Woche 39/2023: Alles ist für irgendwas gut

Montag: Der Arbeitstag lief trotz Montag und aufkommender Erkältung (nein, ich weiß nicht, ob Corona, es interessiert mich auch nicht sonderlich; wenn es schlimmer wird, gehe ich nicht arbeiten, ganz einfach) ganz zufriedenstellend. Für den Abend war zu einem kollegialen Grillen bei Wachtberg-Berkum eingeladen. Vielleicht noch euphorisiert von der erfreulichen Radtour mit dem Liebsten am Vortag hatte ich kurzfristig beschlossen, auch zum Grillen mit dem Fahrrad zu fahren. Vielleicht nicht die klügste Entscheidung bei einer aufkommenden Erkältung, zumal mir erst auf dem Weg zunehmend klar wurde, warum der Ort Wachtberg heißt und nicht etwa Wachttal oder wenigstens –ebene. Auch die Rückfahrt gestaltete sich mangels Wegekenntnis und Straßenbeleuchtung zunächst abenteuerlich trotz aktivierter Navigation im Datengerät, das in der Hosentasche vor sich hin brabbelte. Hier war es klar von Nachteil, nicht zur jungen Generation zu gehören, der es mühelos gelingt, mit Blick auf das Gerät in der Hand Fahrrad zu fahren; ich benötigte hingegen volle Aufmerksamkeit für die unbeleuchtete Strecke durch Wald und Feld, über Stock und Stein, immerhin auf dem Rückweg fast durchgängig bergab. – Morgen hat das Fahrrad Pause. Das Sitzfleisch auch.

In der Zeitung wird ein Student vorgestellt, der Dependency and Slavery Studies studiert, im dritten Mastersemester. Bin ich der einzige, der darin eine gewisse Komik sieht?

Dienstag: Am frühen Nachmittag, als sich der Frühherbst noch einmal mit Sonne und angenehmer Wärme von der besten Seite zeigte, beschloss ich, krank zu sein, meldete mich ab, fuhr mit der Bahn nach Hause und legte mich sofort ins Bett, das ich bis auf Weiteres für den einzig sinnvollen Aufenthaltsort für mich halte, derweil die Nase läuft und der Kopf in bleiernde Watte gehüllt ist.

Morgens ging es noch

Sogar Lesen wurde anstrengend, deshalb schloss ich die Augen und schlief bald ein. Nach dem Aufwachen, die Dämmerung setzte bereits ein, geriet ich in einen interessanten Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen, Gedanken kamen und zogen vorbei, keine unangenehmen, wie Schiffe auf dem Rhein, manche lösten sich während des Denkens einfach auf, nach Treffer versenkt. Auch manche aufschreibenswerte Formulierung fiel mir ein, verdampfte mangels Notizwille aber wieder.

Apropos auflösen: Im SPIEGEL ein kritischer Artikel über ein Unternehmen, dass im Todesfalle die Kompostierung des Körpers anbietet, „Reerdigung“ nennen sie das. Ein Kritikpunkt ist, der Körper löst sich nach der vorgesehenen Zeit keineswegs vollständig auf, vor allem Knochen bleiben übrig, die anschließend geschreddert werden. Da sich das im Prospekt pietätlos liest, werden die Knochen laut Unternehmen „verfeinert“, welch wunderbare Formulierung. Andere sehen in dieser Methode eine Störung der Totenruhe, was auch immer das sein soll. Bei was soll der Tote gestört werden, wacht er womöglich gar auf?

Mittwoch: Meine größte Leistung lag heute darin, im Laden nebenan eine Flasche Milch zu kaufen für das Müsli zum Frühstück. Dazu schenkte mir die freundliche Verkäuferin eine winzige Stulle, anlässlich der Woche des Butterbrotes, wie sie sagte. Belegt war sie mit einer nicht näher zu definierenden, vermutlich veganen und durchaus wohlschmeckenden rötlichen Paste. Geschmackssinn und Appetit sind unbeeinträchtigt. Ansonsten verbrachte ich die meiste Zeit schlafend. Mehr ist für diesen Tag nicht zu vermerken. Im Übrigen bin ich ein großer Freund der These, alles ist für irgendwas gut.

Donnerstag: Da ich mich morgens weiterhin ungesund fühlte, entschloss ich mich für einen weiteren Tag im Bett. Die Nase hat sich im Laufe des Tages etwas beruhigt, Müdig- und Duseligkeit im Kopf haben sich gelegt. Morgen versuche ich es wieder mit Werktätigkeit.

Freitag: Der erste Arbeitstag nach dreitägigem Siechen verlief zufriedenstellend, ich habe während der Abwesenheit nichts wesentliches verpasst. Die Nase schnupft noch etwas nach, was will man erwarten; mit der Rückkehr zum gewohnten Stofftaschentuch warte ich noch ein paar Tage.

Im Anschluss hatte ich einen Beratungstermin bei Fielmann, auf Drängen des Liebsten. Nicht wegen Sehnot: Schon lange habe ich immer wieder Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen, wenn Hintergrundgeräusche wie Livemusik oder Restaurantraunen stören, was ich oft, wie mehrfach beschrieben, eher als Vor- denn als Nachteil empfinde, etwa in der Bahn oder der Kantine. Nicht so schön, wenn wir zu zweit oder dritt in der Gaststätte sitzen und jeder zweite Satz wiederholt werden muss, deshalb der Termin. Der freundliche junge Hörexperte schaute mir in die Ohren, erkannte rechts einen engen Gehörgang, ansonsten alles bestens. Danach durfte ich einen Kopfhörer aufsetzen (für Rheinländer: anziehen) und per Knopfdruck die Wahrnehmung verschieden hoher Töne bestätigen. Schließlich musste ich aus Zimmerlautsprechern gesprochene einsilbige Wörter wiederholen, für einen Ostwestfalen, gleichsam Experte der Einsilbigkeit, kein Problem. Nur einmal hörte ich falsch, „Reis“ statt „Preis“, was aber fast allen passiert, so der Hörmann. (Er hieß übrigens Brausen, was ich für seinen Beruf sehr passend finde.)

Ergebnis: Ein paar altersgerechte Schwächen bei hohen Frequenzen sind erkennbar, jedoch insgesamt weit entfernt von der Notwendigkeit einer Hörhilfe. Vielleicht sollten sich auch einfach meine Gesprächspartner etwas mehr Mühe beim Sprechen geben. Abends in der Gastronomie verstand ich meine Lieben trotz erheblichem Brauhausbrausen im Saal übrigens recht gut. Es geht doch.

Da für morgen ein Besuch der Mutter in Bielefeld ansteht, machte ich abends, als verantwortungsvoller Sohn ohne kurzfristige Erbabsichten, in Anbetracht der ausklingenden Erkältung doch noch einen Coronatest, ebenfalls mit zufriedenstellendem Ergebnis.

Samstag: Wegen des Mutterbesuchs verließ ich Bett und Haus zu samstäglicher Unzeit, das war nicht schlimm, ich hatte an den Tagen zuvor ausreichend geschlafen.

Die Reise nach Bielefeld erfolgte mit dem Bahn-Nahverkehr, wozu leistet man sich ein zum Deutschlandticket gewandeltes Jobticket und fährt dann doch meistens mit dem Rad oder geht zu Fuß ins Werk, nicht wahr. Ein Blick in die Bahn-App beim Morgenkaffee ließ eine interessante Reise erwarten: fast alle Verbindungen verspätet oder ausgefallen, auch die von mir vorgesehene. Eine andere, wenige Minuten früher, war noch grün, die sollte es sein, ebenfalls mit zweimal umsteigen.

Positiv: Die erste Bahn bis Wuppertal war pünktlich, die zweite bis Hamm verspätet, allerdings wartete die dritte bis Bielefeld in Hamm auf die zweite. Und bis Hamm hatte ich durchgehend einen Sitzplatz, sogar am Fenster. Andere, sehr viele andere nicht. So komme ich zu

Negativ: Es ist mir ein Rätsel, warum man als Betreiber (National Express und Eurobahn) oder Besteller, ich weiß nicht, wer schuld ist, zu Beginn der Herbstferien (das hatte ich bei Planung der Reise nicht bedacht, gebe ich zu) auf einer solchen Strecke nur einteilige Triebzüge einsetzt. Die Fahrgäste quetschten sich in den Gängen wie Pinguine im Schneesturm. Ab Hamm stand auch ich im Gang, immerhin nicht ganz so gequetscht, ab Rheda-Wiedenbrück setzte ich mich, wie andere auch, in die erste Klasse. Ich wäre bereit gewesen, den Mehrpreis zu entrichten, fand in der Bahn-App aber keine Möglichkeit dazu. Dann eben nicht.

Wieder positiv: Für die Rückfahrt entschied ich mich daher für die gute alte Deutsche Bahn und ihren ICE. Hier muss und möchte ich die Vielgescholtene ausdrücklich loben: Der Zug fuhr in Bielefeld pünktlich mit reichlich freien Sitzplätzen ab und erreichte (nach bemerkenswertem Fahrtverlauf: Hagen und Wuppertal wurden einfach durchfahren, dafür Halt in Solingen) pünktlich Köln, wo diese Zeilen getippt wurden voller Hoffnung, auch das letzte Stück ohne nennenswerte Verspätung zu schaffen. – Nachtrag: Im Sinne des Fahrplans kam der Zug nicht pünktlich in Bonn an, vielmehr eine Viertelstunde zu früh. Das erlebt man auch nicht oft.

Gelesen auf einem Werbeplakat in Köln: »Dyson macht unsichtbaren Staub sichtbar«. Meine Erwartung an einen Staubsauger, zumal einen hochpreisigen, wäre genau das Gegenteil.

Gehört auf der Hinfahrt in der überfüllten Eurobahn nach Hamm, eine ältere Dame zu ihrem Begleiter: „Wir sind eine Rucksackgesellschaft geworden.“ Womit sie zweifellos recht hat.

Sonntag: Nach Krankheit und Ostwestfalenbesuch endlich wieder ein Sonntag mit gewohntem Ablauf: Ausschlafen, Frühstück mit den Lieben, Sonntagszeitung, Spaziergang. Während der Dreimonatskalender im Büro auf dem unteren Blatt bereits November anzeigt, ist es weiterhin irritierend sommerlich. So fanden Frühstück und Zeitungslektüre, mit Wespenbesuch, auf dem Balkon statt, und der morgens gewählte Pullover erwies sich beim Spaziergang als zu warm. Außerdem hat der Lieblingsbiergarten am Rhein noch immer geöffnet, und wo ich da schon mal zufällig vorbeikam – Sie wissen schon. Alles ist für irgendwas gut.

Alle Bötchen sind schon da

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 8/2023: Flugmodus ist ein schönes Wort für Unerreichbarkeit

Montag: Nachlese zum Zoch in Bad Godesberg gestern: Es hat Spaß gemacht, wieder dabei zu sein. Auch wenn es zwischendurch kurz und zum Glück nur leicht regnete und die Fortbewegung immer wieder für mehrere Minuten stockte, unter anderem weil das Technische Hilfswerk mehrere Begrenzungspfähle aus dem Weg flexen musste, bevor es weitergehen konnte. Kann ja passieren.

Foto: Wolfgang Sitte

Am Ende reichte es auch und es war angenehm, in die warme Godesberger Stadthalle zurückzukehren (also den Teil, der nicht wegen Einsturzgefahr gesperrt ist), wo sich der Tag in einer vereinsinternen Party fortsetzte. »Der Zug, der Zug, der Zug hat keine Bremsen« lautet der inhaltlich eher flachwurzelnde Text eines Liedes, unter bestimmten Voraussetzungen* dennoch geeignet, erwachsene Menschen jauchzend hintereinander weg durch den Saal sausen zu lassen, den Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen *räusper*. Die Halle hielt, auch der einsturzgefährdete Teil.

Eher gebremst war heute unser Elan, ab Mittag den Bonner Zoch anzuschauen, obwohl er in Hör- und Laufweite zu unserer Wohnung durch die Innere Nordstadt führte. Auch eine aufziehende Erkältung ließ es ratsam erscheinen, stattdessen diesen freien Tag überwiegend sofalesend zu verbringen und das Jecksein den anderen Jecken zu überlassen. (Zum Zeitpunkt der Niederschrift war der Bonner Zoch gerade durch, wohingegen in Köln die letzten Wagen und das Dreigestirn noch gar nicht gestartet sein sollen. Wird wohl ein später Feierabend.)

*Siehe Eintrag von vergangener Woche Sonntag, letzter Absatz.

Dienstag: Über Dienstage, die sich wie Montage anfühlen, ist alles geschrieben. Dabei gab es am ersten Arbeitstag nach insgesamt fünf freien Tagen nichts zu beanstanden, die für Karnevalstage ungewöhnlich hohe Zahl an Mails war recht schnell abgearbeitet. Zudem schien nachmittags die Sonne ins Büro, wodurch es zeitweise wegen defekter Jalousie schon wieder zu warm wurde. Man kann es mir manchmal wirklich nur schwer recht machen, ich weiß. Unbehagen entstand vielmehr aus der sich gestern andeutenden, heute im Laufe des Tages zu voller Pracht erblühten Erkältung.

»Blau ist Wow« las ich morgens auf dem Hinweg an einem Lieferwagen angeschrieben. Das stimmt, wobei zwischendurch mal nüchtern auch nicht schlecht ist. Während es gestern gelang, gar keinen Alkohol zu trinken, womit der Tag wohl als erster alkoholfreier Rosenmontag seit der Mittelstufe in meine persönlichen Annalen eingehen dürfte, wird der heutige Tag mit einem Schluck achtzehnprozentigen Erkältungstrunk für die Nacht enden. Wohlsein.

Mittags auf dem Weg zur Apotheke sah an mehreren Stellen gefüllte Hundekotbeutel fernab von Müllbehältern in der Gegend herumliegen. Was denken sich diese Leute nur? Koten die zu Hause einfach ins Wohnzimmer?

In einem Zeitungsartikel über das leidige Thema kulturelle Aneignung wird eine afroamerikanische Soziologieprofessorin zitiert mit Kritik an Frauen, die sich die Haare blond färben: »Künstlich Blondierte beanspruchen die Symbolik der begehrten Haarfarbe, die nicht ihre natürliche ist, für sich. Weil es sich bei blonden Haaren um ein ausschließliches genetisches Merkmal von Weißen handelt, scheint der Wunsch danach besonders problematisch.« Auch nach mehrmaligem Lesen verstehe ich nicht, was daran falsch sein soll, und wer darin Häme liest, irrt. Vermutlich, weil ich ein alter, weißer Boomer bin, zu bequem, mich damit genauer auseinanderzusetzen.

Mittwoch: Laut Kleiner Kalender ist heute nicht nur Aschermittwoch, sondern auch Sei-bescheiden-Tag, somit ein Tag des Verzichtes. Ich verzichtete auf die Arbeit und blieb wegen der Erkältung heute zu Hause. Da der Beschluss dafür bereits gestern gefasst worden war, hatte ich den dienstlichen Rechner mitgenommen, der sonst grundsätzlich im Büro bleibt. Den schaltete ich morgens nur kurz an, um alle Termine für heute und morgen abzusagen und mich im Zeiterfassungssystem als krank zu buchen. Danach frühstückte ich knapp (der Appetit ist kaum beeinträchtigt, nur der Geschmackssinn ein wenig) und ging wieder ins Bett, wo ich die meiste Zeit des Tages verschlief.

Nicht nur ich blieb weitgehend untätig: »Die Zinsangst lähmt die Anleger« schreibt die Tagesschau bei Twitter.

Apropos Wirtschaft: Da bleibt man mal krank zu Hause, schon fällt der Aktienkurs des Arbeitgebers. Für einen kurzen Moment erlag ich einer Illusion von Relevanz.

Donnerstag: Da Husten und Schnupfen nachgelassen haben, schlief ich bis fast neun Uhr. Nur eine gewisse Duseligkeit im Kopf ließ das Bett weiterhin als den zu bevorzugenden Aufenthaltsort erscheinen, deshalb begab ich mich nach kurzem Müslifrühstück wieder dorthin.

Zwischendurch schaute ich kurz zur Gewissensberuhigung in das dienstliche iPhone, ob irgendetwas war, was mein sofortiges Handeln erforderte. Natürlich war nichts, was sollte auch sein. Mein Arbeitsplatz birgt keine Gefahren, die bei Versäumnissen aller Art Menschen zu Schaden kommen oder in lebensbedrohliche Situationen geraten lassen. Alles andere muss ich halt nacharbeiten oder liegen lassen, bis es sich von selbst erledigt hat. Der Aktienkurs steigt auch schon wieder. Daher schnell das Gerät wieder in den Flugmodus, ein schönes Wort für Unerreichbarkeit, wenn man mal darüber nachdenkt. Und mit meinem Gewissen sollte ich gelegentlich ein ernstes Wort reden.

Zurück im Bett las ich die Zeitung zu Ende und die Blogs. In der Zeitung neben den aktuellen Unbillen in der Welt ein Artikel über das Aussterben des deutschen Mittagsgrußes „Mahlzeit“, dem nun wirklich nicht nachzutrauern ist. Nach der Lektüre überkam mich erneut Schläfrigkeit, wogegen mich zu wehren ich keine Veranlassung sah.

Freitag: Nach schlecht durchschlafener Nacht zurück im Werk, begann der Arbeitstag mit einer Besprechung bereits um acht Uhr, also deutlich vor meiner üblichen Sprechzeit. Obwohl ich mich noch nicht zu hundert Prozent genesen fühlte, ging die Arbeit recht gut von der Hand und es gelang in angemessener Zeit, die Rückstände der Vortage abzuarbeiten.

Kurz vor Mittag spürte ich einen Stich ins Kreuz, der meine ohnehin nicht sehr ausgeprägte Bewegungsfähigkeit bis zum Abend und darüber hinaus beeinträchtigte. Es wird immer deutlicher: Die Sechzig liegt wesentlich näher als die Dreißig.

Mit fünfundsechzig hat sich nun der ehemalige Frontmann der Kölner Band De Höhner seinen charakteristischen Schnauzbart abrasiert, was großes öffentliches Interesse erregt und ihm optisch durchaus zum Vorteil gereicht. Das sei vielen wesentlich jüngeren Männern zur Nachahmung sehr empfohlen. Wenn ich meinem Teenager-Ich einen Rat geben könnte, so lautete dieser: Rasier dir diesen lächerlichen Schnäuzer ab.

Archivbild. Ja, auch die Frisur bietet Anlass zur Kritik.

Hauptthema der Medien heute ist der erste Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine. Manchmal stelle ich mir vor, wie die Evolution vor dem Fernseher sitzt, fassungslos zuschaut, wie die Menschen Kriege führen und die Natur zerstören, und sich sagt: Es reicht. Zeit für Mutationen.

Samstag: Nachdem der Geliebte gestern wegen eines unerfreulichen Vorfalls auf dem Nachbargrundstück vergangene Woche als Zeuge bei der örtlichen Polizei geladen war, erwägt er eine berufliche Veränderung in den Staatsdienst. Warum nicht, als Übungskrimineller könnte er ganz gute Dienste leisten.

Nach spätem Frühstück und dem samstagsüblichen Altglasentsorgungsgang verzichtete ich aus verschiedenen Gründen auf den Besuch der Weinbar. Stattdessen ging ich spazieren an den Rhein, wo mich das Fünfzigerjahre-Design des Lampenmodells Milano immer wieder begeistert.

Sind sie nicht wunderschön?

Über das Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer hat Herr Formschub hier einen sehr lesenswerten Aufsatz verfasst.

Sonntag: Lange geschlafen, einen langen Spaziergang gemacht, die Sonntagszeitung gelesen. Der übliche Sonntagskram halt.

Während des Spazierens nahm ich erfreut die ersten Forsythienblüten und Magnolienknospen zur Kenntnis. Außerdem wunderte ich mich über einen Wagen, der mitten auf dem Weg stand, augenscheinlich schon etwas länger, wie aus dem ordnungsamtlichen Zettelchen unter dem Scheibenwischer zu schließen war. Unmittelbar davor drei umgefahrene Absperrpömpel. Ob zwischen Wagen und Pömpeln ein Zusammenhang bestand, war nicht zu erkennen.

Die Sonntagszeitung spottet, zu recht, über Klimaaktivisten, die durch hirnrissige Aktionen ihrem wichtigen Anliegen schaden. Zum einen, indem sie vor dem Berliner Kanzleramt einen Baum abgesägt haben. Das muss man sich mal vorstellen: Um gegen unzureichende Klimamaßnahmen der Regierung zu protestieren, sägen die einen Baum ab. Was machen die als nächstes, Eisbärenbabys grillen? Dann war da noch eine Gruppe, die sich bei Wien an einer Schilderbrücke über einer Autobahn festklebte, um Tempo 100 zu fordern. (Auf dem Autobahnabschnitt, über dem sie klebten und forderten, waren 80 km/h erlaubt.) Da die Aktion keine störenden Auswirkungen auf den Verkehrsfluss hatte, ließ die Polizei die Klebenden kleben und unternahm nichts. Das fanden die Klebenden ungehörig und forderten per Twitter (einhändig?) die Polizei auf, sie zu lösen. Da die Polizei weiterhin untätig blieb, mussten sie sich schließlich selbst aus ihrer Lage befreien, was nach einiger Zeit wohl gelang. Was geht nur vor in diesen Leuten? Denken die nicht darüber nach, wie das ankommt bei denen, die den Ernst der Lage noch nicht erkannt und deshalb noch nicht ganz so verzweifelt sind wie sie?

***

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche. Falls auch Sie gerade von einer Erkältung gepeinigt sind, baldige Genesung.

Woche 10: Man verzichtet aufs Händeschütteln

Montag: „Wir werden alle sterben“, sagte der Geliebte, als morgens die Lichter angingen. Das ist wohl so ziemlich das einzige, was noch einigermaßen sicher ist.

Wegen der Erkältung schlecht geschlafen. Traum: Über Nacht hat Amazon meinen Arbeitgeber mit allen Konzernbereichen und Tochterunternehmen übernommen. Als ich morgens ins Werk komme, sehe ich zahlreiche Männer in schwarzen Anzügen mit Aktenrollkoffern und gegelten Scheitelfrisuren über die Flure huschen, vor meinem Büro wartet auch schon einer. Noch bevor ich mir einen Kaffee holen kann, interviewt er mich auf Englisch und tippt die Antworten sofort in sein Tablet ein. Unsere Chefs, Personalabteilung und Betriebsrat scheinen sich unterdessen aufgelöst zu haben, niemand ist erreichbar. Stattdessen höre ich im Telefon in Endlosschleife eine Frauenstimme, die in klebrig-lächelndem Werbeton Amazon-Angebote gegen Erkältung anpreist, dazu wiederholt sie ständig: „Jetzt Prime-Kunde werden, wenn Sie weiterhin wie gewohnt am Leben teilnehmen wollen. Möchten Sie sich jetzt registrieren lassen?“ – „Nein!“, schreie ich ins Telefon. – „Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch, Sie können nun alle Vorzüge als Prime-Kunde nutzen.“

Im Laufe des Tages wird uns mitgeteilt, wer bleiben darf und wer gehen muss, die Nachricht erhalten wir per Paket. Nachmittags kommt der Bote, über der DHL-Jacke trägt er die grelle Weste von Amazon Logistics. Nachdem er mir die Sendung übergeben hat, verwandelt er sich in einen Halsbandsittich und filmt von draußen durch das Fenster, wie ich das Paket öffne; dies soll später als lustiges Unboxing-Video in den internen Kommunikationsmedien und auf Amazon Prime Video veröffentlicht werden, erst jetzt wird mir klar, dass ich morgens beim Interview mein Einverständnis dazu erteilt habe. Bevor ich das Paket öffnen konnte, wachte ich verstört auf und schlief nicht mehr ein.

Später, als der Chef wieder erreichbar war, meldete ich mich krank.

Dienstag: Sehr gut und lange geschlafen, es wird langsam besser. Einer versuchsweisen Umbettung ins Werk ab morgen steht demnach voraussichtlich nichts entgegen.

Dabei könnte ich mich durchaus daran gewöhnen: Bis mittags schlafen, nach Bad und knappem Frühstück aufs Sofa, Tee, Musik hören, Lesen in alten Tagebüchern und Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ (wahrlich keine leichte Lektüre). Außerdem habe ich endlich mit der hoffentlich letzten Überarbeitung meines Bestsellers begonnen. Und wer weiß – was bitte nicht bedeuten soll, dass ich es herbei wünsche – die Quarantäne kann noch kommen, weil man Kontakt hatte mit jemanden, der Kontakt hatte mit … Sie wissen schon.

Mittwoch: Meinen Zustand als vollständig genesen zu bezeichnen wäre übertrieben, gleichwohl ging es einigermaßen im Werk. Das Schlimmste: Vermutlich zur Vermeidung der Virenverbreitung war das Dessertbuffet in der Kantine nicht befüllt. Kein Nachtisch nach köstlichem Spießbraten! Wie soll man da die Ruhe bewahren und nicht in Panik verfallen?

Donnerstag: Eine Bildunterschrift aus einem Zeitungsartikel zur Wahl in Thüringen: „Nach seiner Wahl und Vereidigung verweigerte Bodo Ramelow (links) dem rechten AfD-Vorsitzenden Björn Höcke den Handschlag.“ Man stelle sich vor, der zuständige Redakteur hätte eine Rechts-Links-Schwäche oder das Bild wäre von der anderen Seite aus gemacht worden.

Nach einem Tag Heimarbeit (nicht wegen Quarantäne, sondern weil ein Handwerker an der weiteren Vollendung unseres Bades wirkte, das noch immer nicht ganz fertig ist und dadurch langsam wie eine Miniatur der Elbphilharmonie oder des Berliner Flughafens anmutet, jedenfalls bezüglich des Zeit-, hoffentlich nicht Kostenrahmens, und der viel länger für die Montage eines Waschtischunterschrankes und eines Handwaschbeckens benötigte als er und ich dachten, was mir einen ganzen Arbeitstag zu Hause bescherte statt wie gehofft nur ein paar Stunden) stelle ich erneut fest: Kann man mal machen, muss aber nicht sein.

Und weil der Handwerker es nicht richtig gemacht hat – als nebenberufliche Bauaufsicht eigne ich mich nicht, habe ich auch nie behauptet – arbeitete der Geliebte abends nochmal einiges nach. Sie bauen auf, sie reißen nieder / So gibt es Arbeit immer wieder.

Freitag: Gehört: „Hüftschwung hast du keinen. Jedenfalls nicht beim Tanzen.“

Wie ich nachmittags erfuhr, fällt in der kommenden Woche aus bekanntem Grund die Veranstaltung aus, die für mich eine Dienstreise in die Nähe von Ulm bedeutet hätte. Niemals in den mittlerweile zahlreichen Jahren meines Lebens erlebte ich etwas, das vergleichbare Auswirkungen auf das öffentliche und geschäftliche Leben hatte wie dieses Virus. Was mag passieren, wenn sich mal eines ausbreitet, das wirklich bedrohlich ist? Positiv: Man verzichtet aufs Händeschütteln.

Zugegeben – ein großer Kinderfreund war ich nie. Und doch würde ich keinem Kind wissend und wollend Leid antun (ebenso den meisten Erwachsenen nicht). Bei dem schrecklichen Blag aus der Kijimea-Reklame könnte ich mir allerdings vorstellen, eine Ausnahme zu machen.

Aus der Zeitung: „Statt Wasser sprudelte Wein aus den Leitungen: Ein technischer Defekt beim Abfüllen spülte Lambrusco von einer lokalen Kellerei in einige Häuser von Castelvetro di Modena in der Emilia-Romagna.“ Technischer Defekt – das ist noch unplausibler als die kürzlich schon erwähnte Geschichte des Mannes, der mit einer Banane im Anus zum Arzt kommt, weil er angeblich nach dem Duschen ausgerutscht und in die Obstschale gestolpert ist, Sie erinnern sich vielleicht.

Samstag: Glückwunsch dem Mann im Radio, nachdem auch er bemerkt hat, dass Torn von Ava Max Elemente von ABBA enthält.

Sonntag: Italien sperrt weite Teile im Norden ab, um der Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Dessen ungeachtet wirbt eine vermutlich nicht ganz günstige ganzseitige Anzeige in der heutigen Sonntagszeitung: „Dolce Vita und jahrtausendealte Kultur, aber auch imposante Landschaften und idyllische Dörfer locken in Italien. Bleibt die Frage: Wo bitte soll man bei dieser Fülle nur anfangen?“ Inzwischen dürfte der Inserent die Frage wohl anders formulieren.

 

Woche 51: Oktoberfest auf Hallig Oland

Montag: Heute ist Namenstag von Adelheid, Ado und Sturm. Sturm? Ist Ihnen jemals eine Person dieses Namens begegnet? Windfried vielleicht. Aber Sturm?

Was sonst noch in der Zeitung steht: Greta Thunberg saß im ICE in Ermangelung eines freien Sitzplatzes auf dem Boden. Ja und? Tausende täglich stehen in Bussen und Bahnen, weil es nicht genug Sitzplätze gibt. Nicht auszudenken, jedem würde dafür eine Zeitungsmeldung und ein persönlicher Entschuldigungs-Tweet der Bahn zuteil. Übrigens musste ich heute auf dem Heimweg vom Werk auch in der Bahn stehen. Nur dass sie es wissen. Liebe Stadtwerke Bonn, schon gut, ich bin nicht mehr bei Twitter.

Übrigens gibt es das Bonner Stadthaus jetzt auch vorübergehend in schön:

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Dienstag: Die Erkältung, die mich seit Tagen zankt und die Nase am Laufen hält wie eine Wasseruhr, ließ mich am frühen Vormittag den Entschluss fassen, das Werk zu verlassen und mich ins Bett zu legen. Zugegeben: Es könnte schlimmer sein.

Oder so:

Als Jüngling nahm er noch tapfer an,

ein Schnupfen ihn nicht belasten kann.

Er weiß nicht, warum:

jetzt haut er ihn um.

Vielleicht wird er endlich ein richtiger Mann?

Mittwoch: Ich nehme es der Erkältung nicht besonders übel, mich einen weiteren Tag überwiegend im Bett verbringen zu lassen. Vielleicht kommt dadurch endlich diese „Besinnlichkeit“ über mich, von der in diesen hektischen Tagen alle reden?

Gehören Sie auch zu den Menschen, die in vielen Dingen Gesichter und andere Körperteile zu erkennen glauben?

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Wo wir gerade bei „Körper“sind: Die krankhaft-aggressive Abneigung gegen Körpergeräusche anderer Menschen, wie Kauen, Gähnen oder Niesen nennt man „Misophonie“, steht in der PSYCHOLOGIE HEUTE. Das kenne ich. Jedes Mal, wenn der Geliebte bei notwendiger Verrichtung die Klotür offen lässt, möchte ich ihn anschreien.

Donnerstag: Die Hoffnung, bis Jahresende noch einige Überstunden durch frühen Feierabend abzubauen, zerschellte am frühen Nachmittag an einem Arbeitsauftrag, zu erledigen bis morgen Mittag. Früher hätte ich mich darüber erregt, heute sehe ich es mit gewisser Entspannung: Wenn es gut werden soll, erfordert es Zeit. Ohne Zeit wird es Murks. Das ist dann eben so.

„Anwohner und Anwohnerinnen gründeten Bürgerinitiativen“, lese ich. Muss es nicht heißen „Bürger- und Bürgerinneninitiativen“?

Freitag: „Schöne Restvorweihnachtszeit“, wünscht jemand am Ende einer Mail. Welch herrliches Wort und gleichsam angenehme Abwechslung zu den bebilderten und schlimmstenfalls animierten Jahresendgrüßen, die sonst so eintreffen.

Aus einer Mitteilung: „H hat sich auch immer für Minderheiten eingesetzt, insbesondere waren ihr Männer und Elternzeit ein Anliegen.“

Samstag: Verleser auf dem Weihnachtsmarkt: „Gebrauchte Mandeln“. Das passiert mir öfter; hier einige Beispiele aus meinen Notizen, für die sich bislang keine Unterbringung in einem Text fand:
Duschvorhaut, Laberzirrhose, Besucherrotze, Abschaumhalde, Alterssteinzeit,
Fliegenleger, Stripvisite, Geburtstagsvorbereitungskurs, Kugelgroll, Leberhose,
Pharmaschinken, Kilofornien, organisatirisch, Feuchttraumdose.
(Das können Sie nicht sehen: Interessanterweise macht die Textverarbeitung unter einige dieser Wörter keine rote Strichellinie.) Falls Sie Verwendung für eins oder mehrere davon haben, bitte bedienen Sie sich.

Der Geliebte über Adam und Eva: „Den Apfel hätte ich auch genommen. Ich hätte nur anschließend die Schlange geköpft, damit sie das nicht weitererzählt.“

Sonntag: „Wie würdest du deinen Traumurlaub verbringen?“, wurde die Tage hier gefragt. Meine Antwort: In einem Liegestuhl irgendwo, wo es ruhig und warm ist, mit Blick auf Wasser oder eine schöne Landschaft, oder auf Wasser in schöner Landschaft, jedenfalls das Auge erfreuend beziehungsweise „oogstrelend“, wie der Niederländer sagt, wenn er an einem Kanal eine tulpenumtoste Windmühle in ruhiger Rotation vor sich hin mahlen sieht. Idealerweise an einem Ort, wo Weihnachten nur ein Wort ist wie „Oktoberfest“ auf Hallig Oland. Oder in Sankt Ulrich am Pillersee. Dazu ein Stapel Bücher und ein Notizbuch. 

Woche 5: Der Lack ist ab

Montag: Vielleicht drückten Gott ja Gram und Sorgen, als er schuf den Montagmorgen.

Dienstag: Trotz des spektakulären Rücktritts von Rüdiger B. Grube verlief die Bahnfahrt nach Neu-Ulm erfreulich angenehm, pünktlich und in korrekter Wagenreihung. Hierzu erschien mir ein Begleitgetränk angemessen.

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Neu-Ulm liegt übrigens in Bayern, im Gegensatz zum benachbarten Ulm, welches in Baden-Württemberg liegt. Nun können Sie wieder mit Wissen glänzen. Gerngeschehen.

Mittwoch: Auf der Liste der ewigen Ärgernisse stehen nach wie vor die stets lächerlich winzigen Saftgläser bei Hotelfrühstücksbuffets ziemlich weit oben.

Donnerstag: Warum stehen ältere Menschen im Zug immer schon eine Viertelstunde vor Erreichen ihres Zielbahnhofs von den Sitzplätzen auf? Aber vielleicht mache ich das ja auch bald. Ab übermorgen.

Freitag: Manchmal, wirklich nur manchmal, wäre ich gerne ein paar Tage lang alleine in einem kleinen Haus auf einer Hallig.

Samstag: Letztlich ist 50 auch nur eine Zahl. Trotzdem klingt 39k weniger dramatisch.

Sonntag: Das neue Lebensjahrzehnt startet mit Husten und Schnupfen. Kein Zweifel, der Lack ist ab.