Woche 6: Irgendwas mit Alkohol

Montag: Wer am Montagmorgen gut gelaunt ist, schubst auch schlafende Enten in den Teich.

Was, das Deutsche Fernsehballett wird aufgelöst? Ich dachte, die hätten schon in den Siebzigern ihren letzten Auftritt gehabt, die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht, damals, als Peter Frankenfeld noch die Showtreppe herunter kam.

Dienstag: Ab heute für die nächsten 366 Tage entspricht die Zahl meiner Jahre der postalischen Leitregion, in der ich lebe. Kann ich mir jetzt auch nichts für kaufen, dennoch erwähnenswert. Mit diesem Wissen könnten Sie mir aufgrund meiner bei aller Bescheidenheit recht gut erhaltenen Fassade schmeicheln, indem Sie mich fragen, ob ich in Dortmund wohne. Bielefeld oder gar Lübeck wären indessen etwas übertrieben.

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Nachmittags in der Bahn saß mir ein junger Mann mit auffallend schmalem Kopf gegenüber, auf dem er einen riesigen Kopfhörer trug. Fast schien es, als hätte dieser den Kopf im Laufe der Zeit zusammengedrückt, oder ihn am in die Breite Wachsen gehindert.

Haribo streitet mit einem spanischen Süßwarenhersteller, weil er alkoholhaltige Gummibärchen verkauft. Ich finde die Idee grandios, allein schon weil man nach deren Verzehr die polizeiliche Frage „haben Sie was getrunken“ besten Gewissens verneinen kann.

Mittwoch: Warum haben Leute wie Friedrich Merz eigentlich einen Sprecher? Der kann doch selbst sprechen. Reine Wichtigtuerei, sowas.

Aus einem Artikel im General-Anzeiger über die Lesung der Autorin Judith Hermann in einem Bonner Gymnasium:

„Lesen bedeutet absolute Freiheit. Das Ansehen von Youtube-Videos macht dämlich, Lesen macht schlau. […] Ich hoffe, dass irgendwann die Stromapokalypse kommt und das alles nicht mehr funktioniert. Und alles, was dann übrig sein sollte, sollten ein Stift und Papier sein.“ Vermutlich würden viele gerade junge Menschen erst dann ihre eigentliche, sie umgebende Umwelt bemerken und mit ihr in Kontakt treten, so Hermann.

Gefällt mir.

Recht spontan legte ich heute einen freien „Inseltag“ ein, was mir ermöglichte, nach dem Frühstück dem Rhein beim Überlaufen zuzuschauen.

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Donnerstag: In der Kantine machte eine junge Frau an langem Arm ein Selfie von sich, ihrer Mitesserin und zwei Kohlrouladen. Lange sah ich nicht mehr etwas derart Deprimierendes.

Freitag: Verdursten Jugendliche eigentlich innerhalb weniger Stunden, wenn sie nicht alle paar Minuten an einer Wasserflasche nuckeln?

Passend zum Thema Trinken der folgende Kantinendialog: „Was machst du am Wochenende?“ – „Irgendwas mit Alkohol.“

Samstag: Ich bin weit davon entfernt, in das fragwürdige Lied über die Lügenpresse einzustimmen. Wenn indes in einem Fernsehinterview mitten im Satz des Befragten diese kurzen Schnitt-Überblendungen aufblitzen, werde ich immer ein klein wenig misstrauisch.

Sonntag: Die Ruhe vor dem Sturm ist heute wörtlich zu nehmen. Bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen am Nachmittag bläst das angekündigte Sturmtief „Sabine“ zumindest hier in Bonn noch recht verhalten, was mir den üblichen Sonntagsspaziergang ermöglichte.

Dabei gesehen an einem Laternenpfahl:

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Woche 1: Das neue Jahr zieht sich

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Montag: Laut Zeitung haben heute Leute Namenstag, die Sabinus heißen. Sabinus. Denken die sich so etwas wohl aus?

Einen eher ungewöhnlichen Namen hat auch der Hund, dessen Besitzer ich auf dem Rückweg vom Werk nach ihm rufen hörte: Bonsai. Es war kein besonders kleiner Hund, auch kein großer, woraus man immerhin auf eine ironische Ader des Namensgebers hätte schließen können, so wie wenn ein Dackel oder Chihuahua (zugegeben, ich musste recherchieren, wie man das schreibt) auf den Namen „Amboss“ hört. Es war so ein mittelgroßes Tier, als Braten für vielleicht vier bis fünf Personen.

Eher klein waren auch die Mädchen, die für den WDR eine umgetextete, leicht gesellschaftskritische Fassung des alten Kinderliedes „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ sangen. Riesig dagegen der daraus folgende Skandal und die Empörung derjenigen, die sich ertappt fühlen, was den WDR zu einer reumütigen Entschuldigung veranlasste. Schade, mir gefällt es:

Hier noch einmal zum Mitlesen, für alle, die wie ich Schwierigkeiten haben, gesungene Liedtexte zu verstehen:

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorad, Motorad, Motorad. / Das sind tausend Liter Super jeden Monat, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma sagt, Motoradfahren ist voll cool, echt voll cool, echt voll cool. / Sie benutzt das Ding im Altersheim als Rollstuhl, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma fährt im SUV beim Arzt vor, beim Arzt vor, beim Arzt vor. / Sie überfährt dabei zwei Opis mit Rollator, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma brät sich jeden Tag ein Kotelett, ein Kotelett, ein Kotelett. / Weil Discounterfleisch so gut wie gar nichts kostet, meine Oma ist ne alte Umweltsau.

Meine Oma fliegt nicht mehr, sie ist geläutert, geläutert, geläutert. / Stattdessen macht sie jetzt zehnmal im Jahr ne Kreuzfahrt, meine Oma ist doch keine Umweltsau.

Noch einmal zurück zum Thema Namen, jedoch weder Mensch noch Tier, sondern Bundesländer betreffend. Eine eher weniger weltbewegende Frage, die mir in schlafloser Nachtstunde einfiel, woher auch immer sie mir in den Sinn kam: Warum gibt es Nieder-, jedoch nicht Obersachsen, jedenfalls nicht als eigenes Land? Warum Sachsen-Anhalt, jedoch nicht Sachsen-Losfahr?

Apropos Niedersachsen: Nachdem tagsüber das Sturmtief „Christian“ über den Bahnhof des fiktiven südniedersächsischen Ortes Barlingerode hinweggezogen war, folgte abends ein Donnerwetter. Die Sach- und Personenschäden blieben dank frühzeitig eingeleiteter Bergungsmaßnahmen zum Glück gering, nur die atmosphärischen Störungen hielten noch etwas an. Und wieder bestätigt sich: Gut gemeint ist das genaue Gegenteil von gut. (Das können und müssen Sie jetzt nicht verstehen.)

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Dienstag: Gut gemeint ist es sicher auch, Silvestergrüße in diverse WhatsApp-Gruppen zu schicken, womöglich garniert mit lustigen Bildern und Filmchen. Dummerweise fühlt sich daraufhin mindestens jedes zweite Gruppenmitglied animiert, angemessen zu antworten, was je nach Gruppengröße schon nach kurzer Zeit sehr anstrengend für alle Teilnehmer werden kann. Wenn man mehreren Gruppen angehört, kann es zudem passieren, dasselbe Filmchen mehrmals zugesandt zu bekommen. Zum Glück bietet WhatsApp die Möglichkeit der vorübergehenden Stummschaltung, wovon ich heute dreimal Gebrauch machte, danach herrschte wieder Stille auf meinem Datengerät. Im Übrigen schaue ich mir zugesandte Filmchen grundsätzlich niemals an.

Mittwoch: Wir können uns glücklich schätzen, in einem Land zu leben, in dem es auch im Jahre 2020 für alle Bedürfnisse entsprechende Fachgeschäfte gibt, denen der zunehmende Onlinehandel bislang wenig anhaben kann.

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Die Diskussion darüber, ob mit 2020 das neue Jahrzehnt beginnt oder erst 2021, erscheint mir besserwisserisch-überflüssig. Für mich beginnen heute die Zwanziger. Ob sie wild, golden oder sonstwie werden, wird man sehen. Auf jeden Fall wird es hier voraussichtlich weiterhin genug zu notieren geben, denn der Wahnsinn des Alltags geht weiter, soviel ist sicher.

Zum Jahreswechsel schrieb ich heute ganz viel in mein Tagebuch, unter anderem folgendes, das mir – bei aller Bescheidenheit – so gut gefällt, dass ich es auch Ihnen zur Kenntnis zu geben mir erlaube:

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Frohes neues Jahr!

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Donnerstag: Der erste Achtstunden-Arbeitstag seit längerem. Erkenntnis: Das neue Jahr zieht sich.

Freitag: In der Kantine saß Geschäftsbereichsleiter H mit all seinen Freunden. (Bitte stellen Sie sich hier ein Bild vor, das eine Person zeigt, die alleine an einem Tisch sitzt und während des Verzehrs einer Kohlroulade mit dem Datengerät beschäftigt ist.)

Auf dem Heimweg vom Werk sah ich erste Magnolienknospen und dachte: Ihr seid ganz schön mutig.

Samstag: »Weil es im­mer we­ni­ger op­ti­mie­rungs­freie Zo­nen gibt, fehlt Men­schen das für eine ge­sun­de Psy­che not­wen­di­ge Ge­gen­ge­wicht: das Ge­fühl, dass et­was ein­fach so sein darf, wie es ist.« (Der Psychiater Klaus Lieb im SPIEGEL)

Nichts zu optimieren, allenfalls zu kaschieren, gibt es beim Alter. In einem Monat habe ich übrigens Geburtstag, nur damit Sie sich schon mal Gedanken über ein Geschenk machen können.

Sonntag: Stark zu optimieren wäre die Bebauung am Gallierweg im Bonner Norden, wie ich beim Sonntagsspaziergang feststellte. Die Häuser dort sind nicht nur, jedes auf seine Art, auffallend hässlich, sie passen auch überhaupt nicht zueinander. Als hätte man einem Schimpansenbaby einen Faller-Katalog und einen Stempel ausgehändigt, und jedes Häuschen, das das Äffchen bestempelt hat, hätte man anschließend zusammengebaut und in wahlloser Reihenfolge hintereinander aufgestellt. Komisch, darüber regt sich niemand auf.

Unterdessen scheint in der Inneren Nordstadt ein gewisser Notstand zu herrschen.