Woche 21/2024: Es hat keine Eile

Montag: Ein sonniger, ruhiger Pfingstmontag ohne notierenswerte Ereignisse, jedenfalls im persönlichen Erlebnis. Auf der Treppe zur Innenstadt, die nach Wochenenden üblicherweise vollgemüllt ist mit Glasscherben, Zigarettenkippen, Durstlöscherpackungen und anderem Unrat, stand eine große Lachgaskartusche, drumherum eine größere Anzahl schwarzer Luftballons. Was halt so erforderlich ist, um in Stimmung zu kommen und zu bleiben. Ob das besser oder schlechter ist als die vergorenen Getränke, die uns gestern Abend beim Grillen begleiteten, kann und möchte ich nicht beurteilen.

Dienstag: Der Rhein führt nach den Regenfällen der vergangenen Woche im Saarland und in Rheinland-Pfalz viel Wasser, wie morgens auf dem sonnenbeschienen Fußweg in die neue Arbeitswoche zu besichtigen war.

Vergleichen Sie gerne mit den Vorwochen

In den Büros nebenan wenig Betrieb, auch ich hatte meine Zelle für mich allein, woran nichts auszusetzen ist. Mein Arbeitstag endete frühzeitig, was nicht ein Ausdruck nachpfingstlicher Arbeitsunlust war, vielmehr stand am Nachmittag der nächste Termin beim Orthopäden an. Der ließ mich erst eine halbe Stunde warten, dann wurde wieder gebogen, massiert, akupunktiert, geklopft und elektrisiert, zum vorerst letzten Mal, wie wir übereinkamen. In den nächsten Tagen muss ich dann mal eine Physiotherapiepraxis mit Krankengymnastik an Geräten (KGG) finden. Es hat keine Eile.

Gelesen bei Herrn Kiezschreiber und zustimmend genickt:

»Warum hatte die Generation meiner Eltern keinen Burn-Out? Weil sie klar zwischen Berufs- und Privatleben, zwischen Arbeit und Familie trennen konnte. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, so sagte man damals. Heute ist Burn-Out ein Massenphänomen, weil viele glauben, diese Grenzen nicht mehr respektieren zu müssen.«

Mittwoch: Aus hier nicht näher darzulegenden Gründen ein Tag für den A die südliche hintere Körperregion.

Während des Mittagessens wurde fast nur über Fußball gesprochen. Nachmittags als Ohrwurm in Dauerschleife Lena Valaitis mit José, dem Straßenmusikanten, woher und warum auch immer. Das hat den Tag nicht besser gemacht.

Donnerstag: Abends nahm ich mit den Wahl-O-Mat vor. Das Ergebnis überrascht: An erster Stelle, gleichauf mit der veganen V-Partei3, von der ich noch nie hörte, die Freien Wähler, die ich dank Herrn Aiwanger ganz bestimmt nicht wählen werde. Erst an fünfter Stelle die SPD, bei der ich mir auch nicht sicher bin, ob sie noch die beste Wahl ist. Etwas dahinter die GRÜNE, auf einer Höhe mit Die Partei von Herrn Sonneborn, auch das ist interessant. Weit dahinter die FDP, aber noch vor CDU/CSU, wie kann das sein. Letztere wiederum ist gleich bewertet wie die Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung, diese seltsamen Vögel, die das ewige Leben anstreben. Andererseits, das versprechen die Christen auch seit zweitausend Jahren, insofern passt es. Immerhin, das ist beruhigend: An letzter Stelle kommt die AfD. – Und wo mache ich nun das Kreuzchen?

Lichtblick am Abend

Freitag: Jeden Freitag haben wir Team(s)besprechung, in der jeder und jede sagt, was sie in der zurückliegenden Woche gemacht haben. Die einen gehen dabei mehr ins Detail, die anderen weniger. Ich zähle mich eher zu den anderen. Manche – immer dieselben – Kollegen sagen, wenn sie dran sind, nach einigen Sekunden Stille: „Ich sollte mich erst entmuten.“ Jede Woche. Das ist nicht schlimm, es ist bezahlte Arbeitszeit.

Unerwartet geriet ich in eine Besprechung auf Englisch. Als wenn das ob meiner verbesserungsbedürftigen Englischkenntnisse nicht schon schlimm genug wäre – einer der Teilnehmer war Inder. Hätte er in seiner Muttersprache gesprochen, hätte ich nicht viel weniger verstanden.

Auch Kurt Kister beschäftigt sich mit den Parteien zur Europawahl:

»Weil ich am 9. Juni nicht im heimischen Wahllokal sein kann, füllte ich jetzt den Briefwahlzettel für die Europawahl aus. Er ist lang, und man kann sich zwischen drei Dutzend Parteien entscheiden. Es ist ein bisschen wie auf einer Website: Je weiter man nach unten scrollt, desto seltsamer werden die Angebote. […] Besonders angetan hat es mir die „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“. Keine Sorge, ich werde jetzt und im Folgenden nicht erläutern, was diese Parteien von sich selbst sagen und was sie wollen. Das kann man, wenn’s einen interessiert, nachlesen. Aber ein EU-Kommissar für langes Leben, am besten für die Abschaffung von Krankheiten überhaupt, wäre eine feine Sache. […] Auch gut hören sich zwei Parteien an, in deren Namen das vorkommt, was einerseits Grundlage jeder Politik sein sollte und andererseits das, was Politik erreichen sollte. Das eine ist die „Partei der Vernunft“, der ich mich, ohne bis dato gewusst zu haben, dass es sie gibt, schon lange angehörig fühlte, wenn auch nicht im parteiorganisatorischen Sinne. Und das andere ist die „Partei des Fortschritts“, deren Namensmilieu ich mich nicht nur als Wanderer verbunden fühle, sondern auch als jemand, der daran glaubt, dass es trotz allem besser werden kann, als es schon mal war.«

Zum Gesamttext bitte hier entlang.

Übrigens ist die Erdbeere keine Frucht, sondern eine Scheinfrucht, steht in der Zeitung. Welch wunderschönes Wort.

Ein anderes schönes Wort hörte ich in der oben genannten Teambesprechung: gottseidankerweise.

Samstag: Anlässlich fünfundsiebzig Jahre Grundgesetz war der Bundespräsident in Bonn, zu Tausenden strömten die Leute ins ehemalige Regierungsviertel, deshalb nahmen wir Abstand von einem Besuch. Auch die Letzte Generation beteiligte sich laut Zeitung mit einer eigenen Aktion, dazu ein Sprecher: »Der Tag der Demokratie wird in Bonn, seiner Wiege, an diesem Tage ganz besonders gefeiert.« Bestimmt fallen auch Ihnen die diesem Satz innewohnenden Fehler sofort auf.

(Ich könnte nun berichten, dass ich stattdessen eine Modelleisenbahnbörse in Wesseling besuchte, wo ich nichts kaufte, dafür an einem Servicetisch ein freundlicher und geduldiger Herr nur gegen eine Spende zwei defekte Triebfahrzeuge aus meiner Sammlung wieder ans Laufen brachte, worüber ich mich sehr freute, nehme allerdings an, das wird Sie nicht interessieren.)

Bekanntlich lehnte Bayern das neue Grundgesetz ab. Das hielt uns gottseidankerweise nicht ab von einem bayrischen Abend zu Hause mit Weißwurst, Wurstsalat, Obatzda, Brezen, Blasmusik und Bier.

Pfundig

Sonntag: Der Sonntagsspaziergang führte heute erst am späteren Nachmittag über die Rheinbrücke nach Beuel zur vergnüglichen Lesung der TapetenPoeten. Übrigens, falls Sie am 8. September in der Nähe sein sollten und nichts Besseres zu tun haben: Dann habe ich die Ehre, dort wieder was vorlesen zu dürfen, schauen Sie also gerne rein. Selbstverständlich sind Sie auch zu anderen Terminen willkommen, wenn ich nichts vorlese.

Auf das Schild?

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Danke fürs Lesen, kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 19/2024: Schmuck am Nachthemd und unnütze Kommata

Montag: Trotz trüber Regenkühle war ich in Anzuglaune. Das Problem: Erst beim Anziehen des Jacketts kurz vor Verlassen des Hauses bemerkte ich, dass es inzwischen merklich spannt, wenn ich die Knöpfe schließe. Daher blieben sie geöffnet und schweren Herzens beschloss ich, dass dies heute sein letzter Einsatz werden würde. Ich fürchte, vorstehendes gilt für die meisten Anzüge in meinem Schrank, die ich lange nicht trug. Ob ich in absehbarer Zeit einen neuen kaufen werde, ist fraglich, im Grunde genommen brauche ich keinen mehr, seit sich die Kleidungsgepflogenheiten im Werk deutlich gelockert haben, was einerseits nicht zu bedauern ist, andererseits doch, da ich ab und an sehr gerne einen Anzug trage.

Der Tag blieb trüb mit nahezu ununterbrochenem Regen; das Siebengebirge, auf das ich vom Büro aus schaue, lag in Wolken gehüllt. So ähnlich fühlte ich mich auch.

Aus einem Leserbrief über Auswüchse der Political Correctness: »Peinlich, dass den Moralaposteln und Gendersensiblen bislang entgangen ist, dass der allseits gebräuchliche Genderstern nicht wenige Menschen an unsere tiefbraune Vergangenheit erinnert.« Bei aller geteilten Skepsis zu diesem Thema: Das erscheint nun doch etwas weit hergeholt.

Dienstag: Statt Anzug- weiterhin Daunenjackenwetter. Morgens leichter Niesel, gerade so wenig, dass es sich nicht lohnte, den Faltregenschirm aus der Tasche zu holen. Der für nachmittags in Aussicht gestellte Sonnenschein zeigte sich nur kurz, ehe aus Nordosten erneut Gewölk mit Regen aufzog. Lichtblick am trüben Himmel war ein Luftschiff, das rheinaufwärts flog und mich kurz von der Werktätigkeit innehalten ließ.

Morgens. Die Rheinuferlinden wirken unvorteilhaft gerupft.
Ich wär‘ gerne mitgeflogen …
Es klärt sich auf zum Wolkenbruch

„Das ist Schmuck am Nachthemd“, hörte ich in einer Besprechung, was sinngemäß eine gewisse Überflüssigkeit zum Ausdruck bringen sollte; vielleicht kennen Sie diese Redewendung längst, mir war sie neu. Im Übrigen bin ich der Meinung, wenngleich ich, im Gegensatz zu meinem vergangenen Vater, derartiges nicht tragen würde, auch Nachtwäsche muss nicht zwingend grau-beige sein.

Mittwoch: Der zweiundzwanzigste Hochzeitstag heißt Bronzehochzeit. Dazu alles Liebe, mein Liebster, und danke, dass du es immer noch mit mir aushältst! – Offenbar hatten wir beide denselben Gedanken, abends kam es zum Austausch von Herzlichkeiten und Blumensträußen.

Vormittags geriet ich in einen intensiven Mailaustausch, weil ein Großkunde einen Wunsch geäußert hat. „Kann man nicht …“, „Man müsste doch …“, „Bis wann geht das …“ und so weiter. Als fachlich Verantwortlicher für das IT-System, das könnte und müsste, teilte ich der Runde mit, dass es dazu bereits lange eine Anforderung gibt auf der langen Liste unerfüllter Wünsche. Nun müsste sich nur noch einer finden, der es bezahlt, dann kann man auch. Ich fürchte nun, irgendwo wird das erforderliche Budget locker gemacht werden mit der Vorgabe der kurzfristigen Umsetzung und ohne Rücksicht auf die bestehende Planung. Dann wird es wieder unnötig hektisch.

Mittags im Park

Was ich in den letzten viereinhalb Jahren überhaupt nicht vermisste waren Aufzuggespräche, wie ich bemerkt, als ich nach der Mittagspause wieder hoch zum Büro fuhr.

Donnerstag: Schon wieder Feiertag, danke den Christen und Vätern, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schnittmenge; wenn Sie in den Siebzigern Grundschüler waren, kennen Sie bestimmt noch die Mengenlehre, eigentlich ganz einfach, viele Eltern überforderte sie jedoch, was erst zu einem Skandal, dann zu ihrer Abschaffung führte. Ich schweife ab.

Eine Menge unterhaltsamer Texte gab es nachmittags bei der Bonntastik-Lesung im Stadtteil Niederholtorf zu hören. Sieben Autorinnen lasen ihre Werke vor, inspiriert durch Bilder eines Bonner Künstlers. Das ganze ist auch in Buchform erhältlich. Da sich das Wetter maimäßig-sonnig zeigte, verband ich den Hinweg mit einem längeren Spaziergang, der mich einigermaßen ins Schwitzen brachte, da Niederholtorf, anders als der Ortsname vermuten lässt, einige Meter höher liegt. Erfreulicherweise fand die Lesung in einer Gaststätte statt, wo des Anstiegs Mühe mit kühlendem Kristallweizen belohnt wurde.

Freitag: Büros und Kantine waren erwartbar leer, weil viele brückentäglich frei hatten, andere lieber zu Hause arbeiteten.

Mittags im Park sah ich mehrere Gänsefamilien mit Nachwuchs in unterschiedlichen Wachstumsstufen Gras zupfen; Schildkröten, die erheblich gewachsen sind, seit ich sie das letzte Mal in ihrer üblichen Teichecke sah, reckten die Köpfe in die Sonne. Nutrias sind keine mehr zu sehen, seit die Stadt sie abknallen letal entnehmen ließ, nur hier und da deutet noch eine zerwühlte Uferkante auf ihr Wirken hin.

Nach der Mittagspause machte ich erstmals von der Möglichkeit Gebrauch, die Schreibtischplatte elektrisch hochzufahren und stehend zu arbeiten*, was aufkommender Müdigkeit entgegen wirkt. Das sollte zur Gewohnheit werden.

*d.h. den Pressespiegel zu lesen wie jeden Tag nach dem Essen

Wie Mittwoch geahnt, wurde heute entschieden, die IT-Anforderung so bald wie möglich umzusetzen, auch das Geld steht bereit. Das ging nun doch überraschend schnell.

Kurt Kister über Sprache:

»Sprache entwickelt sich nicht, sie wird entwickelt. Menschen entwickeln Sprache, verändern sie. Diese Veränderungen der Sprache spiegeln meistens Veränderungen im Denken, häufiger noch im Fühlen der Menschen wider. Es sind nicht einmal die Menschen, die sprachliche Gewohnheiten verändern, sondern Milieus, Schichten oder Interessengruppen, die der Auffassung sind, dieser oder jener Sprachgebrauch entspreche nicht mehr der modernen Sicht der Wirklichkeit, jedenfalls der Wirklichkeit, so wie sie die Angehörigen der sprachverändernden Gruppe(n) wahrnehmen. Die Veränderung von Sprache ist oft auch ein Versuch, „Wirklichkeit“ zu verändern. Und um die aus subjektiven Motiven vorgenommene Veränderung nicht zuletzt gegenüber Skeptikern zu objektivieren, heißt es dann: Sprache entwickelt sich nun einmal.«

Zum Gesamttext hier entlang

Samstag: Mittags brachte ich fast alle Anzüge und mehrere Sakkos zu Oxfam, die gestern Abend nach Anprobe kurzentschlossen ausgemustert wurden. Alles, was am Bäuchlein spannte, flog raus. Mein Lieblingsanzug, den ich vor Jahren im Schaufenster sah und in den ich mich, trotz des nicht gerade günstigen Preises, spontan verliebte, sitzt erfreulicherweise noch immer ganz passabel, nur sehr ungern hätte ich auch ihn weggegeben.

»Wegen einer Störung, kommt es zurzeit zu Verspätungen«, ließ die Laufschrift an einer Straßenbahnhaltestelle die Fahrgäste wissen. Dieses unnütze Komma, nach Satzeinleitungen mit oder unmittelbar vor einer Präposition setzt sich immer mehr durch.

Sonntag: Der Sonntagsspaziergang führte heute wieder, bei bestem Sommerkurzehosenwetter, ans andere Rheinufer. Diese Strecke mag ich besonders, nach knapp einer halben Stunde Fußweg befindet man sich auf dem Land, wo Vogelgezwitscher das vorherrschende Geräusch ist. Heute wurde die Akustikidylle ein wenig getrübt durch ein Partyschiff, dass basswummernd den Rhein auf und ab fuhr.

Bitte denken Sie sich dazu das Lied „Polka, Polka, Polka“.

Die Sonntagszeitung stellt jede Woche im Feuilleton vier Fragen an jemanden aus der Kulturszene, heute den (mir unbekannten) Sänger Dagobert. Eine der Fragen lautet: »Was nervt Sie?« Aus der Antwort: »Schlimmer […] sind eigentlich nur Steinmännchen, die manchmal von bösartigen Wanderern an Flussufer oder Strände gebaut werden und deren einzige Bestimmung es ist, mich zu ärgern. Ihr Anblick löst in mir zuverlässig Aggression und Zerstörungswut aus.« Ähnlich geht es mir bei aus Fingern geformten Herzen, gestern Abend wieder zahlreich zu sehen bei der Übertragung des European Song Contest. Immerhin, der deutsche Beitrag lag verdientermaßen nicht auf dem letzten Platz. Warum die Schweiz gewonnen hat, erschließt sich mir allerdings nicht. Interessanter die Frage, ob der Finne wirklich ohne Hose aufgetreten ist.

***

Kommen Sie gut durch die Woche, lassen Sie sich nicht nerven.

Woche 39/2022: Nahezu perfekt und relativ glücklich

Montag: Die bekannte Fischrestaurantkette bietet als „Fang der Woche“ Wels-Currywurst mit Pommes an, wie ich morgens auf dem Weg zum Bahnhof sah. Guten Appetit.

Ich reiste ins Allgäu, wo ich vier Tage lang den ersten Alleinurlaub seit – lassen Sie mich überlegen: sechsundzwanzig Jahren verbrachte. (Zuletzt war ich 1996 allein auf Gran Canaria, nachdem sich mein damaliger Freund von mir getrennt hatte und der Kessel brummte; das ist eine andere Geschichte.) Hier im Allgäu machten wir oft mit der Familie Urlaub, deshalb war es auch eine Reise in meine Jugend.

Die Bahnfahrt verlief nicht pünktlich, doch immerhin so wenig verspätet, dass ich in Ulm den Anschluss noch bekam. Bis Ulm reiste ich im Abteil, weil der gebuchte Intercity in der ersten Klasse, die ich mir gönnte, nur Abteilwagen aufwies. Derart reise ich ungern wegen der Gegenüberfußproblematik und der Gefahr, ins Gespräch verwickelt zu werden. Es sprach trotz fünf belegter Plätze jedoch niemand, einschließlich Gruß- und Abschiedsformel. Zudem hatte ich einen Fensterplatz mit Blick auf den Rhein, also nahezu perfekt.

„Tragen Sie Ihre Maske aktiv über Mund und Nase“, wurde regelmäßig durchgesagt. Wie trägt man eine Maske aktiv, und wie passiv?

Ab Memmingen nahm ich erstmals trotz verhüllter Nase den regionaltypischen Kuhdungduft wahr und lächelte unter der aktiv getragenen Maske. Sie werden vielleicht zu recht einwerfen, dass die bedenkliche Ausbringung von Gülle Ursache dieser olfaktorischen Empfindung ist. Dem widerspreche ich nicht, möchte damit nur zum Ausdruck bringen, dass genau dieser Geruch für mich untrennbar mit den früheren Familienurlauben verbunden, somit positiv besetzt ist.

Bei Ankunft am Zielbahnhof lächelte ich noch mehr
Die Dieseltriebzüge der Baureihe 633 weisen nicht nur eine übelgelaunte Physiognomie auf, sie sind auch recht unkomfortabel und dröhnen innen sehr laut. Für längere Reisen nicht zu empfehlen.
Im Hintergrund der Niedersonthofener See

Nach Ankunft in Martinszell (eigentlich Oberdorf, der Ort Martinszell liegt etwa einen Kilometer vom gleichnamigen Bahnhof entfernt) schloss sich ein etwa einstündiger Spaziergang zur Unterkunft in Niedersonthofen an, den ich bei Sonnenschein auch innerlich strahlend zurück legte. Ich sah viel Vertrautes; gleichwohl hat sich in den vergangenen zweiunddreißig Jahren, seit ich das letzte Mal hier war, einiges verändert.

Gegen Abend der See nochmal aus der Nähe
Der Grünten, gleichsam der Mont Ventoux des Oberallgäus

Abendessen im Restaurant. Der Landgasthof ist für Einzelesser nicht optimal möbliert. So belegte ich alleine einen Sechsertisch und hatte fast ein schlechtes Gewissen, als ich das zweite Bier bestellte. Hauptsache, mir wurde kein auf Englisch das Gespräch suchender Beisitzer zugeteilt. (Da ich diesen Gedanken bei Tisch ins Notizbuch schrieb, halten sie mich jetzt vielleicht für einen Testesser von Michelin. Mal sehen wie der Service in den nächsten Tagen wird.)

Als Absacker bestellte ich einen Enzian. Schmeckte gar nicht mal so gut, außerdem ist er klar, nicht blau. Heino lügt. (Kleine Gaudi am Rande, verzeihen Sie. Ich weiß natürlich, dass Enzian blau blüht.)

Dienstag: Bereits vor dem Weckergetöse wachte und stand ich auf. Bis mittags regnete es andauernd, was mich dank Lektürevorrat nicht grämte. Als der Regen kurz nach zwölf nachließ, machte ich mich auf zu der Tour, auf die ich mich seit Buchung dieses Aufenthalts am meisten freute. Sie führte über Oberdorf (bitte nicht verwechseln mit Oberstdorf) durch das Werdensteiner Moos, über Eckartz, Freibrechts und Gopprechts zurück nach Niedersonthofen.

Auf dem Weg nach Oberdorf
Mont Grünten in Wolken, rechts hinten die Oberst(!)dorfer Alpen
Letztere aus anderer Perspektive
Zwischen Oberdorf und Eckartz
Ebenso, nun sonnenbeschienen
Gopprechts
Es muss schlimm sein, den Tag mit so einer Glocke am Hals zu verbringen. Immerhin wurden ihnen nicht, wie den meisten Artgenossinnen, in jungen Jahren die Hörner weggeätzt. Insgesamt wirkten sie relativ glücklich.

Das Werdensteiner Moos ist ein ehemaliges Torfabbaugebiet, das ab den Neunzigerjahren renaturiert worden ist. Bis dahin war es ein unzugänglicher Wald, so kannte ich es noch aus früheren Urlauben. Heute führt ein Rundweg hindurch, mit Informationstafeln zur Geschichte des Torfabbaues und Natur des Mooses/Moores.

Zwischendurch regnete es immer wieder. Dennoch – und trotz nach Rückkehr feuchter Füße – stimmten Vorfreude und Ereignis völlig überein.

(Während dieser Niederschrift übt im Gasthof nebenan die örtliche Blaskapelle. Ich mag Bayern sehr, trotz Söder, Scheuer und [bitte denken Sie sich hier ein besonders intensives Würgegeräusch] Dobrindt.)

Mittwoch: Wie morgens beim Frühstück zu hören war, werden in Kempten händeringend Busfahrer gesucht. Dabei stelle ich mir vor, wie Leute diverser Verkehrsbetriebe sich in eine wild aufgemischte Menschentraube drängen, jeden fragen „Sind Sie Busfahrer?“, und sobald jemand ja sagt, stürzen sich alle auf ihn und es kommt zum Handgemenge.

Es regnete durchgehend den ganzen Tag, wie angekündigt. Das hielt mich nicht von einem längeren Spaziergang durch Oberdorf und Martinszell ab; nach monatelanger Vorfreude blieb ich nun nicht wegen Fußfeuchtegefahr im Zimmer. Nach Rückkehr waren die Schuhe komplett durchnässt, das war es wert. Vielleicht sollte ich mir mal wasserdichte Wanderschuhe zulegen.

Niedersonthofener See im Regen, Blick zum Westufer

Mein Unterkunft gewährendes Gasthaus hatte heute Ruhetag, deshalb aß ich abends (ebenfalls sehr gut) in einem Wirtshaus etwas außerhalb des Ortes. Es heißt „Sonne“, immerhin ein Lichtblick an diesem Regentag. Und doch: Alleine zu essen macht auf Dauer keinen Spaß. Drei Tage Alleinzeit sind vorerst genug, ich freue mich auf die Rückkehr in die Arme der Lieben morgen Abend.

Auf dem Rückweg vom Essen war der Grünten verschwunden, vergleiche Montag, letztes Bild

Donnerstag: Tag des Abschieds vom Allgäu. Noch immer regnete es, was den Abschiedsschmerz auch hier (siehe vergangene Woche) ein wenig linderte.

Ein letzter Blick zurück auf das umwölkte Niedersonthofen

Die Züge waren sehr voll, bereits der (viel zu kurze) Regionalexpress nach Ulm in der zweiten Klasse vollbesetzt. Wo wollten die vielen Leute hin an einem gewöhnlichen Donnerstagmittag? Vorausschauend hatte ich ja erste Klasse gebucht und fand ein angenehmes Plätzchen. Hinter Kempten geleitete die Zugbegleiterin ein älteres Paar, dessen männlicher* Teil nicht gut zu Fuß war, in das Erste-Klasse-Abteil und bat uns bereits darin Sitzende um Verständnis. Meine Frage, wofür, schließlich hatte ich nur für einen Platz bezahlt und den auch bekommen, wurde mit Kaffee-Gutscheinen für alle Abteilinsassen beantwortet, den ich allerdings zurückließ, da er nur an bestimmten süddeutschen Bahnhöfen einlösbar war, von denen ich bis Jahresende voraussichtlich keinen mehr aufsuchen werde.

*mutmaßlich, man darf das ja nicht mehr einfach so behaupten anhand äußerlichen Anscheines.

Im ICE nach Mannheim saß vor mir eine Frau, die allerlei Business-Blödsinn in ihr Telefon absonderte, und diesen Satz: „Tobi und ich haben diese Challenge, wer zuerst die Heizung andreht.“ Cool, hätte man wohl früher gesagt; wie man heute sagt, weiß ich nicht und es ist mir auch egal.

Ab Mannheim wurde mir das außergewöhnliche Vergnügen zuteil, in einem Panoramawagen der Schweizer Bundesbahn Platz zu nehmen. Eine angenehmere Art zu reisen ist kaum denkbar, obwohl man sich auch hier gegenüber sitzt, immerhin ohne diesen beengenden Tisch dazwischen.

Wenn gegen Ende einer längeren Reise das Siebengebirge zu sehen ist, geht mir jedes Mal das Herz auf

Weitere Beobachtungen und Erkenntnisse innerhalb und außerhalb des Zuges:

  1. In Memmingen gibt es Lärmschutzwände mit Lurchlöchern. Das sind kleine Öffnungen am Boden, darüber in etwa ein Meter Höhe jeweils ein Schild mit einem stilisierten Schwanzlurch oberhalb eines auf der Spitze stehenden Dreiecks, somit für die Durchgang begehrenden Lurche viel zu hoch angebracht.
  2. Selbst Fabrikschornsteine wurden im neunzehnten Jahrhundert schmuckvoller gebaut als heute die meisten Wohnhäuser.
  3. Bei Jungs mit knöchelfrei getragenen Hosen schwanke ich häufig zwischen „wie erotisch“ und „wie albern“. Bei Männern über vierzig bin ich mir sicher.
  4. Es ist lächerlich, einen Fachhandel „Küchen Kompetenz Centrum“ zu nennen.

Freitag: Immer noch Urlaub. Dies nahm ich zum Anlass, auswärts zu frühstücken, in einer Gaststätte in der Bonner Südstadt, die bei Ankunft wenige Minuten nach Öffnung schon gut besucht war, nicht nur von Menschen im Rentenalter. Haben die nichts zu tun? Grund mag das anheimelnde Ambiente des Lokals sein; die Qualität des gereichten Frühstücks spricht indessen nicht dafür: Zum „Französischen Frühstück“ wurde kein Baguette serviert, dafür ein Körbchen mit einem Croissant (immerhin), einer Scheibe Vollkornbrot und einem Brötchen. Letzteres war offenbar billigste Aufbackware, das bereits beim Aufschneiden in mehrere Teile zerbröselte. Daher werde ich dort wohl nicht mehr so bald frühstücken.

Im Rewe sind die ersten Weihnachts-Süßwaren erhältlich, was wieder einige Konsumenten auf die Palme (beziehungsweise Tanne) bringen wird. Ich blieb am Boden, freute mich und packte einige Nougat-Marzipan-Riegel ins Körbchen.

Samstag: Ein ungewöhnlich milder Tag. Mittags in der Fußgängerzone bemerkte ich, wie nur drei Tage Allgäu ausgereicht haben, mich von Menschen in größerer Zahl zu entwöhnen und wie wenig ich es vermisst habe – Leute, die langsam vor mir her gehen und einfach stehen bleiben; Kinderwagen, die mir in die Hacken geschoben zu werden drohen; Fahrräder und Elektroroller im Fußgängerslalom; Tier-/Kinder-/Umwelt- Wasauchimmerschützer, die arglose Passanten an ihre Stände zu zerren suchen, um ihnen ein Gespräch aufzuzwingen.

Sonntag: Zwei Wochen Urlaub sind zu Ende, somit die großen Vorfreude-Ereignisse für dieses Jahr aufgebraucht. Erfreuen wir uns also weiterhin an Kleinigkeiten, die das Leben auch im Alltag bereithält.

Wie solches – das Ende eines jeden menschlichen Seins kann schöner kaum beschrieben werden:

… sie werden wohl jenen unbeliebten, aber notwendigen natürlichen Prozessen zum Opfer gefallen sein, mittels welcher die Kreisläufe des Organischen immer weiter zu kreisen befähigt sind.

Max Goldt: Preisung der grotesken Dame

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Ich wünsche Ihnen einen erfreulichen Feiertag, eine angenehme Woche und mir einen nicht allzu unlustschweren Neustart in den Arbeitsalltag. Zum Glück erst Dienstag.

Woche 17: Womöglich noch ein paar Jahre

Montag: Nach einer Woche Werksabstinenz wird besonders deutlich, wie sehr ich Sätze wie „Wir müssen jetzt das Momentum nutzen“ und „Ich habe um zwölf einen harten Anschlag“ nicht vermisst habe.

Laut einem Zeitungsartikel heißt die Leiterin der Duden-Redaktion Kathrin Kunkel-Razum. Das klingt auch wie ein harter Anschlag, beziehungsweise Aufschlag, etwa wenn eine Blechtonne auf einer LKW-Ladefläche umfällt und auf den Asphalt knallt, schriftvertont durch die legendäre Entenhausen-Korrespondentin Erika Fuchs. Eigentliches Thema des Artikels war die geplante Umstellung der amtlichen Buchstabiertafel auf Städtenamen, statt „Cäsar“ vielleicht künftig „Castrop-Rauxel“, „Schloss Holte-Stukenbrock“ statt „Schule“, warum nicht, kann man machen. Aus demselben Artikel: „Ä wie Ärger ist eben typisch deutsch.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Gelesen bei Frau Anje: „Auch nach über einem Jahr Pandemie genieße ich es immer noch, dass es keinerlei gesellschaftliche Verpflichtungen gibt, ich fürchte, meine Abneigung gegen Menschenversammlungen lässt sich nicht mehr heilen.“ Genau so fühle ich auch.

Dienstag:Wir können mit einiger Sicherheit sagen, dass die Pandemie keinen signifikanten Einfluss auf die globalen Militärausgaben 2020 hatte“, wird jemand in der Zeitung zitiert. Welch Lichtblick in dieser trüben Zeit.

Auch ein Lichtblick: Unser bescheu gar großartiger Bundesverkehrsminister verkündet den „Nationalen Radverkehrsplan 3.0“. Aha. Was genau waren nochmal die Inhalte der Radverkehrspläne 1.0 und 2.0? Vielleicht solches:

(Schonmal gezeigt im vergangenen Jahr)

Mittwoch: Die Werbewirtschaft ist sauer auf Apple, weil es jetzt Nutzern ermöglicht, das sogenannte Tracking durch externen Apps zu unterbinden. Deswegen hat sie sich an das Bundeskartellamt gewandt: „Durch diese einseitig auferlegten Maßnahmen schließt Apple faktisch alle Wettbewerber von der Verarbeitung kommerziell relevanter Daten im Apple-Ökosystem aus“, so die Begründung. Das ist etwa so, als verklagte die Einbrecherinnung den Hersteller neuartiger Sicherheitsschlösser. Auf die Entscheidung bin ich gespannt.

Klage ist auch immer wieder zu hören über sogenannte „kulturelle Aneignung“, etwa wenn sich eine weiße Sängerin Rastalocken kleistern lässt. Wie viele der derart Empörten ohne Asienhintergrund mögen wohl dennoch ihr Sushi mit Stäbchen essen, nur um damit anzugeben, dass sie es können?

Es ist immer wieder schön, nach einem Werktag heimzukehren zu den Lieben. Gestern: „Was bis du spät.“ Heute: „Was willst du denn schon hier?“ Manchmal weiß ich auch nicht.

Donnerstag: Die Zeitung berichtet über eine Radfahrerin, die mit dem Fahrrad eine rote Ampel missachtete und deshalb hundert Euro zahlen musste. Das findet sie empörend, denn: „Meist fühle ich mich natürlich als ‚Klimaretter’ im Recht und lege bei mir nicht einsichtigen Verkehrsregeln das ein oder andere Mal diese zu meinen Gunsten aus.“ Damit verkörpert die Dame eine Haltung, die in unserer Gesellschaft zunehmend um sich greift, sei es bei der Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr oder Corona-Abstandsregeln. Viele legen ihnen nicht einsichtige Regeln zu ihren Gunsten aus, auch ich betrachte manche Fußgängerampel eher als unverbindlichen Vorschlag. Werte Frau W, wenn Sie der Meinung sind, sich nicht an Regeln halten zu müssen, dann akzeptieren Sie bitte mögliche Konsequenzen, anstatt Zeitungsleser mit ihrem Egoismus zu belästigen.

Nach sonnigem Fußmarsch am Morgen …

… tobte mittags Tief „Christian“ mit Sturm und Regen durch die Stadt, beruhigte sich im Laufe des Tages jedoch wieder. Erst am Abend brauste es wieder etwas auf, wenn auch nur im häuslichen Rahmen.

Ansonsten lernte ich heute das mir neue Wort „pejorativ“ kennen, laut Duden bedeutet es „abwertend, eine negative Bedeutung besitzend“. So wie für manche Menschen Verkehrs,- Ab- und Anstandsregeln.

Freitag: Stell dir vor, es ist Ende April und wir verlassen das Haus morgens immer noch mit Schal und Handschuhen. (Bitte dies ausdrücklich nicht als Zweifel an der Klimaerwärmung verstehen.)

Samstag: Der Mai ist gekommen. Erstmals steht auch bei uns im Hof ein Maibaum, sofern man dieses dürre, frühzeitig herzlos aus dem jungen Leben gesägte Birkenkind mit zwei farbigen Krepppapierbändern als „Baum“ bezeichnen möchte. Herzlos ist hier wörtlich zu nehmen – da das sonst bei Maibäumen übliche rote Sperrholzherz mit Namenszug fehlt, bleibt offen, wer die oder der Angebetete ist und wer den Baum aufstellte. Gleichsam das amouröse Pendant zum Grabstein des unbekannten Soldaten, der auf fast jedem Friedhof zu finden ist.

Sonntag: Der Spaziergang führte entlang eines größeren, bei Hundehaltern beliebten Areals im Bonner Norden, wo sie heute wieder in größerer Anzahl anzutreffen waren, Hunde wie Halter. Auch wenn mir das egal sein kann und ich in keiner Weise belästigt wurde – solange ich in dieser Welt wandele, also womöglich noch ein paar Jahre, wird sie und mich ein tiefer Graben gegenseitigen Unverständnisses trennen, da bin ich mir ziemlich sicher.

Woche 7: Wir werden langsam dünnhäutiger

Montag: Morgens unterstrich heftiger Gegenwind meine Unlust, ins Werk zu radeln, die nur mittelbar auf den heutigen Konjunktiv-Rosenmontag zurückzuführen war. Eine generelle Unlust zeigten auch diverse digitalen Geräte, die meinen Tag begleiteten, angefangen morgens das Radio im Bad, das mehr zwischenspeicherte denn spielte, was bei dem Programm („Schreiben Sie uns Ihre Meinung auf Facebook, rufen Sie uns an unter … Hörer Mike aus Wuppertal findet, dass …“) nicht so schlimm ist, nur ist man es kaum noch gewohnt, nicht beschallt zu werden. Auch der Rechner im Büro lief sehr langsam und ließ sich Zeit beim Laden einer jeden Seite, die Skype-Verbindung brach mehrfach zusammen, was nicht immer ein Nachteil war.

Gegen Mittag setzte Regen ein, die angekündigte Glätte blieb erfreulicherweise aus, daher konnte ich mir ohne Zwischenfälle was aus der Kantine holen, heute sogar mit roter Götterspeise zum Nachtisch, die gab es lange nicht. Oft liegt das Glück gerade in diesen kleinen Dingen.

In der Zeitung war über „Impf-Vordrängler“ zu lesen, vielleicht ein Kandidat für das Wort oder Unwort des Jahres, oder ein zeitgemäßer Nachfolger für den inzwischen reichlich abgenutzten Warmduscher.

Ein anderes interessantes Wort ist „Urgroßtochter“, als welche in derselben Zeitung eine gewisse Paris Hilton bezeichnet wurde. Darf man aus Gründen der sprachlichen Korrektheit nicht mehr „Urenkelin“ sagen oder schreiben?

Dienstag: Erster Nachtrag zu gestern: Der Miniatur-Rosenmontagszug im Hänneschen-Theater zu Köln war wirklich anrührend schön.

Zweiter Nachtrag: Gestern Abend beim Zähneputzen spielten sie im Radio dieses Lied, das mir seitdem ziemlich hörenswert erscheint und daher als mehrstündiger Ohrwurm herzlich willkommen ist (ganz im Gegensatz zu dem schrecklichen, gleichwohl sehr beliebten „Jerusaleme“, dem zurzeit leider kaum zu entkommen ist).

Der Arbeitstag bestand im Wesentlichen aus einer durchaus angenehmen Abteilungstagung, aus gegebenem Anlass nur am Bildschirm. Abends gab es ein gemeinsames virtuelles Koch-Event. Ich würde meine Kollegen wirklich gerne wiedersehen, nach getaner Arbeit gut zusammen essen und ein paar Gläser leeren, quatschen und lachen, ein abschließendes Abendglas an der Hotelbar, das alles fehlt mir sehr. Sie auf einem kleinen Bildschirm in der heimischen Küche um mich zu haben, finde ich indessen äußerst deprimierend. Daher sah ich von einer Teilnahme ab; ich bitte um Verständnis.

Eine Frage, die ich mir schon oft stellte und vermutlich auch schon hier aufschrieb, stellt sich auch Kurt Kister in seiner wöchentlichen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung:

„Unerwartet verstorben“, wie es so schön heißt, wobei man sich fragt, woher die unheimliche Karriere des Verbs „versterben“ rührt, das eigentlich nur „sterben“ heißen sollte, auch weil man die Vorsilbe „ver-“ nicht braucht, um tot zu sein.

Ich freue mich immer wieder, wenn ich nicht der einzige bin, dem sowas auffällt.

Mittwoch: Nur auf Bildschirmen fand in diesem Jahr auch der politische Aschermittwoch der Parteien statt, was dessen generelle Überflüssigkeit noch einmal unterstreicht.

Nach der Eiseskälte vergangener Woche wird es langsam Frühling. Erstmals in diesem Jahr nahm ich das Mittagessen unter freiem Himmel hinter dem Mutterhaus ein, und die Singstarkrähe von gegenüber beschrie abends bei geöffnetem Fenster die Siedlung. Nur der Rheinauenpark ist noch nicht völlig vom Eise befreit.

Donnerstag: Vergangene Nacht träumte ich von Markus Söder, was genau, ist nicht mehr zu rekonstruieren, vielleicht besser so. Ansonsten schlief ich zufriedenstellend.

Abends war die häusliche Stimmung ohne erkennbaren Grund trübe, erst war der Eine übellaunig, dann der Andere, ein Zustand, den ich nur schwer ertrage. Da ich mich daran unschuldig wähnte, nahm ich es hin und spielte mit der Eisenbahn. Das mag infantil klingen, entspannt mich aber sehr; andere geben sich Ballerspielen hin oder besaufen sich. Wir werden langsam alle dünnhäutiger.

Was mich zu einem spontanen Verslein inspirierte: „Ich glaube, bald / es heftig knallt.“

Freitag: Hier erhalten Sie interessante Einblicke in den Arbeitsalltag eines Human Identity Brand Synergist.

„Wer ist die verrückteste Person in deinem Leben?“, fragt Franco Bollo. Ohne lange zu überlegen könnte ich dieses Frage spontan beantworten, doch werde ich mich hüten, am zurzeit recht dünnen Faden des häuslichen Friedens unnötig zu zerren.

Samstag: Laut Zeitung haben heute diejenigen Namenstag, die Korona heißen. Das dürfte wohl zurzeit so ziemlich der einzige Lichtblick in ihrem Leben sein.

Wegen des akuten Frühlingseinbruchs verband ich den Gang zum Altglascontainer mit einem Spaziergang. Am Straßenrand parkte ein Golf II, so einer wie ich ihn früher fuhr, mit H-Kennzeichen. Abgesehen von der Fragwürdigkeit, Halter so alter Karren Steuererleichterungen zu gewähren: Was sagt das über mein Alter aus? Bekomme ich demnächst auch so ein H verpasst, und wenn ja, wohin?

Sonntag: Ich sehe Licht / es knallt noch nicht.

Es geht auch ohne Knallerei – gesehen im Vorbeigehen:

Gelesen – am 9. März 1931 entschied der Disziplinarhof zu Leipzig:

„Die Betätigung eines Beamten für die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) ist ein Dienstvergehen, da sie den Umsturz der bestehenden Staatsordnung im Wege der Gewalt beabsichtigt.“

Quelle: EISENBAHN-KURIER

Das hat dann so viel auch nicht genützt.

Auch gelesen – über Werbung:

»Es gibt Werbung, die einen todsicher davon abhält, das beworbene Produkt zu kaufen. Bei manchen löst etwa die Radiowerbung für ein Müsli, die mit einem schwäbelnden „Woisch Karle“ beginnt, Mordphantasien aus.«

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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