ist verboten und führt zu Haftstrafen. Die Regenbogenflagge gilt als verfassungsfeindliches Symbol.

Strom und Wasser werden rationiert, immer wieder kommt es zu stundenlangen Stromausfällen, vor allem in den Armensiedlungen.

Die Rolling Stones geben ihr letztes Konzert.

In tausend Jahren ist die Zahl der Menschen drastisch gesunken, nachdem die Strom- und Wasserversorgung weltweit zusammengebrochen ist. Zudem sind Milliarden von Menschen im Dritten Weltkrieg und durch mehrere Pandemien umgekommen. Staatliche Strukturen, öffentliche Ordnung, Recht und Gesetz existieren nicht mehr, es gilt das Recht des Stärkeren. Was wir heute Zivilisation nennen, gibt es nicht mehr.

Weite Teile der Erde sind unbewohnbar, viele Gebiete und Regionen im Meer versunken. Häufige Unwetter mit Hagel, Tornados und Überschwemmungen setzen den verbliebenen Menschen zu, hinzu kommt eine erhebliche weltweite Rattenplage.

In hunderttausend Jahren ist der Mensch, bis auf ein paar indigene Völker in den wenigen verbliebenen Dschungelgebieten und Keith Richards, nahezu ausgestorben. Nach Ausbruch mehrerer Supervulkane wie den Phlegräischen Feldern bei Neapel und unter dem Yellowstone-Nationalpark war die Erde jahrelang in Dunkelheit gehüllt, was zu erheblichen Ernteausfällen führte.

In einer Million Jahren ist die Erde vollständig vom Menschen befreit, all seine Spuren, Städte, Straßen und Bauwerke sind verschwunden unter Wasser, Erdschichten und Eis. Nur ein paar Atommüllreste strahlen im Boden noch vor sich hin. Die Ratten und Keith Richards stört es nicht.

Woche 15: Eine Verantwortungsgemeinschaft hält das aus

Montag: Manche Sätze sind so abgenutzt, man mag sie nicht mehr hören. Ein solcher fiel morgens während der Zahnpflege im Radio, es ging um ein aktuelles Empörungsthema, vermutlich Corona und Schule, so genau höre ich da mittlerweile nicht mehr hin. Der Satz also: „Die Kinder leiden am meisten.“ Wie will denn so eine Radiotante beurteilen, wie sehr ich morgens leide?

Seit gestern eskalieren die Medien darüber, wer Kanzlerkandidat der Union wird, Laschet oder Söder, auch das mag man nicht mehr hören. Mögen CDU/CSU sich bitte bald entscheiden, und gut ist. Es ist doch ohnehin egal, welcher von beiden Ende September nicht zum Bundeskanzler gewählt wird.

Es freut mich sehr, mit Hans-Georg das 100. Folgeri‘ dieses Blogs begrüßen zu dürfen. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich den Blumenstrauß aus gegebenen Gründen nur virtuell überreichen kann.

Dienstag: Der Satz des Tages lautete „Je bullshit-in, desto schwieriger wird es“, gehört und notiert in einem Kick-off-meeting.

Seit Tagen, wenn nicht Wochen, wird in Presse, Funk und Fernsehen vor sogenannten Smishing-Nachrichten gewarnt – man bekommt eine Kurznachricht aufs Datengerät mit der Ankündigung, ein Paket sei auf dem Weg, für weitere Informationen öffne man den beigefügten Link. Man fragt sich, welches Trotteli‘ trotz unbekanntem Absender, Schreibfehlern in der Nachricht und Nichterwartung einer Lieferung darauf reinfällt. Seit heute kenne ich einen. Kennen Sie dieses Gefühl, wenn man sich maßlos über die eigene Dusseligkeit ärgert? Es scheint nochmal gut gegangen zu sein. Trotzdem: Trottel!

In der PSYCHOLOGIE HEUTE las ich etwas über Selbstmitgefühl. Auch ein schönes Wort – gleichsam die Doppelhaushälfte, das Ostwestfalen unter den Emotionen.

Mittwoch: In Frankreich soll es laut Zeitungsbericht schon geben, was die FDP nun auch für Deutschland als würdig und recht befindet. Aus ihrem Wahlprogramm:

„Wir Freie Demokraten wollen die Verantwortungsgemeinschaft neben der Ehe gesetzlich verankern. Dabei soll die Ausgestaltung der Rechte und Pflichten innerhalb einer Verantwortungsgemeinschaft stufenweise variiert werden können. Zwei oder mehr volljährige Personen, die sich persönlich nahestehen, aber nicht miteinander verheiratet, verpartnert oder in gerader Linie verwandt sind, sollen eine Verantwortungsgemeinschaft möglichst unbürokratisch gründen können. […] In einer Zeit, in der traditionelle Familienstrukturen gerade im Alter nicht immer tragen, wächst der Bedarf an neuen Formen gegenseitiger Absicherung. Der Grundgedanke einer solchen Verantwortungsgemeinschaft ist größtmögliche Flexibilität bei maximaler Selbstbestimmung.“

Wer hätte gedacht, dass ich mich mal für eine Idee dieser Partei erwärmen kann. Auch wenn der Geliebte abends durch unangemessene Eigenmächtigkeiten die häusliche Stimmung vorübergehend etwas kühlte.

Donnerstag: Kühle auch am Morgen, die den ins Werk Gehenden umspielte. So langsam ist es aber auch mal gut mit kalt.

„Dazu haben Sie bereits gestern insight bekommen“, sagte einer in einer größeren Veranstaltung per Skype. Der Vorteil solcher virtuellen Konferenzen ohne Video ist zugleich ihre Gefahr: Wenn ich nichts vorzutragen habe und mich das aktuelle Thema nur mäßig interessiert, widme ich mich gelegentlich anderen Dingen wie der Bearbeitung von Mails. Während einer solchen Phase erreichte mich die Nachricht eines anderen Teilnehmers, ich wäre nicht stummgeschaltet. Auslöser der Nachricht waren hoffentlich nicht unflätige Selbstgespräche meinerseits, zu denen ich gelegentlich neige, wenn ich mich alleine wähne, die über vierzig Teilnehmeri‘ insight in meine Gedankengänge gewährten.

Freitag: Die Verkehrsminister von Bund und Ländern haben sich endlich auf einen neuen Bußgeldkatalog geeinigt. Das wurde Zeit: Auf der Rückfahrt vom Werk wurde ich Zeuge, wie zwei PS-Äffchen an der Ampel auf der B 9 ein Anfahrt-Rennen veranstalteten. Bei grün rasten sie mit aufbrüllenden Motoren und quietschenden Reifen los und entschwanden in die Ferne, beziehungsweise bis zur nächsten roten Ampel. Weder wurde ich durch sie gefährdet noch behindert, und doch verschaffte es mir wohl größte Genugtuung, könnte ich bewirken oder wenigstens daran mitwirken, dass solchen Leuten dauerhaft die Fahrerlaubnis entzogen wird.

Was dem einen sein Gasfuß, ist dem anderen sein Bestellfinger: Seit heute bereichert eine Spargelplatte unseren Haushalt, die der Geliebte, offenbar einem spontanen Gefallen folgend, beim bekannten Versteigerer erwarb – ein länglicher Teller mit einmodellierten Porzellan-Spargelstangen. Wobei „Platte“ und „Stangen“ übertrieben erscheint: Aufgrund geringer Abmessungen bietet das Plättchen maximal Platz für Spargenspitzen. Daher wird es wohl bald dasselbe Schrankschicksal ereilen wie diverse Bleikristallgefäße, die in jüngerer Zeit der Bote brachte.

Abendgespräch: “Merkt man es eigentlich selbst, wenn man verrückt wird?” – “Nein. Frag S.” Eine Verantwortungsgemeinschaft hält das aus.

Samstag: Man hört und liest häufig über die Notbremse, gar die „Bundesnotbremse“. Vor zwei oder drei Jahren, so genau weiß ich es nicht mehr, die Zeit vergeht ja sehr schnell, da fuhr ein Stadtbahnzug führerlos von Siegburg in Richtung Bonn, weil der Fahrer bewusstlos geworden war. Die Fahrgäste bemerkten es, als der Zug mit hoher Geschwindigkeit mehrere Haltestellen durchfuhr und Bahnübergänge mit offenen Schranken passierte. Daher zogen sie die Notbremse. Wer nun glaubt, diese bringe einen Stadtbahnzug zum unverzüglichen Anhalten, irrt. Stattdessen erhält der Fahrer ein Signal, auf dass er den Zug abbremse. Konnte er wegen Unpässlichkeit aber nicht. Sie dachten, der Zug hält trotzdem bald, weil der Fahrer während der Fahrt in regelmäßigen Intervallen einen Taster betätigen muss, um Wachsein zu bekunden, und tut er das nicht, erfolgt die automatische Bremsung? Dachte ich bis dahin auch, stimmt aber nicht. Das ist nur bei der Eisenbahn so. Bei Stadt- und Straßenbahnen genügt es, den Knopf dauerhaft zu drücken. Auf dem lag dauerhaft der Fahrer. Schließlich gelang es, die Tür zum Fahrerraum zu öffnen und unter telefonischer Anleitung der Leitstelle den Wagen kurz vor Beuel anzuhalten. Seitdem begegne ich der Wirksamkeit von Notbremsen mit gewisser Skepsis.

Gewisse Skepsis hegen auch die „Systemsprenger*innen“, und zwar gegenüber den Segnungen der Agrarchemie:

Wenn schon das Unkraut* nicht wachsen darf, so wenigstens mein Stapel ungelesener Bücher. In diesem Sinne habe ich heute ein wenig eingekauft:

Sonntag: Es gibt diese Theorie, wonach der Flügelschlag eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt einen Hurrikan auslösen kann, vermutlich haben Sie schon davon gehört oder gelesen. Ob das so stimmt, vermag ich nicht zu beurteilen, es erscheint mir zumindest nicht sehr wahrscheinlich. Was ich indessen seit gestern Abend weiß: Eine missratene Sauce Béarnaise (berichtigt:) Hollandaise kann einen Mistral verursachen, der bis in den frühen Abend des Folgetages hinein eisig bläst.

Ansonsten kennen Sie vielleicht auch diese Tage, die von einer vagen Ahnung beschattet sind, etwas gerate gerade aus den Fugen. Einen solchen Tag hatte ich heute, daran konnte auch ein außergewöhnlich langer, menschenvermeidender Spaziergang nichts ändern.

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* Ja ich weiß, es gibt kein Unkraut, korrekt heißt es Wildkraut. So wie es keine Unkosten, Unmengen und Unwetter gibt, im Gegensatz zu Unterhosen.

Woche 1: Das neue Jahr zieht sich

KW1 - 1

Montag: Laut Zeitung haben heute Leute Namenstag, die Sabinus heißen. Sabinus. Denken die sich so etwas wohl aus?

Einen eher ungewöhnlichen Namen hat auch der Hund, dessen Besitzer ich auf dem Rückweg vom Werk nach ihm rufen hörte: Bonsai. Es war kein besonders kleiner Hund, auch kein großer, woraus man immerhin auf eine ironische Ader des Namensgebers hätte schließen können, so wie wenn ein Dackel oder Chihuahua (zugegeben, ich musste recherchieren, wie man das schreibt) auf den Namen „Amboss“ hört. Es war so ein mittelgroßes Tier, als Braten für vielleicht vier bis fünf Personen.

Eher klein waren auch die Mädchen, die für den WDR eine umgetextete, leicht gesellschaftskritische Fassung des alten Kinderliedes „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ sangen. Riesig dagegen der daraus folgende Skandal und die Empörung derjenigen, die sich ertappt fühlen, was den WDR zu einer reumütigen Entschuldigung veranlasste. Schade, mir gefällt es:

Hier noch einmal zum Mitlesen, für alle, die wie ich Schwierigkeiten haben, gesungene Liedtexte zu verstehen:

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorad, Motorad, Motorad. / Das sind tausend Liter Super jeden Monat, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma sagt, Motoradfahren ist voll cool, echt voll cool, echt voll cool. / Sie benutzt das Ding im Altersheim als Rollstuhl, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma fährt im SUV beim Arzt vor, beim Arzt vor, beim Arzt vor. / Sie überfährt dabei zwei Opis mit Rollator, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma brät sich jeden Tag ein Kotelett, ein Kotelett, ein Kotelett. / Weil Discounterfleisch so gut wie gar nichts kostet, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma fliegt nicht mehr, sie ist geläutert, geläutert, geläutert. / Stattdessen macht sie jetzt zehnmal im Jahr ne Kreuzfahrt, meine Oma ist doch keine Umweltsau.

Noch einmal zurück zum Thema Namen, jedoch weder Mensch noch Tier, sondern Bundesländer betreffend. Eine eher weniger weltbewegende Frage, die mir in schlafloser Nachtstunde einfiel, woher auch immer sie mir in den Sinn kam: Warum gibt es Nieder-, jedoch nicht Obersachsen, jedenfalls nicht als eigenes Land? Warum Sachsen-Anhalt, jedoch nicht Sachsen-Losfahr?

Apropos Niedersachsen: Nachdem tagsüber das Sturmtief „Christian“ über den Bahnhof des fiktiven südniedersächsischen Ortes Barlingerode hinweggezogen war, folgte abends ein Donnerwetter. Die Sach- und Personenschäden blieben dank frühzeitig eingeleiteter Bergungsmaßnahmen zum Glück gering, nur die atmosphärischen Störungen hielten noch etwas an. Und wieder bestätigt sich: Gut gemeint ist das genaue Gegenteil von gut. (Das können und müssen Sie jetzt nicht verstehen.)

KW1 - 1 (7)

Dienstag: Gut gemeint ist es sicher auch, Silvestergrüße in diverse WhatsApp-Gruppen zu schicken, womöglich garniert mit lustigen Bildern und Filmchen. Dummerweise fühlt sich daraufhin mindestens jedes zweite Gruppenmitglied animiert, angemessen zu antworten, was je nach Gruppengröße schon nach kurzer Zeit sehr anstrengend für alle Teilnehmer werden kann. Wenn man mehreren Gruppen angehört, kann es zudem passieren, dasselbe Filmchen mehrmals zugesandt zu bekommen. Zum Glück bietet WhatsApp die Möglichkeit der vorübergehenden Stummschaltung, wovon ich heute dreimal Gebrauch machte, danach herrschte wieder Stille auf meinem Datengerät. Im Übrigen schaue ich mir zugesandte Filmchen grundsätzlich niemals an.

Mittwoch: Wir können uns glücklich schätzen, in einem Land zu leben, in dem es auch im Jahre 2020 für alle Bedürfnisse entsprechende Fachgeschäfte gibt, denen der zunehmende Onlinehandel bislang wenig anhaben kann.

KW1 - 1 (1)

Die Diskussion darüber, ob mit 2020 das neue Jahrzehnt beginnt oder erst 2021, erscheint mir besserwisserisch-überflüssig. Für mich beginnen heute die Zwanziger. Ob sie wild, golden oder sonstwie werden, wird man sehen. Auf jeden Fall wird es hier voraussichtlich weiterhin genug zu notieren geben, denn der Wahnsinn des Alltags geht weiter, soviel ist sicher.

Zum Jahreswechsel schrieb ich heute ganz viel in mein Tagebuch, unter anderem folgendes, das mir – bei aller Bescheidenheit – so gut gefällt, dass ich es auch Ihnen zur Kenntnis zu geben mir erlaube:

KW1 - 1 (4)

Frohes neues Jahr!

KW1 - 1 (2)

Donnerstag: Der erste Achtstunden-Arbeitstag seit längerem. Erkenntnis: Das neue Jahr zieht sich.

Freitag: In der Kantine saß Geschäftsbereichsleiter H mit all seinen Freunden. (Bitte stellen Sie sich hier ein Bild vor, das eine Person zeigt, die alleine an einem Tisch sitzt und während des Verzehrs einer Kohlroulade mit dem Datengerät beschäftigt ist.)

Auf dem Heimweg vom Werk sah ich erste Magnolienknospen und dachte: Ihr seid ganz schön mutig.

Samstag: »Weil es im­mer we­ni­ger op­ti­mie­rungs­freie Zo­nen gibt, fehlt Men­schen das für eine ge­sun­de Psy­che not­wen­di­ge Ge­gen­ge­wicht: das Ge­fühl, dass et­was ein­fach so sein darf, wie es ist.« (Der Psychiater Klaus Lieb im SPIEGEL)

Nichts zu optimieren, allenfalls zu kaschieren, gibt es beim Alter. In einem Monat habe ich übrigens Geburtstag, nur damit Sie sich schon mal Gedanken über ein Geschenk machen können.

Sonntag: Stark zu optimieren wäre die Bebauung am Gallierweg im Bonner Norden, wie ich beim Sonntagsspaziergang feststellte. Die Häuser dort sind nicht nur, jedes auf seine Art, auffallend hässlich, sie passen auch überhaupt nicht zueinander. Als hätte man einem Schimpansenbaby einen Faller-Katalog und einen Stempel ausgehändigt, und jedes Häuschen, das das Äffchen bestempelt hat, hätte man anschließend zusammengebaut und in wahlloser Reihenfolge hintereinander aufgestellt. Komisch, darüber regt sich niemand auf.

Unterdessen scheint in der Inneren Nordstadt ein gewisser Notstand zu herrschen.

Woche 10: Das korrekte Genus des Possessivpronomens

Montag: Auch der Karneval ist nicht vor Empörung sicher. Nachdem sich in der letzten Woche Bernd Stelter unbeliebt gemacht hat durch Witze über Frauen mit Doppelnamen im Allgemeinen und Anette Kramp-Karrenbauer im Besonderen, legt ebendiese CDU-Chefin nun ihrerseits nach, indem sie auf einer Karnevalssitzung über geschlechtslose Toiletten scherzt, wodurch sich einige diversgeschlechtliche Menschen, Verzeihung: angepisst fühlen. Mensch Leute, entspannt euch! Was bliebe vom Karneval übrig, wenn jeder Akteur zuvor überlegen müsste, wen er eventuell beleidigen könnte?

Dienstag: „Uns Sproch es Heimat“, lautete das diesjährige Karnevalsmotto in Köln (für Westfalen und andere Nicht-Reinländer übersetzt: „Unsere Sprache ist Heimat“). Die Schönheit dieser Sprache veranschaulicht folgendes Beispiel:

  • Hochdeutsch: „Darf ich Sie zu einer Kopulation einladen?“
  • Proletisch: „Isch will f***n!“
  • Rheinisch: „Solle mer noch wat Liebe maache?“

Wer würde da ablehnen?

Mittwoch: Etwa zwanzig Prozent meiner Arbeitszeit dienen der Sacharbeit, der Rest geht dafür drauf, mit Powerpoint eine aufwändige „Storyline“ zu gestalten. Wann genau und wodurch ist leitenden Angestellten, vom Abteilungsleiter aufwärts, die Fähigkeit abhanden gekommen, einfache Textdokumente zu lesen?

Dazu passend lese ich bei Michel Houellebecq, dem französischen Autor mit dem weder aussprech- noch buchstabierbaren Namen, in „Ausweitung der Kampfzone“:

„Die Beschaffenheit der Welt ist schmerzhaft und ungeeignet; ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern lässt.“ 

Ein sehr vergnüglich zu lesendes Buch, gerade in der Stadtbahn auf dem Weg ins Werk und zurück. Zurück natürlich vergnüglicher als hin, ist klar.

Abends mit der Bahn zur Chorprobe nach Köln. Auf dem Sitz hinter mir spricht jemand in sein Telefon: „In dem Alter als Mann ohne Dingens ist echt aussichtslos.“ In welchem Alter hat ein Mann wohl die besten Aussichten ohne Dingens?

Apropos Aussichten: Ich mag es, abends von der Bahn aus in beleuchtete Wohnungen zu schauen, wo fremde Leute irgendwas machen. Viel machen sie meistens nicht, außer rumsitzen oder die Küche zu verschmutzen. Beim Liebe machen sah ich indes noch niemanden. Ich bleibe dran und werde berichten.

Donnerstag: Nun haben sie wieder überall angefangen, zu fasten. Nach dem Verzicht auf Sex, Alkohol, Drogen, Zigaretten und Online scheint „Empörungsfasten“ der neueste Trend zu, also sich nicht mehr über jeden nichtigen Scheiß aufzuregen und seinen Missmut in die digitalen Hetzwerke abzusondern. Diese Idee gefällt mir ausnahmsweise. Daher nehme ich mir vor, mich nicht länger über den täglichen Wahnsinn im Werk ärgern. Wundern und Lästern bleiben selbstverständlich erlaubt, ja Pflicht.

Zum Beispiel über so wunderbare Wortschöpfungen wie die folgende, welche ich heute in einer Besprechung höre: „Gefühlstechnisch gehe ich davon aus, dass bla bla bla …“

Bemerkenswert auch „faire Rosen“, welche die SPD laut einem Zeitungsbericht morgen an Weltfrauen verschenken wird.

Abschied am Abend:

Twexit2

Twexit3

Hat gar nicht wehgetan.

Freitag: Der Liebste plant seine Flugreise nach Japan. An Bord werden unter anderem Baby-Sardinen serviert. Also so etwas wie Wasserflöhe, nehme ich an.

Abends traditionelles Fischessen (oder eher -trinken) im Zeughaus der Karnevalsgesellschaft. Raten Sie mal, wer am Weltfrauentag in der Küche stand und abwusch.

Samstag: Laut einer Umfrage zum Thema „Vertrauen in Institutionen“ vertrauen vier Prozent der Befragten Werbeagenturen. Vielleicht haben die einfach die Frage nicht richtig verstanden. Oder sie glauben tatsächlich an die Existenz von Schleimmonstern.

Wirklich gelungen finde ich übrigens die Werbung mit den beiden jungen Männern, die nebeneinander auf ihren Betten liegen und dieses sagen:

„Ich hab mir ˋne neue Matratze gekauft, hat mich ein Vermögen gekostet. Aber Qualität hat halt ihren Preis.“ – „Die meist gekaufte Matratze kostet hundertneunundneunzig Euro.“ – „Ne ne ne ne …“ – „Doch.“

Bemerkenswert vor allem das korrekte Genus des Possessivpronomens vor „Preis“. Mindestens vierzig Prozent würden stattdessen sagen „Qualität hat seinen Preis“.

Zu später Stunde wirbt im Fernsehen ein Anbieter von Erzeugnissen zur Unterleibs-Entzückung für ein Gerät mit „Wow-Orgasmus-Garantie“, angeblich von der Stiftung Warentest für gut befunden. Wie mögen die das getestet haben?

Sonntag: In Bonn (und vermutlich anderswo auch) beginnen die Magnolien zu blühen, wie ich auf meinem längeren Sonntagsspaziergang sehe, von dem mich auch der heftige Wind nicht abhält, der heute über Stadt, Land und Fluss fegt.

KW10 - 1

Früher sagte ich übrigens „Mangolien“ dazu, das erschien mir irgendwie schlüssiger.

Noch länger dauerte es, bis ich verstand, dass „Grüß dich“ kein Imperativ ist. Bis dahin wunderte ich mich, wenn das jemand zu mir sagte: Warum sollte ich mich selbst grüßen, und von wem?

Auf demselben Spaziergang sehe ich auch ein Plakat für eine Lesung von Max Goldt am kommenden Mittwoch im Pantheon. Sehr bedauerlich, dass ich mich dann auf einer Dienstreise befinde.