Ein Schiff voller Irrer

In der vergangenen Nacht hatte er einen eigenartigen Traum: Er flitzte als Pinguin auf der Jagd nach frischem Fisch durch das Eismeer. Als er einmal zum Zwecke des Luftschnappens auftauchte, sah er dieses Schiff: ein riesiges Passagierschiff, aus dessen unterem Deck, kurz über der Wasserlinie, aus runden Öffnungen hunderte Ruder im Gleichtakt das Meer pflügten, wie bei einer römischen Galeere. Vorne trug das Schiff den Namen eines großen Konzerns, am Heck flatterten zwei Flaggen: eine mit dem Konzernlogo, die andere mit dem Namen einer bekannten Unternehmensberatung. (Es ist nicht anzunehmen, dass Pinguine Konzerne und Unternehmensberatungen kennen, auch wenn bei diesen zahlreiche pinguinartig gekleidete Menschen mit irgendetwas beschäftigt sind. Aber es war halt ein Traum. [Den letzten Satz hätte ich auch mit „Aber hey“ beginnen können, doch steht dem meine uneingeschränkte Abneigung gegenüber dieser Einleitung eines Abersatzes entgegen.]).

Während im großen Saal auf dem Oberdeck der Kapitän zu Investoren und Aktionären sprach, ihnen steigende Gewinne und Dividenden für die kommenden Jahre in Aussicht stellte, drang von der Brücke unverständliches Stimmengewirr. Da der Pinguin nichts verstand, flog er zur Brücke und beobachtete das dortige Treiben: Die anwesenden Offiziere riefen wild durcheinander, keiner hörte dem anderen zu. „Links!“, rief einer, „rechts!“ ein anderer. „Die Ruderer sind zu teuer, wir müssen ihre Löhne marktgerecht anpassen“, hörte der Pinguin. „Wir müssen die Schlagzahl erhöhen und sie stärker peitschen!“ – „Wir beschäftigen viel zu viele Peitscher, was die kosten…“

Da sah der Pinguin durch die Nebelschwaden einen riesigen Eisberg, auf den das Schiff direkt zu raste; aus dem Unterdeck hörte er den beschleunigten Takt der Trommel, Peitschenhiebe und Schreie. Die Bordkapelle spielte den alten Flash And The Pan-Hit „Down Among The Dead Men“. Der Eisberg kam rasch näher, auf seinem Gipfel wehte die Fahne eines anderen großen Konzerns, der als der größte und mächtigste Kunde des Schiffes galt. Der Pinguin rief „Achtung, der Eisberg…!“ zur Brücke, doch die Offiziere stritten immer noch, hörten ihn nicht. Dann eben nicht, dachte er und sprang zurück ins Meer, Fische jagen.

Kurz bevor die Bugspitze auf den Eisberg prallte, wachte er auf. Später, in der U-Bahn, auf dem Weg ins Büro, erschrak er heftig, als er – noch matt vor Morgenmüdigkeit – aufblickte und auf dem Sitz gegenüber einen Pinguin erblickte. Dann bemerkte er den albernen Aktenrollkoffer zu dessen Füßen, es war wohl doch nur ein Unternehmensberater.

Alternativer Schluss:

In der U-Bahn, auf dem Weg ins Büro, fragte er sich, warum Pinguine nicht fliegen können (was man halt so vor sich hindenkt, wenn die Morgenmüdigkeit einen noch umnebelt). Vielleicht, weil sie dadurch auch keinen Größenwahn verhindern können.

Übertretungen

Ich gebe zu, rote Fußgängerampeln ignoriere ich. Ich gehe immer. Also natürlich nur, wenn frei ist und keine Polizei in Sicht. Der Vorwurf, ein schlechtes Vorbild für die Kinder zu sein, perlt an mir ab wie Wasser am Fell eines Bibers. Zum einen sehe ich mich nicht in der Verantwortung, fremder Leute Brut zu erziehen, zum anderen lernen sie noch was dabei: wunderbare Schimpfwörter und Verfluchungen, die mir Mama und Papa nachwerfen (beziehungsweise „der Florian“ und „die Corinna“, wie Kinder heute sagen), derweil sie ordnungsgemäß mit Ben-Luca auf das grüne Männchen warten.

Und zudem gewinnen sie die Erkenntnis, dass es das Leben erleichtert, wenn man ab und zu mal „dennoch“ sagt oder, bei Hang zur Geschwätzigkeit, „nichtsdestotrotz“. Sehr bald schon werden sie erkennen, dass der Florian und die Corinna das auch tun: im Straßenverkehr („Wieso fünfzig? Hier kann man locker achtzig fahren.“ – „Halteverbot? Bin ja gleich zurück.“), bei der Mülltrennung („Das wird eh alles im selben Ofen verbrannt“) oder der Steuererklärung („Nur Dumme zahlen Steuern!“). Vielleicht arbeitet Papa / der Florian auch bei einem großen Automobilkonzern und entwickelt Software zur Schadstoffoptimierung, oder Mama / die Corinna bei einem Rüstungskonzern.

Dagegen ist die Missachtung einer Fußgängerampel ja nun wirklich ein Biberfurz.

Über Schwermut

Das elfte Wort des Blogprojekts *.txt stellt mich vor eine Aufgabe, welche zu erfüllen mir schwer fällt: „Schwermut“. Viel las ich bereits über das Thema Depression, Melancholie und Burn Out, auch kenne ich hiervon betroffene Menschen persönlich, doch blieb ich selbst, der sich nahezu wunschlos glücklich schätzt, bislang davon verschont und ich hoffe sehr, dass mir diese Erfahrung auch künftig erspart bleibt.

Nur vage erahnen kann ich daher, wie es sich anfühlen muss, Lebenszeit in schwermütiger Dunkelheit zu verbringen. Etwa an Tagen, an denen nach weingetränkter Nacht die postalkoholische Melancholie Besitz von mir ergreift: Ich wache auf, nass geschwitzt, von diffuser innerer Unruhe erfüllt, Gedanken an tausend Katastrophen, die mich ereilen könnten und so mein bislang krisen- und schicksalsschlagsverschontes Leben jäh aus der Bahn reißen, hindern mich am entspannten Weiterschlafen.

Oder regelmäßig montags. Das Aufstehen am Morgen ist eine Qual, Körper und Geist laufen noch im angenehmen Wochenend-Modus. Doch es hilft nichts: Mails, Telefon und persönlich anwesende Kollegen und Chefs behelligen mich mit Dingen, welche ich am Freitagnachmittag im Büro zurückließ und mit denen zu beschäftigen mir am Wochenende nicht in den Sinn kam. Wie durch Watte aus Blei versuche ich, die angetragenen Anliegen zu verstehen, zu bearbeiten, einer Lösung zuzuführen, überhaupt Interesse für sie aufzubringen.

Auch der Zustand unglücklichen Verliebtseins, welcher mich in jüngeren Jahren mehrfach ereilte, Tage und Nächte erfüllt von um diese eine begehrte Person kreisenden Gedanken, dabei ohne die geringste Aussicht auf Annäherung, vermag eine zeitlich befristete Depression auszulösen; in manchen Augenblicken gar eine ganz schöne, im nächsten Moment, wenn ich den Angebeteten in Begleitung einer anderen Person sah, schmerzhaft wie eine Herdplatte auf Stufe neun.

Doch so wie die Liebe irgendwann wurzelt, wie der Kater am Sonntag irgendwann seine Krallen einzieht und ich mich erneut empfänglich zeige für ein Abendglas, so geht auch der Montag vorüber, und ab Dienstag wird es ohnehin täglich besser.

Nein, zu diesem Thema vermag ich nichts substanzielles beizutragen, was zu beklagen mir aus naheliegenden Gründen fern liegt.

Man muss viel trinken!

Es begann am Freitag in der Provence, am Tag vor der Abreise nach zwei Wochen Urlaub in diesem Ort, der uns mittlerweile so vertraut ist. Die Tage waren nahe an dem, was ich mir unter dem Paradies vorstelle: Sonne, Temperaturen um die dreißig Grad, über uns fast nur blauer Himmel. Jeden Morgen um neun, manchmal auch halb zehn aufgestanden, wohingegen ich am Wochenende zu Hause selten vor halb elf aus dem Bett komme, und das auch nur, wenn es unbedingt sein muss; in Ruhe gefrühstückt vor unserem Haus, frisches Baguette, das der Liebste zuvor aus der örtlichen Bäckerei geholt hatte, und die Bonner Tageszeitung, welche dank technischer Errungenschaften auch dort tagesaktuell auf dem Datengerät zu lesen ist; dabei aufmerksam die Entwicklungen in Griechenland verfolgt und bei meinem Arbeitgeber, der sich seit geraumer Zeit in einer Art Krieg mit der Gewerkschaft befand.

Letztere trübte meine Urlaubsfreude ein ganz klein wenig – viel öfter als mir lieb war, schweiften meine Gedanken ab ins Büro nach Bonn. In diesen unruhigen Zeiten, wo man schon in einer normalen Arbeitswoche nicht wusste, was der nächste Tag bringen mochte, was sie sich wieder ausgedacht haben, die eine wie die andere Seite, um einander zu ärgern, was erwartete mich da erst nach zwei Wochen Urlaub? Nein, ich mochte noch nicht an Montag denken, der kam früh genug (und war, rückblickend, überhaupt nicht schlimm).

Zurück in die Provence: Sehr viel haben wir nicht gemacht, ein paar Ausflüge in die nähere Umgebung, nach Vinsobres, Nyons, Buis-les-Baronnies (siehe dazu auch den letzten Eintrag), Avignon (zum ersten Mal von Carpentras aus mit dem Zug, der seit diesem Jahr nach 77 Jahren wieder fährt!), Cairanne, La Fare und Châteauneuf-du-Pape. Die eingepackten Wanderschuhe blieben leider unbenutzt, dazu war es einfach zu warm. Ansonsten verliefen die Tage fast alle gleich: Nach dem Frühstück das Geschirr abgewaschen, was ich dort ausgesprochen gerne tue, fast hat es etwas meditatives; während mir zu Hause die Geschirrspülmaschine als eines der wichtigsten Hausgeräte erscheint, noch weit vor dem Fernseher, wäre sie dort das vorletzte, was mir fehlte – das letzte wäre der Fernseher.

Die meisten Stunden – mal abgesehen von schlafen – verbrachten wir im Schatten des Hofes, lesend (unter anderem Peter Mayle, der sich ja bekanntlich entschied, sein Leben ganz in die Provence zu verlagern, was aus verschiedenen Gründen für mich nicht in Frage käme, und zwei Bücher gegen den Arbeitsfetisch, welche meiner Freude, Montag wieder ins Büro zu gehen, nur wenig dienlich waren, mir andererseits aber keine für mich akzeptable Alternative dazu aufzeigen konnten), ein wenig schreibend, oder nichts tuend: Während die Gedanken schweiften (leider auch immer wieder ins Büro, siehe oben, von wo ich sie jedoch so schnell wie möglich wieder zurück riss wie einen Hund, der sich schnüffelnd nicht vom Laternenpfahl trennen kann), betrachtete ich den blauen Himmel über mir, die groben, mit Grün bewachsenen Steinmauern des Hofes, die Bienen im Lavendelstrauch, oder nur meine Füße vor mir (der linke ist auch nach der OP noch etwas krumm, aber das zu beklagen wäre wohl gleichzusetzen mit Luxus-Lamoyanz, um die altbekannte Phrase „Jammern auf hohem Niveau“ nicht noch weiter abzunutzen; im Übrigen strebe ich schon aus Altersgründen keine Karriere als Badehosen-Model oder Pornodarsteller an, vielleicht in einem späteren Leben).

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Pünktlich um vier Uhr nachmittags kam dann Nachbar K herüber, um uns zum Nachmittagsbier abzuholen, welches wir in der Bar unter schattigen Platanen zu uns nahmen. Man soll bei Hitze viel trinken. Vor dem Abendessen stand stets ein Pastis mit eisgekühltem Brunnenwasser auf dem Tisch. Das Essen nahmen wir anschließend in einem der Restaurants oder nebenan in K’s kühlem Hof zu uns, dazu selbstverständlich Wein, meistens Rosé, und aus Gründen des Anstandes und einer Anmutung von Vernunft unverdünntes Wasser. Nach dem Essen dann noch ein Nachtglas Rosé vor unserem Haus bei flackerndem Kerzenlicht, meistens wurde daraus eine Flasche. Danach ins Bett, selten später als 22 Uhr. Das schaffe ich zu Hause selbst unter der Woche kaum.

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Wie das immer so ist – ich schaue auf den Kalender und denke: noch sieben Wochen bis zum Urlaub (dem ich dieses Mal so sehnsüchtig wie schon lange nicht mehr entgegengesehen hatte). Wie schnell vergingen diese sieben Wochen, und wie schnell erst recht die zwei Wochen Urlaub, trotz gepflegtem Nichtstuns!

Doch dieses Mal nahm der Urlaub ein wenig erfreuliches Ende. Am Freitag, ein sehr schwüler und heißer Tag, machten wir den Ausflug mit dem Zug nach Avignon. Schon auf dem Bahnhof von Carpentras fühlte sich der Liebste nicht recht wohl, dieses Unwohlsein verstärkte sich nach der Ankunft in Avignon, so dass wir in der dortigen Markthalle nur schnell das nötigste kauften, ein Vorgang, der sich unter normalen Voraussetzungen über Stunden erstrecken kann, und fuhren mit dem nächsten Zug zurück. Wieder in unserem Haus angekommen, verschlechterte sich sein Zustand weiter, so dass wir schließlich entschieden, einen Arzt zu rufen.

Doch wie macht man das in einem provencalischen Dorf am Freitagabend? Ruft man auch die 112 wie bei uns? Selbst wenn das geklärt ist, wie macht man sich verständlich bei mangelhaften Sprachkenntnissen wie den meinen? Das Idyll, welches mir die Tage zuvor als eine Art Paradies erschienen war, wurde plötzlich zu einem Ort der Bedrohung, in dem ich mich nackt und hilflos fühlte.

Doch dann lernte ich Hilfsbereitschaft kennen: Ich schilderte dem Wirt der Bar, der etwas deutsch spricht, mein Problem, und plötzlich kam eine rege Diskussion unter den Barbesuchern auf mit dem Ergebnis, man müsse die Feuerwehr rufen. Ein sehr freundlicher, deutsch sprechender Belgier rief schließlich dort an und übersetzte die Fragen der Gegenseite und meine Antworten zu Alter, Art der Beschwerden und so weiter, auch wartete er mit mir, bis der Rettungswagen eintraf. Niemals wieder soll aus meinem Mund ein Wort gegen Belgier kommen, wenn sie zum Beispiel wie die Bekloppten über französische Autobahnen rasen.

Sie untersuchten den Liebsten, wahrscheinlich Hitzschlag, und brachten ihn zur Sicherheit ins Krankenhaus von Vaison-la-Romaine. Ich fuhr mit K in unserem Wagen hinterher, das Nachmittagsbier und der Pastis des Abends waren rasch vergessen, ich fühlte mich nüchtern (und war es wahrscheinlich auch).

In Vaison angekommen, lernte ich kennen, was ich bislang nur aus irgendwelchen Fernsehserien kannte: im Krankenhaus sitzen und auf die Nachricht hoffen, dass alles in Ordnung sei; bei Dallas saßen sie, so weit ich mich erinnere, in jeder zweiten Folge im Dallas Memorial Hospital und warteten – auf Pamela, die vom Pferd gefallen war, auf Sue Ellen, die besoffen vor den Baum gefahren war, und mit dem alten Jock Ewing war auch immer was, vielleicht war es auch Bobby oder Cliff Barnes, was weiß ich, egal; unglaublich, was für unsinnige Gedanken einem in dieser Situation durch den Kopf gehen, wenn man nichts tun kann außer zu warten, dem Rauschen des Klimagerätes zuzuhören und die französischen Präventionsplakate auswendig zu lernen: „Bei Hitze viel trinken und genug essen, bei anhaltendem Unwohlsein die 15 anrufen“, aha, die 15 also, war das auch geklärt. Die bereitliegenden Zeitschriften rührte ich nicht an. Zum Glück war K bei mir, wartete mit mir und konnte übersetzen, wenn die gute Nachricht kam.

Die kam dann auch: Die Diagnose Hitzschlag wurde bestätigt, wir konnten zu ihm, er hatte schon wieder etwas Farbe im Gesicht. Zwei Infusionen und ein Abendessen später konnten wir zu dritt zurück fahren. Selten bin ich so gerne Auto gefahren!

Dazu hatte ich, der Autofahren nicht gerade als seine Lieblingsbeschäftigung bezeichnen würde, am nächsten Tag reichlich Gelegenheit, denn die Rückfahrt nach Bonn stand an. Da der Liebste noch immer etwas angeschlagen war, fuhr ich fast die gesamte Strecke, 970 Kilometer durch bis zu 40 Grad Hitze mit einem langen Stau in Lyon. Wenn innerhalb des Hauses der Geschirrspüler das wichtigste Gerät ist, dann ist es außerhalb die Klimaanlage des Autos, und die funktionierte tadellos und trug erheblich dazu bei, dass es ihm im Laufe der Fahrt immer besser ging. Doch nach elf Stunden Fahrt in Bonn angekommen, schlug die rheinische Schwüle mit voller Wucht zu und brachte sein wiedererlangtes Wohlbefinden innerhalb einer Stunde zum Schmelzen.

Da die drückende Hitze der Bonner Tallage auch am Sonntag nicht nachließ, verschlechterte sich der Gesundheitszustand weiter, so dass wir am frühen Nachmittag erneut den Notarzt riefen. Das erwies auch hier trotz Nummern- und Sprachkenntnis als gar nicht so einfach: Ich wählte die 112, beschrieb das Problem und beantwortete die üblichen Fragen. Der freundliche Herr der Notrufzentrale verwies mich an eine zentrale Arztrufzentrale. Diese nannte mir Name und Anschrift einer diensthabenden Ärztin, deren Praxis von 16 bis 17 Uhr geöffnet sei. Nach dem vorsichtigen Hinweis meinerseits, dass wir aber jetzt sofort Hilfe benötigen, wurde mir auch die Mobilnummer der Ärztin genannt. Die hatte jedoch anscheinend gerade zu tun, jedenfalls nahm sie meinen Anruf nicht an. Also wieder die 112, wo ich den freundlichen Herrn schließlich überreden konnte, einen Rettungswagen zu schicken, der auch bald kam.

Der weitere Verlauf war ähnlich wie zwei Tage zuvor in Frankreich: kurze Untersuchung im heimischen Bett, dann Transport in die Notaufnahme der Uniklinik auf dem Venusberg. Ich mit C in unserem Auto hinterher. Warten im heißen und vollen Wartesaal. „Sie können nun zu ihm“, hieß es bald. Untersuchung, Infusionen, Bestätigung der Diagnose Hitzschlag, „Haben wir ganz viele in diesen Tagen, die Leute trinken zu wenig.“

Wieder raus, warten. Draußen bewölkte es sich inzwischen, die Sonne verschwand, die Hitze blieb. Ich holte mir eine große Flasche Wasser aus dem Café, man muss viel trinken, ich weiß, spätestens jetzt weiß ich es. Wieder rein, Zustand und Laune des Liebsten verbesserten sich mit jedem Tropfen der Infusion. Gegen 18 Uhr platzten die Wolken, dicke Hagelkörner schlugen zu Boden und knallten auf die Blechdächer der Fahrradständer. Nach vielleicht zehn Minuten war es vorbei, Eisbrocken schmolzen, der Boden dampfte. Die letzte Infusion war durch, „Sie können nun gehen“, beschied ein netter junger Arzt dem Liebsten, „und nicht vergessen: viel trinken!“ Mit dreifacher Erleichterung fuhren wir nach Hause, über von Blättern und Zweigen grün bedeckte Straßen und durch tiefe Pfützen. Unterwegs kauften wir bei einer Tankstelle so viel Mineralwasser, wie wir tragen konnten.

Welche Erkenntnisse habe ich nun daraus gewonnen?
Erstens: Es ist fahrlässig, ja dumm, in ein anderes Land zu fahren, ohne die Nummer des Notrufs zu kennen.
Zweitens: Das schönste Idyll wird zur Bedrohungskulisse, wenn ein Notfall eintritt.
Drittens: Rosé, Bier und Pastis gelten nicht als Getränke im Sinne der Hitzschlagprävention.
Viertens: Nichts gegen Belgier!
Fünftens: Es ist schön, Freunde wie K und C zu haben. DANKE für euren Beistand in den Stunden bangen Wartens!!!
Sechstens: Man muss viel trinken.

Aller Anfang

Eine der wohl sinnvollsten Erfindungen neben dem Rad, der Geschirrspülmaschine, dem Stoppschild und dem elektrischen Rasenkantenschneider, dabei jedoch weitgehend unbeachtet vom öffentlichen Diskurs, ist der Daueranfangsfinder; zugleich ein wunderbares Beispiel deutscher Wortbildungskunst, welches der Doppelhaushälfte in keiner Weise nachsteht. Ich entdeckte ihn eher zufällig auf einer Packung Frischhaltefolie.

Daueranfangsfinder

Sie kennen das vielleicht (andere würden den Satz auch einleiten mit Wer kennt das nicht): Vom Heißhunger auf vitaminreiche Kost getrieben (beziehungsweise heißhungertechnisch unterwegs) öffnen Sie in Ermangelung eines gefüllten Obstkorbes eine Büchse Dosenmandarinen, beginnen darin zu löffeln und bemerken spätestens beim Zerkauen des achten Stücks, wie scheußlich die Dinger schmecken.

Da sich die (groß-)elterliche Mahnung, Lebensmittel zu achten („die armen Kinder in Afrika“ – „Altes Brot ist nicht hart. Kein Brot, das ist hart!“ – „Es gab ja nichts. Wir haben damals den Kitt aus den Fensterrahmen gefressen!“ – und so weiter) seit frühester Kindheit eingebrannt hat, beschließen Sie, die Dose mit Frischhaltefolie zu verschließen und in den Kühlschrank zu stellen, wo sie im Laufe der Zeit unbeachtet vom Weltgeschehen immer weiter nach hinten rückt zu den alten Gläsern mit selbst gemachter Marmelade, die Ihnen gutmeinende Menschen einst schenkten; in dösiger Vergessenheit legen die Früchte bald einen grünlichen Pelz an, welcher es Ihnen endlich ermöglicht, die Dose guten Gewissens zu entsorgen, sollten Sie sie zufällig nach acht Wochen entdecken.

Die theoretische Idee der Frischhaltefolie ist nahezu genial – aus irgendwelchen elektrostatischen Gründen, welche zu recherchieren ich zu bequem bin, haftet das Zeug an Schalen und Tellern (jedoch nicht an Blechdosen) und ermöglicht auf physikalisch-phantastische Weise die nahezu luftdichte Abdeckung des Frischzuhaltenden.

Vor der praktischen Anwendung der Folie steht jedoch eine Herausforderung, welche auch das sanfteste Gemüt in den Wahnsinn zu treiben vermag. Zunächst gilt es, den Anfang der Rolle zu finden, welcher fest an selbiger haftet und sich trotz intensiven Suchens, Tastens und Fühlens nicht zu erkennen gibt. Ist dies dann doch endlich gelungen, o Triumph menschlicher Überlegenheit gegen die Tücke des Objekts, kommt die große Stunde des Daueranfangsfinders, einer kleinen klebrigen Fläche an der Außenseite der Packung, auf welcher der Anwender das mühsam gefundene Ende der Rolle fixieren kann, auf dass es ihm fortan jederzeit zur Verfügung stehe.

Doch vermag dieser kleine klebrige Helfer das Hauptproblem der Frischhaltefolie nicht zu lösen. Theoretisch ganz einfach, reißt man das benötigte Stück Folie über die metallene Sägezahnklinge ab. Praktisch denkt die Folie gar nicht daran, sich gerade dort von der Rolle zu trennen, stattdessen zerfetzt sie in kleine, unbrauchbare Knäuel, blutige Fingerkuppen inbegriffen (beziehungsweise vorprogrammiert).

Indes liegt es mir fern, den Nutzen des Daueranfangsfinders kleinzureden, die grundsätzliche Idee dahinter ist gut und erscheint der Ausweitung auf andere Lebensbereiche würdig: Sie müssen Ihre Steuererklärung machen, können sich aber nicht dazu aufraffen? Mit dem Daueranfangsfinder sind die benötigten Unterlagen bald zusammengebracht und die Formulare ausgefüllt. Sie haben ein Rendezvous, schon das Objekt Ihrer Begierde bei Tee und Naschwerk neben sich auf dem Sofa und trauen sich nicht, den ersten Schritt zu tun? Der Daueranfangsfinder verhilft Ihnen bald zu sinnlichen und körperlichen Höhenflügen im achten Himmel.

Sie müssen einen Text erstellen, weil Sie sich absurderweise die Pflicht auferlegt haben, einmal wöchentlich was in ihr Blog zu schreiben, aber Ihnen fällt nichts ein? Der Daueranfangsfinder lässt die Worte nur so fließen. Und vielleicht ermöglicht es der technische Fortschritt eines fernen Tages sogar, dass dann etwas weithin beachtetes dabei rauskommt. Man soll die Hoffnung niemals aufgeben.

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Nachsatz für die Leser des *.txt-Projektes: Das war jetzt sehr weit hergeholt, das gebe ich zu.