Woche 33/2025: In sicherem Abstand

Montag: Eine der wesentlichen Aufgaben des Tages war es, einen Karton Wein auf dem Fahrradgepäckträger zum Büro zu transportieren, auf dass ihn der liebe Kollege, wenn er demnächst nach seinem und in meinem Urlaub in Bonn ist, übernehmen kann. (Ich schrieb erst: nach seinem und während meines Urlaubs, das las sich unrund. Korrekt, indes noch unrunder hätte sich „nach seinem Urlaub und während meines Urlaubs“ gelesen. Egal.) Lieber S., der Wein ist unbeschädigt angekommen, er steht im Hochschrank hinter meinem Schreibtisch. Einen schönen Urlaub euch weiterhin!

Ansonsten verlief der Arbeitstag in gewohnter Montagsmüdigkeit und -unlust. Im übrigen war es sehr ruhig, weil viele Kollegen und Chef Urlaub haben. Er sei ihnen von ganzem Herzen gegönnt.

Morgens ließ eine Mischung aus Sonnenstand, Rhein und Reflexion eines der UN-Hochhäuser in Sichtweite sehenswert glitzern:

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Es ist wieder sehr warm. Auch das beklage ich nicht, denn, analog zu Karl Valentin, klagte ich, wäre es trotzdem warm. Als Kind mochte ich Sommerhitze nicht. Nicht wegen der Hitze an sich, sondern weil ich dann genötigt wurde, kurze Hosen zu tragen. Das tat ich ungern wegen meiner dünnen Beine, die mir von anderen, bei denen nicht nur die Beine wesentlich dicker waren, ständig eingeredet wurden.

Dienstag: Der Fußweg ins Werk verlief sonnenbeschienen, jedoch nicht mehr ganz so warm; ohne Jacke gut auszuhalten. Dabei lag schon eine Anmutung von Spätsommer in der Luft.

Spätsommer

In letzter Zeit fallen mir zunehmend Radfahrer auf, die einen Helm mit sich führen, ihn jedoch nicht auf dem Kopf tragen, wo er im Falle des Unfalls den größten Nutzen entfaltete, sondern ihn während des Fahrens materialschonend-lässig am Lenker baumeln haben. Vielleicht gab es das schon immer, manchmal fallen einem Dinge, die es schon lange gibt, ja erst spät auf. Bei mir war es zum Beispiel der Schmetterlingsflieder, auch als Sommerflieder bekannt, den ich erstmals bewusst 1990 während des Grundstudiums in Köln wahrnahm. In Ostwestfalen, wo ich mich zuvor die meiste Zeit aufgehalten hatte, nur war er mir nie aufgefallen, obwohl es ihn dort mit Sicherheit auch gab und gibt. Zurück zu den unbehelmten Radfahrern, übrigens aller Geschlechts- und Altersklassen, somit lässt es sich nicht als pubertärer Leichtsinn abtun: Warum machen die das? Meinen die, den Helm im Sturz, kurz vor dem Aufprall noch schnell aufsetzen zu können?

Bleiben wir im Kopfbereich: Vor allem im asiatischen Raum gilt Gesichtsverlust als großes persönliches Unglück, wobei er manchen Menschen, nicht nur in Asien, wenn man sie sich so anschaut, nicht unbedingt zum Nachteil gereichen würde. Einen speziellen Fall davon sah ich morgens am Rheinufer:

Wozu mag es vorher gedient haben? Nach einem unterleibserfreuenden Spielzeug sieht es eher nicht aus, auszuschließen ist es aber nicht.

Auf dem Fußweg zurück, nun deutlich wärmer, überholte mich ein Läufer mit Schriftzug auf dem Rücken des T-Shirts: „Reden kostet nichts. Schweigen schon.“ Das gefällt mir, auch wenn ich es nicht ganz verstehe. Man kann sich – auch mit Helm – um Kopf und Kragen reden; ähnliche Folgen durch Nichtreden sind mir unbekannt. Ich werde darüber nachdenken.

Mittwoch: Aus einem Zeitungsartikel über den Drang mancher Männer, sich in der Öffentlichkeit mit freiem Oberkörper zu zeigen: „… Aktivistinnen und Aktivisten, die für geschlechtsneutrale Körper eintreten, sei ein entblößter Männer-Oberkörper ein Dorn im Auge.“ Geschlechtsneutrale Körper? Ich möchte das nicht. Im selben Artikel heißt es auch: „Doch bei nackten Oberkörpern bleibt eine Geschlechterkluft (Gender Gap)“. Das muss dieses Sommerloch sein.

Das neue Buch von Max Goldt ist eingetroffen. Es kommt nach ganz oben auf den Stapel der ungelesenen, ich freue mich sehr darauf.

Aber?

Donnerstag: „Achtziger und die größten Klassiker“ spielt der Radiosender WDR 4 nach eigenem Bekunden. Deshalb war ich morgens entsetzt, als sie, gerade als ich wehrlos unter der Dusche stand, dieses furchtbare, nicht endende etwa 44-strophige, bislang im Nachbarsender WDR 2 rauf- und runter gespielte Wellerman-Lied brachten, das mich danach noch längere Zeit ohrwurmte.

Auf dem Fußweg zum Werk begegnete mir eine etwas abgerissene Person unklarer Binärität, vertieft ins Selbstgespräch mit verteilten Rollen. Mal sprach sie ruhig wie mit einem Gegenüber, dann schrie sie so unschöne Sätze wie „Halt endlich dein Maul, du Schlampe!“, auch das Wort „Fotze“ fiel mehrfach, ehe sie wieder im ruhigen Ton sprach. Irgendwo hörte oder las ich mal einen Satz, der sinngemäß lautete: „Jeder kämpft seinen eigenen Kampf, von dem die anderen nichts ahnen.“ Wir ahnen nicht, welchen Kampf diese Person führt, jedenfalls erscheint ein Wellerman-Ohrwurm dagegen als ein zu vernachlässigendes Problem.

Passend zum gestern erwähnten Zeitungsartikel kam mir am Rheinufer ein Läufer ohne T-Shirt entgegen, dessen Körper zum Glück weder geschlechtsneutral noch mir ein Dorn, eher eher ein Lusttränchen im Auge war. Aber ich bin ja auch kein Aktivist.

Kurz vor Ankunft am Turm sah ich im Rheinauenpark unter einem Baum einen blonden jungen Mann in sommerlicher Sportbekleidung, der etwas am Boden herumnestelte (komisches Wort, fällt mir gerade auf), dann zog er sich die Schuhe aus, kniete sich hin, beugte sich nach vorne in Richtung Osten und verharrte so für längere Zeit. Als Religionen skeptisch begegnender Mensch fand ich das irritierend, zumal er nicht dem derartiges praktizierenden Kulturkreis zugehörig aussah. Aber was weiß ich schon.

Gelesen im Kieselblog und zustimmend genickt:

Ich glaube, dass wir Menschen plappern wie Affen sich lausen: Es handelt sich um ein soziales Ritual. Eigentlich ist es dabei zweitrangig, um welches Thema es geht – hauptsache, wir teilen mit, wie wir uns fühlen und unser Gegenüber tut das auch (wobei komplett egal ist, was das Gegenüber sagt oder fühlt).

Das Problem an der Sache ist, dass ich Geplapper nicht kann. Ich denke immer, es würde richtig gesprochen werden, es gäbe immer einen richtigen Austausch. Auch wenn ich rational verstehe, wie wichtig die soziale Fellpflege ist, bin ich dazu nicht wirklich fähig. Entweder gehe ich dann in ein richtiges Gespräch (bzw. versuche ich es), oder ich stehe stumm da und lächle, denn ich weiß ja nicht, wie ich plappermäßig korrekt reagieren soll.

Vielleicht ist das gemeint mit Schweigen kostet, siehe oben: Viele Menschen kostet es Mühe und Überwindung, mal die Klappe zu halten.

Freitag: Was schön war: Ruhe im Büro, mehrere Haken in der Outlook-Aufgabenliste, roter Wackelpudding mittags als Dessert, anschließend ein Spaziergang durch den Park, die vorläufige Entschärfung eines Konflikts (machmal wünsche ich mir ein Teinihaus, für das nur ich einen Schlüssel habe) und gemeinsames Grillen, Essen und Trinken am Abend.

Samstag: Über Nacht hat es sich deutlich abgekühlt, die Sonne blieb ganztägig hinter einer dicken Wolkendecke versteckt. Dennoch ließ es sich weiterhin gut jackenlos und kurzärmlig draußen aufhalten. Wie üblich verband ich den Leergutentsorgungsgang mit einem Spaziergang an den Rhein. Dort, am Rheinufer hatten die Grünen unter einem gleichfarbigen Sonnenschirm einen Informationsstand aufgebaut. Um nicht angesprochen zu werden, schaute ich im Vorbeigehen betont desinteressiert und beschleunigte den Schritt ein wenig. Nicht, weil ich eine Abneigung gegen diese Partei hegte, ganz und gar nicht, sondern weil ich generell ungern zu einem Gespräch mit Fremden genötigt werde. In sicherem Abstand setzte ich mich auf eine Bank, schaute den vorübergehenden und -radelnden Menschen mit und ohne Hunden zu und las Blogs. Einige Passanten, die aus Richtung der Grünen kamen, hielten ein Faltblatt der Partei in der Hand, das sie sich vielleicht aus Interesse, vielleicht aus Höflichkeit in die Hand drücken gelassen hatten. Wie viele davon mögen ungelesen im Abfall entsorgt werden.

„Kuck mal wie tief … oder wie flach“ rief eine Radfahrerin ihrem Begleiter zu und deutete auf den Fluss, der zur Zeit wenig Wasser führt. „Ja“ lautete die knappe Antwort, offenbar hatte er verstanden, was sie meinte.

„Mittwoch ist Lesetag“ stand auf dem Stoffbeutel, der an einem anderen Radfahrer hing. Warum nur Mittwoch? Und warum gerade an diesem Tag? Wird an den übrigen Tagen nicht gelesen? Aber jedem wie er mag.

Hier ist, regelmäßige Leser und -innen ahnen es, Samstag Fragetag.

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Frage Nr. 9 lautet: „Was machst du morgens als Erstes?“ Das hängt vom Tag ab, oder kommt darauf an, wenn Ihnen das lieber ist: An Arbeitstagen den Radiowecker ausschalten, wenn die Halb-sieben-Nachrichten durch sind, am Wochenende das iPad heranholen, um etwas zu lesen, bis das Bad frei ist; bei mir ist nicht nur Mittwoch Lesetag. Als allererstes aber, das ist mir jetzt etwas unangenehm, doch Frage ist Frage, bohre ich, einer langjährigen Angewohnheit folgend, ausführlich in der Nase. Das bleibt bitte unter uns.

Sonntag: Der Tag begann zunächst kühl, weshalb zur Lektüre der Sonntagszeitung auf dem Balkon ein Jäckchen angebracht war. Das führte zur Erheiterung meiner weniger kälteempfindlichen Lieben, aber ich kann es nicht ändern. Wer nicht frieren will, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Zum Spaziergang am Nachmittag wärmte es merklich auf, sodass ich das Jäckchen ablegen konnte. Auch auf der anderen Rheinseite gibt es einen schönen Biergarten mit Ausschank bayrischen Bieres, der gut besucht war und sich in den Spaziergang integrieren ließ.

Beobachtung: Nicht nur die Fahrer von Renn- und Lastenfahrrädern zeigen oft bemerkenswerte Rücksichtslosigkeit gegen andere Verkehrsteilnehmer, sondern auch auch manche Nutzer elektrisch angetriebener Rollstühle, die ohne jede Hemmung durch die Fußgängerzone rasen und sich dabei, das ist jetzt nur eine empirisch nicht belegte Vermutung, völlig im Recht glauben.

Was ist nur los mit diesen Menschen?

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut durch die Woche.

17:30

Woche 20/2025: Wackelpudding in ungewöhnlicher Darreichungsform und zunehmendes Ergrauen

Montag: Der erste Arbeitstag nach dem Urlaub war, wie erste Arbeitstage nach dem Urlaub nunmal sind: mühsam, auch wenn der Maileingang keine nennenswerten Imponderabilien bereithielt. Bis auf eine kurze regelmäßige Besprechung morgens wurde ich weitgehend in Ruhe gelassen; wieder hat es sich bewährt, den Tag komplett im Kalender zu blocken.

Etwas Abwechslung vom Mailmühsal brachte der Zeppelin, der vormittags mehrere Runden über der Stadt drehte, wobei ich ihn vom Schreibtisch aus gut beobachten konnte, einschließlich der Starts und Landungen auf dem Flugplatz in Hangelar. Ich glaube ich schrieb es schon: Da würde ich gerne mal mitfliegen.

Nach dem Mittagessen ging ich nach längerer Zeit mal wieder eine Runde durch den Park statt durch das Treppenhaus zurück ins Büro. Das dann wieder ab morgen wieder.

Dienstag: Zu Fuß ins Werk und zurück bei Sonnenschein und blauem Himmel, also Wetter, das früher als schön bezeichnet wurde, mittlerweile aus bekannten Gründen etwas in Verruf geraten ist. Auf dem Rhein war morgens auffallend wenig Schiffsverkehr zu sehen, einzig ein Löschboot der Feuerwehr fuhr ohne erkennbare Eile südwärts, während das zugehörige Beiboot mit aufbrausendem Motor immer wieder etwa hundert Meter voraus sauste, eine Kurve über den Fluss zog und auf das Löschboot wartete. Wenn dieses eintraf, umkreiste das Kleine das Große und brauste wieder vor, und so weiter. Wie ein verspielter Hund und seine Halteperson, das war recht drollig anzusehen.

Der Arbeitstag war lebhaft: Die Büros voller Menschen und der Kalender voller Kolls. Immerhin war ein Termin, für den eineinhalb Stunden angesetzt waren, nach vier Minuten beendet. Mehrfach wurde ich über den Urlaub befragt und ich berichtete gerne, schließlich und zum Glück lesen nicht alle hier mit.

Der Treppensteig nach dem Mittagessen bereitete trotz zweiwöchiger Pause keine Probleme.

Sprachwitz des Tages in einer Präsentation: „monatlich statt biweekly“

Auf dem Rückweg suchte ich das Modellbahngeschäft meines Vertrauens auf, wo eine Bestellung eingetroffen war, über die ich mich besonders freue, weil ich nicht mehr damit gerechnet hatte, dieses grundsätzlich schon lange nicht mehr lieferbare Modell noch zu erstehen.

Die erste Probefahrt verlief sehr zufriedenstellend

Mittwoch: Nachdem ich es seit Rückkehr aus Frankreich schlicht vergessen hatte, wog ich mich morgens, um zu schauen, welche Folgen zwei Wochen Urlaub hatten mit wenig Bewegung, dafür viel Essen und Wein. Zu meiner Überraschung zeigte die Waage etwa ein Kilo weniger an als vor dem Urlaub, wer hätte das gedacht.

Arbeitstag mit einem mir bislang unbekannten Bürogenossen aus der Nachbarabteilung. Netter Kerl, nur unruhig: Er telefonierte laut und ging dabei im Raum auf und ab. Da bei mir währenddessen keine Tuduhs mit besonders hohem Konzentrationsbedarf anstanden, ich nicht gleichzeitig telefonierte und überhaupt ein (zu) freundlicher Mensch bin, sah ich von vorwurfsvollen Blicken und Bitten ab und begnüge mich damit, es hier zu notieren.

Donnerstag: „Leider bin ich derzeit im Urlaub“ steht in der Abwesenheitsmeldung eines Kollegen. Mein Mitleid ist ihm sicher.

In der Kantine gab es zum Dessert roten Wackelpudding in ungewöhnlicher Darreichungsform: in Würfel geschnitten auf Vanillesoße. Da ich es grundsätzlich ablehne, mein Essen zu fotografieren, denken Sie sich bei Bedarf gerne ein entsprechendes Bild.

Weg ins Werk, bewölkt

Freitag: Die Arbeitswoche verging erfreulich rasch. Die wichtigsten Urlaubsrückstände konnten aufgearbeitet werden, um den Rest kümmere ich mich kommende Woche, die wieder eine kleine wird mit freiem Donnerstag. Überhaupt sind die nächsten drei Wochen wegen Feiertag klein, wie ein Blick in den Kalender zeigt. Das wird Herrn Merz nicht freuen, der fordert, wir müssten alle mehr arbeiten. Warum sollte ich das tun? Damit Vorstandsmitglieder noch mehr Millionen beziehen? Sehe ich gar nicht ein.

Apropos Merz: Wenn die Zeit der aktuellen Regierung abgelaufen sein wird, sei es durch Abwahl in vier Jahren oder durch vorzeitiges Scheitern, was ihr nicht zu wünschen ist, dann kenne ich schon jetzt die zugehörige Schlagzeile in der Bildzeitung: „AUSGEMERZT!“

Apropos Regierung: Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich mich an die Wortkombination aus „Innenminister“ und „Dobrindt“ gewöhnt haben werde.

Der neuen Regierung widmet sich auch Kurt Kister in seiner Wochenkolumne Deutscher Alltag, wo auch dieses zu lesen ist:

Gerade wegen der allgegenwärtigen Computerei ist „Neustart“ längst Teil der Alltagssprache geworden, so wie „mega“ als Umschreibung für „in Ordnung“ oder „genau“ in seiner Bedeutung als zustimmendes Füllgeräusch („äähem, genau“).

Genau.

Samstag: Ich habe eine Idee. Seit geraumer Zeit erfreuen sich in Bloggerkreisen tausend Fragen, die man sich selber stellen und möglichst beantworten soll, größerer Beliebtheit, zu finden unter anderem hier. Keine Angst, ich werde sie nun nicht mit der Beantwortung aller tausend Fragen langweilen – also die Idee ist, mehr oder weniger regelmäßig und zufällig, vielleicht einmal wöchentlich, mal sehen, ob ich das durchhalte, eine dieser Fragen zu beantworten. An manchen Tagen passiert ja nicht so viel, das man hier berichten könnte, das wäre ein Anlass dafür. Als Zufallsgenerator dient dabei die Umgebung, die eine Zahl zwischen 1 und 1000 liefert, so wie heute anlässlich des Spaziergangs am gegenüberliegenden Rheinufer:

Zahl des Tages: 656

Frage 656 also. Die lautet: „Könnten sich Menschen ändern?“ Da die Frage im Konjunktiv gestellt ist, lautet die Antwort schlicht: Ja, könnten sie. Tun sie indikativ aber nicht, oder höchstens äußerst ungern. Siehe unser Umgang mit dem Klimawandel, wie unter anderem hier dargelegt.

Oder hier

Oder mit Alkohol. Die Zeitung berichtet über die aufkommende Diskussion vor allem unter jungen Leuten, ob es noch zeitgemäß ist, Wein zu trinken. Als ethanophiler Mensch habe ich dazu eine Meinung, erkenne jedoch an, dass man auch anderer Meinung sein kann, das ist das schöne an der Meinungsfreiheit. Goethe hatte auch eine: „Für Sorgen sorgt das liebe Leben / Und Sorgenbrecher sind die Reben“

Symbolbild

Wegen eines Vereinsvergnügens am Abend konnten wir uns nicht den ESC im Fernsehen anschauen. Vermutlich haben wir nicht viel verpasst.

Sonntag: Der Schauspieler George Clooney sah sich kürzlich der öffentlichen Kritik vor allem in den asozialen Hetzwerken ausgesetzt, nachdem er sich für eine Rolle seinen grauen Haare braun gefärbt hatte. Nach längerem Zögern, ob ich es schreiben soll, gestehe ich: Ich habe es auch getan. Vor zwei Wochen, im Urlaub, auf mehrfaches Drängen meiner Lieben, die der Meinung waren, ich müsste was an meinem Äußeren, insbesondere gegen das zunehmende Ergrauen meines Haupthaars tun, ich wurde gleichsam dazu genötigt. Als Zeitpunkt wählte ich bewusst den Beginn eines zweiwöchigen Urlaubs, man weiß ja nie, was dabei rauskommt, vielleicht fällt die Färbung lila oder grün statt braun aus, oder die Haare fallen gleich ganz aus. Es ist dann aber gut gegangen. Während der zurückliegenden Arbeitswoche hat es scheinbar niemand bemerkt, jedenfalls hat keiner was dazu gesagt, vielleicht lästern die lieben Kollegenden jetzt auch über mich. Dürfen sie, zu recht: Mit Ende fünfzig darf, ja sollte man graue Haare haben, wenigstens einige. Ich betrachte die Färbung daher als vorläufig einmaliges Experiment, das keiner baldigen Wiederholung bedarf. Inzwischen zeigen sich an den Schläfen wieder die ersten Silberfäden. Zum Glück.

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche. Möglichst sorgenfrei, mit oder ohne Wein.

Woche 44/2024: Eine altersgerechte Begleiterscheinung und ungeplante Lustigkeit

Montag: Der erste Tag in Mitteleuropäischer Zeit, umgangssprachlich auch als Winterzeit bezeichnet, verlief insgesamt angenehm; dafür, dass die Herbstferien vorüber sind, war es am Arbeitsplatz vergleichsweise ruhig.

Manchmal scheint es, man hätte mir auf die Seele geschaut und das dort vorgefundene notiert. Zum Beispiel Frau Anje, bei der dieses zu lesen ist:

„Dazu kommt, dass mein Interesse an anderen Menschen deutlich unterausgeprägt ist. Manchmal bekomme ich durch Zufall mit, was andere Menschen so machen oder planen und es kommt öfter vor, dass ich dann innerlich die Augen verdrehe, äußerlich versuche ich dann aber meist krampfhaft, mir nichts anmerken zu lassen, eben weil ich finde, es geht mich nichts an, soll doch jeder selber tun, was er für richtig hält.“

Erst heute Mittag in der Kantine empfand ich wieder so, als die Mitesser ausführlich ihre Kinder besprachen. Dankenswerterweise versuchten sie gar nicht erst, mich in das Gespräch einzubeziehen; mangels Kenntnis und Interesse hätte ich nichts dazu beitragen können. Wie bei Fußball, Autos, Serien und Skiurlaub.

Dienstag: Morgens während einer hochrangig besetzten Informationsveranstaltung zum bevorstehenden Weihnachtsgeschäft äußerte sich der IT-Chef zufrieden mit der Stabilität der Systeme. Wenige Stunden später trat eine umfangreiche Störung ein, die bis zu meinem Arbeitsende nicht behoben war und zu deren Behebung ich auch nichts beitragen konnte. Vielleicht hätte er besser nichts gesagt.

Mittwoch: Die IT-Störung konnte bereits gestern Abend behoben werden. Nach bisherigen Erkenntnissen sind keine Menschen zu Schaden gekommen.

Im Anschluss an den Werktag war ich letztmals zur Physiotherapie wegen Rücken. Das hintere Zwicken ist nicht ganz behoben, immerhin nur noch in einem Maße zu spüren, das ich als altersgerechte Begleiterscheinung zu akzeptieren bereit bin. Vielleicht habe ich mich auch einfach daran gewöhnt. Was will man machen, besser wird es voraussichtlich nicht.

Abends besuchte ich die Lesebühne in einer nahegelegenen Kneipe. Beim nächsten Mal, das zugleich das letzte Mal ist, da die Kneipe Ende des Jahres schließt, darf ich dort auch was lesen. Darauf freue ich mich.

Donnerstag: Morgens auf dem Fußweg ins Werk sah ich einen Silberstreif am Horizont. Ansonsten freute ich mich mittags über roten Wackelpudding zum Dessert und ganztägig auf das bevorstehende lange Wochenende. Viel mehr Berichtenswertes bot der Tag nicht, muss ja auch nicht.

Silberstreif am Horizont (Pfeil)

Vielleicht noch das: Aus hier nicht näher darzulegenden Gründen empfiehlt es sich, beim Kauf von Erdbeermilch die Augen aufzuhalten. Wie schnell labt man sich an Erdbeer-Limes und wundert sich zunächst ob unerwarteter Schärfe, später ungeplanter Lustigkeit.

Freitag: Bei aller Skepsis gegenüber der Katholischen Kirche und überhaupt Religionen jedweden Glaubensbekenntnisses, die Sache mit den arbeitsfreien Feiertagen auch für Anders- und Ungläubige finde ich immer wieder gut geregelt, dafür auch mal dankbar sein, nicht immer nur kritisieren. Heute also Allerheiligen, warum auch nicht.

Als morgens die Vorhänge des Schlafzimmers aufgezogen wurden, zeigte sich der Tag novemberlich trüb, als nehme die Meteorologie irgendeine Rücksicht auf den Kalender. Ich mag den November. „Die Bestattungsbranche wächst“ wird im Radio gemeldet, während ich noch im Bett liege. Gestorben wird immer, nicht nur im November, wenigstens darauf kann man sich verlassen in diesen Zeiten.

Samstag: Offenbar bin ich nachts nur knapp einem feigen Anschlag entgangen. Nach dem Aufstehen fand sich an meiner Liegestelle, wo ich mich zuvor behaglich im Tuche gewälzt hatte, eine ausgewachsene Stecknadel. Das hätte ins Auge oder vielmehr andere Körperteile gehen können.

In der Zeitung lese ich von der Gruppe „Liste undogmatischer Student*innen“ und muss etwas grinsen. Ebenso über das Wort „Wirkungstrinken“ in einem anderen Artikel über Alkoholverzehr in der Tierwelt, für das ich Verwendung in meinem Wortschatz sehe.

Die erste Verwendungsgelegenheit ergab sich bereits am Abend beim Ordensfest der Karnevalsgesellschaft, wo die neue Session begrüßt wurde. Die Uniform passt noch, jedenfalls meine, was nicht selbstverständlich ist. Schon mancher wunderte sich, wenn Hosenbund und Weste nach mehrmonatiger Nichtnutzung eingelaufen sind.

Sonntag: Manchmal wirkt das Wirkungstrinken etwas nach bis in den Folgetag hinein. Zur Linderung haben sich längere Spaziergänge bewährt. Heute erweiterte ich das übliche Spazierrevier um einen Gang durch Poppelsdorf und das Melbtal bis nach Ippendorf, zurück mit dem Bus. Immer wieder erstaunlich, welch idyllische Wege es nur eine Gehstunde von der Haustür entfernt gibt, die mir bislang unbekannt waren.

Melbtal I
Melbtal II

Laut einer Umfrage glauben fast dreißig Prozent an Spuk und Geister in der eigenen Wohnung, steht in der Sonntagszeitung. Vielleicht haben die auch schon Stecknadeln oder Schlimmeres im Bett vorgefunden, oder die Hose ist auf unerklärliche Weise eingelaufen.

Die allgemeine Sprachverdummung schreitet voran

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 6/2023: Geklapper und Geplapper

Montag: Schontag. Einen Teil der Arbeitszeit verbrachte ich mit der Beantwortung von Gratulationen, die mich erst heute erreichten, da dienstliche Kommunikationskanäle außerhalb der üblichen Bürozeiten deaktiviert sind, auch und gerade zu Geburtstagen und ähnlichen Anlässen, da bin ich sehr konsequent.

Ein kleines Heiterlein am Rande: Bereits vor drei Wochen veröffentlichte ich auf der werksinternen virtuellen Pinnwand ein Bild, das ich morgens während des Fußweges gemacht hatte und wie ich es hier in ähnlicher Form schon häufig gezeigt habe: der Rhein, im Hintergrund Mutterhaus und Langer Eugen, Morgenröte und darüber beeindruckendes Gewölk. Dazu schrieb ich nicht allzu originell „Heute Morgen auf dem Weg ins Werk“ oder so ähnlich. Das gefiel der internen Kommunikationsabteilung offenbar so gut, dass sie daraus eine kleine Aktion machten, sogar mit eigenem Hashtag #weginswerk. Noch bis diese Woche sind die Kollegen aufgerufen, ebenfalls Bilder ihres Arbeitsweges zu posten, zu gewinnen gibt es einen Gutschein für einen Kaffee an einer örtlichen Kaffeebude. Ich selbst habe, außer Konkurrenz und gleichsam als Initiator der Aktion, bereits meinen Gutschein erhalten. Jetzt muss ich nur noch diese Bude finden und einmal über meinen Schatten springen, da ich Kaffee aus Pappbechern grundsätzlich ablehne.

Die Zeitung berichtet über eine Landwirtin aus der Uckermark, die per Instagram stets mit einem Augenzwinkern aus ihrem Arbeitsalltag influenciert. »Ihren Mann hat sie beim Melken kennengelernt«, so die Zeitung. Romantik im Rinderstall.

Abends hörte ich vom Sofa aus Trommelnde durch die Innenstadt ziehen, vermutlich keine Karnevalskapelle sondern die montagsüblichen Unmutsgänger. Gegen was gehen die eigentlich jetzt, da Corona und die Schutzmaßnahmen weitgehend abgeschafft sind? Vielleicht gegen den Montag an sich.

Dienstag: Vergangene Nacht träumte ich vom Frühstück. Vor mir standen gruppiert gleich vier Frühstückseier, auf die ich großzügig Salz streute, das eine seltsam puderige Konsistenz aufwies und langsam hernieder wölkte; dadurch wurden nicht nur die Eier, sondern auch das Tischumfeld eingesalzen. Erst dann bemerkte ich, dass die Eier noch gar nicht gepellt waren. Ehe das große Geschrei einsetzte, wachte ich lieber auf.

Morgens war es kalt. Rauhreif lag auf Autos, Sitzbänken und Moospolstern, die Pfützen am Rheinufer eisbekrustet. Am aufblauenden Himmel über dem Siebengebirge waren Flugzeuge zu sehen, die mit ihren nur kurzen Kondensstreifen wie Kometen wirkten, die in unterschiedliche Richtungen zogen.

#weginswerk heute ohne Gewölk, dafür, wenn Sie genau hinschauen, mit zwei Kometen

Auf dem Weg zur Kantine sah ich mittags die ersten Krokus- und Narzissenblüten des Jahres; nur weniges vermag in mir mehr Optimismus auszulösen alle Jahre wieder. Vielleicht Wackelpudding, den gab es heute zum Dessert.

„Gib mir bitte den Kontext“, hörte ich auf dem Rückweg eine beim Laufen in ihr Telefon sprechen. Was Leute so sagen, denen „Um was geht es“ oder „Hä?“ zu profan klingt.

Mittwoch: »Frankreich lässt Wein zu Alkohol verarbeiten« wird gemeldet. Was für eine Nachricht.

Während der Rückfahrt vom Werk erfreute ich mich wieder an Mitradfahrern, die sich einer roten Ampel nähern, kurz vorher auf den Gehweg wechseln und hinter der Ampel wieder zurück auf die Straße. Als ob das irgendwie erlaubter wäre als direkt bei Rot weiterzufahren.

Auf Twitter las ich einen Thread, was ich für gewöhnlich nicht tue. Aber diesen sollten Sie lesen, wenn Sie sich am perfekten Umgang mit einem A…loch erfreuen möchten.

Abends holte ich für uns Gyros von Janni, dem Griechen unseres Vertrauens. Aus irgendeinem Grund sind wir immer noch per Sie, was einerseits überhaupt nicht schlimm ist, sich andererseits seltsam anfühlt. Vielleicht, weil wir mit den griechischen Gastwirten meiner jüngeren Jahre in Bielefeld-Stieghorst ganz selbstverständlich per Du waren, das hatte nichts zu tun mit deutscher Überheblichkeit gegenüber dem Migranten, das war einfach so, auf Augenhöhe, wie man heute sagt. Christos, Dimi – und Zeus, der hieß wirklich so, vielleicht ließ er sich auch nur so rufen. Irgendwie haben Janni und ich den Zeitpunkt verpasst, zum Du überzugehen, jetzt käme es mir komisch vor, zu sagen „… übrigens ich bin Carsten.“ Nicht, dass ich das nicht wollte, vielleicht ergibt es sich noch; wenn nicht, ist es völlig in Ordnung. Der Ablauf ist immer derselbe: Ich rufe an, bestelle das Gewünschte, Antwort: In einer Viertelstunde kann ich es abholen. Ich mache mich auf den Weg, gut zehn Minuten zu Fuß. Nach Ankunft dauert es dann nochmals zehn bis fünfzehn Minuten, bis es fertig ist, also genau eine Bierlänge, Janni hat gezapftes Bier im Angebot. Ich mag ihn, sein Gyros sowieso, egal ob per Du oder Sie.

Donnerstag: Die Stadt Bonn rühmt sich, in der Innenstadt einen Zebrastreifen in Regenbogenfarben angelegt zu haben als Zeichen für Toleranz und Vielfalt, die in Regenbogenzusammenhängen gerne verwendeten Floskeln sind hinlänglich bekannt. Allerdings, so räumt man ein, handelt es sich hierbei nicht um einen echten Zebrastreifen im Sinne der Straßenverkehrsordnung, vielmehr kreuzt der Überweg eine für den allgemeinen Autoverkehr gesperrte Straße, wo die Fußgänger sowieso Vorrang haben. So weit reicht die Toleranz (der StVO) dann doch nicht.

Darf man überhaupt noch „Zebrastreifen“ sagen, oder zieht man damit Zorn und Empörung von Peta auf sich?

Gelesen in der PSYCHOLOGIE HEUTE:

»Da digitale Geräte Bindungsbedürfnisse schneller und auf scheinbar einfachere Weise per Klick befriedigen, bergen sie auch die Gefahr, zwischenmenschliche Beziehungen zulasten von Mensch-Maschine-Interaktion zurückzudrängen. Diese Problematik deutet sich allerorten etwa bei einem Blick auf die Spielplätze hierzulande an: Nicht wenige Eltern schauen nur mehr in ihr Smartphone, während im Hintergrund ihr Kind spielt.«

Susanne Donner: Die Vermessung des Lebens

Gleiches gilt für Kinderwagen schiebende Eltern, während ihr Kind Kontakt mit ihnen sucht, ich prangerte es bereits an.

Freitag: Über der Friedrichstraße in der Bonner Innenstadt hängen zurzeit Banner großer Karnevalsgesellschaften der Stadt. Abends auf dem Weg zur Friseurin hörte ich dort einen Vater zum Kind sagen: „Karneval wird von Vereinen organisiert. Die haben manchmal komische Namen wie Bonner Stadtsoldaten.“ Der war wohl nicht von hier.

Vor 125 Jahren wurde Berthold Brecht geboren. Aus unerfindlichen Gründen verwechsele ich ihn immer mit Heinrich Böll, vielleicht weil wir beide in der Schule lesen mussten und ich mit beiden nicht viel anfangen konnte. Eine ähnliche unerklärliche Verwechslungsneigung habe ich bei den Paaren Andy Warhol und Oscar Wilde, Wolfgang Bos- und Bodo Hombach sowie den WDR-Wettermännern Sven Plöger und Karsten Schwanke, wobei letztere wirklich schwer auseinander zu halten sind.

Samstag: Aus karnevalistischem Anlass fuhren die Lieben und ich mit dem Wagen nach Stuttgart. Ein sich leerender Tank und eine sich füllende Blase geboten einen Zwischenhalt an einer Tank- und raststelle. Damit auch während der entgeltlichen Erleichterung keine Langeweile aufkommt, sind dort in die Pissoiere oberhalb der Strullöffnung Monitore angebracht. Darin lief allerdings nur auf schwarzem Hintergrund ein rotierender Wartekreisel, daneben stand „Android starting“. Für einen Euro Pullergebühr kann man etwas mehr Urinalunterhaltung erwarten.

Abends nahmen wir teil an der Sitzung der Karnevalsgesellschaft Zigeunerinsel Stuttgart, die heißt wirklich so, mich stört es nicht, das wird seine Gründe haben. Neben weiteren war auch eine Kölner Garde zugegen, die eine größere Menge Freikölsch mitgebracht hatte, woran auch wir Bonner uns laben durften. Nicht nur, aber auch das führte dazu, dass ich bereits vor Mitternacht im Bett lag, was mich gleichfalls nicht störte.

Sonntag: Zu den Orten, an denen ich mich morgens besonders ungern aufhalte, gehören Hotelfrühstückssäle, besonders wenn sie groß und voller Menschen sind, die durcheinander laufen, Warteschlangen vor Kaffee- und Saftzapfstellen bilden und den Raum mit Geplapper und Geklapper füllen. Während mein Morgenappetit nur für einen Teller Müsli, eine Tasse Kaffee und zwei (hinreichend große) Gläser anzitroniertes Wasser reichte, staunte ich einmal mehr, was andere morgens schon von den Buffets zu ihrem Tischen trugen und verzehrten.

Während der Rückfahrt nahm ich zum ersten und voraussichtlich letzten Mal an einem Radioquiz teil. Es galt, folgende Frage korrekt zu beantworten, sie hätte auch Bestandteil einer Büttenrede im rheinischen Karneval sein können: Eine Ellok fährt von Norden nach Süden, der Wind bläst von Osten. In welche Richtung weht der Dampf? (Kein Tusch.) Ungefähr eine Viertelstunde lang wurde die Frage von der Sprecherin und dem Sprecher zunehmend hysterisch wiederholt, dazu die Nummer, unter der man anrufen sollte. Mit jeder Wiederholung erhöhte sich die zu erzielende Gewinn, am Ende waren es tausend Euro. Es riefen Leute an, sagten „nach hinten“ oder „nach oben“. Irgendwann wurde es mir zu bunt, ich wähle die Nummer und verstand spätestens beim zweiten Versuch: „Leider knapp verpasst. Dieser Anruf kostete fünfzig Cent“, sagte eine automatische Stimme. In die Falle getappt. Ein wenig fühlte ich mich veräppelt bis betrogen. Erst ganz am Ende der Sendung nannte eine Anruferin die richtige Lösung, die ich nicht wiedergeben muss, da ich davon ausgehe, Sie kennen sie längst.

Bei Frau Kaltmamsell las ich das schöne Wort „Dyslexie“, laut Duden die mangelnde Fähigkeit, Wörter oder zusammenhängende Text zu lesen, zu verstehen oder zu schreiben. Kenne ich, nicht nur wie Frau K. in lyrischen Zusammenhängen, sondern auch in werktätlichen Angelegenheiten, da es sich augenscheinlich immer mehr verbreitet, Mails und Nachrichten vor dem Absenden nicht noch einmal korrektur zu lesen.

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Kommen Sie gut durch die neue Woche.

Woche 3/2023: Beschimpfender Unfug

Montag: Als solchen Geräten mit einer gewissen Skepsis begegnender Mensch schenkte ich unserer digitalen Personenwaage im Bad nicht allzu viel Glauben, als sie gestern Morgen ein unplausibel hohes Gewicht anzeigte, zumal es sich wenig später nach dem Duschen um ein halbes Kilo verringerte; soviel Dreck wird da wohl nicht weggebraust worden sein. Heute früh spannten die Knöpfe der Strickjacke deutlich, die vor einem Jahr noch tadellos saß. Sicher ist das auf unsachgemäße Wäsche zurückzuführen. Kann ja nur.

Der Feuilleton-Teil der Tageszeitung enthält an Montagen mittlerweile als festen Bestandteil eine Tatort-Kritik. Mord und Totschlag als Kultur zu betrachten finde ich reichlich unangemessen. Dann bitte auch eine regelmäßige Rezession der neuesten Filme auf XHamster. Ich kann das gerne übernehmen.

Dienstag: Der Rhein hat Hochwasser. Die Anlegestege der Ausflugsschiffe und Rudervereine, üblicherweise Richtung Flussmitte abwärts geneigt, stehen waagerecht oder neigen sich nach oben. Frachtschiffe, auf die man sonst vom Ufer aus herabschaut, fahren auf Augenhöhe. Und es ist kalt, was erstaunlich viele Läufer nicht davon abhält, in kurzen Hosen das noch morgenmüde Auge zu reizen.

Das Leben überrascht manchmal durch erstaunliche Zufälle. Gestern beim Abendessen noch beklagte ich im Kreise der Lieben, dass der neue Kantinenbetreiber keinen Wackelpudding mehr anbietet. Raten Sie mal, was es heute Mittag zum Dessert gab. Vielleicht durch die heimischen Lausch- und Laberdosen, in denen die dämliche Frau Siri wohnt?

Vergangene Woche beklagte ich das jahreszeitlich durchaus begründete Verschwinden der Glühweinbude am Rheinpavillon. Hierbei handelt es sich um eine Gaststätte am Rheinufer im typischen Baustil der Fünfzigerjahre, vermutlich und wenn dann zu recht denkmalgeschützt. Im Obergeschoss befindet sich ein Café, dort hielt ich auf dem Rückweg spontan Einkehr und bestellte einen Pfefferminztee, jaha, ich kann auch ohne Alkohol. Es war voller als es von außen schien, ich fand noch einen Platz mit Blick auf den Fluss. Statt der erwarteten Tasse wurde eine ganze Kanne serviert, daher saß ich etwas länger als geplant, was überhaupt nicht schlimm war; da zu sitzen ist sehr angenehm, man kann während des Verzehrs vorüberfahrende Schiffe und gegenüber am anderen Ufer die Lichter von Beuel betrachten. Hier war ich sicher nicht zum letzten Mal.

Archivbild aus Dezember 2021

»Thee und Bier stellten mich aus der Erschöpfung wieder her«, schrieb passend Thomas Mann heute vor vierundachtzig Jahren ins Tagebuch.

Eine Bierlieferung wurde mir vom Lieblingspaketdienstleister per Mail angekündigt. Die anfängliche Vermutung, da ich nichts bestellt hatte, es könnte sich um eine der üblichen Spam-Mails handeln, bewahrheitete sich nicht. Wer mag die Lieferung veranlasst haben? Ich habe einen vagen Verdacht.

Mittwoch: Warum eigentlich glauben Menschen, sich im Straßenverkehr wie Irre verhalten zu dürfen, denen alle anderen Verkehrsteilnehmer zu weichen haben, sobald sie ein Lastenfahrrad führen?

Auf dem Weg zur Kantine begegnete mir ein ehemaliger Abteilungskollege, der vor geraumer Zeit zum Leiter einer anderen Abteilung ernannt wurde, von der ich nie hörte; seitdem sehe ich ihn nur selten, weil er in einem anderen Gebäudeteil seinem leitenden Wirken nachgeht. Da er den Blick auf sein Datengerät gerichtet hatte und auch zum Zeitpunkt unserer Begegnung nicht davon abließ sah ich davon ab, ihn anzusprechen und auf die Briefe hinzuweisen, die noch in seinem Postfach auf unserem Flur liegen. Man will ja nicht stören.

Nach Rückkehr am Abend war das Bier geliefert, fünf Halbe aus bayrischer Klosterherstellung und ein Glas. Meine Vermutung die Bestellerin betreffend traf zu. Herzlichen Dank, liebe N.!

Donnerstag: Morgens schneite es überraschend heftig, was mich nicht davon abhielt, zu Fuß ins Werk zu gehen. Flockenumtost genoss ich den Gang am allmählich wieder abschwellenden Fluss, gelegentlich begegnet und überholt von Läufern, die der Schnee ebenfalls nicht von ihrem Morgenlauf abhielt und deren Fußspuren schon bald wieder weggeschneit waren. Erst nach Ankunft im Büro bemerkte ich, wie nass die Jacke geworden war.

»Was hast du in deinem Leben über die Liebe gelernt?« lautet die WordPress-Tagesfrage. Nämliches: 1) Wer suchet, der findet nicht; am ehesten findet, in einem unerwarteten Moment, wer nicht sucht. 2) Liebe und Lust sind trennbar, Monogamie wird völlig überbewertet. 3) Aller guten Dinge sind drei. Mindestens.

Freitag: Die Arbeitswoche endete angenehm mit Schnee am Nachmittag, der nur kurz liegenblieb, und einer karnevalistischen Großveranstaltung mit zehn Karnevalsgesellschaften und Musik in der der Bonner Innenstadt, an der ich mangels Uniform nur in begleitender Funktion teilnahm und die in alkoholischer Hinsicht glimpflich endete.

Das Musik-Corps der Fidelen Burggrafen Bad Godesberg, Rück(en)ansicht

Samstag: In Bonn ist laut Zeitungsbericht ein Obdachloser zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er im vergangenen Jahr einen menschlichen Kopf vor dem Bonner Landgericht ablegte, den er zuvor seinem Kumpel abgetrennt hatte, ich erzählte es, Sie erinnern sich vielleicht. Was ihn zu der Tat bewogen hatte, verschweigt er nach wie vor. Dem ursprünglichen Kopfinhaber wird es egal gewesen sein, da er bereits vor dem Kopfverlust infolge einer Krankheit gestorben war. Die Anklage lautet deshalb nur auf „Störung der Totenruhe“. Der hier einschlägige Paragraph 168 des Strafgesetzbuches lautet im Absatz eins: »Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Klingt wie aus einer anderen Zeit. Am besten gefällt mir das mit dem beschimpfenden Unfug.

Nach samstäglichen Besorgungen hielt ich kurze Einkehr in der Lieblingsweinbar, direkt an einer Straßenbahnhaltestelle gelegen. Während des Rieslings sah ich einen Straßenbahnfahrer mit Krawatte, ein sehr seltener Anblick. Die Bus- und Straßenbahnfahrer früherer Zeiten trugen blaue Uniformjacke, Schirmmütze und selbstverständlich Krawatte. Das ist lange her. Heute muss man fast froh sein, wenn sie überhaupt einigermaßen bekleidet sind.

Es ist ein durchaus angenehmes Merkmal fortschreitenden Alters, wenn man am Samstagabend statt aushäusigen Fetenrausches auf ARTE eine Dokumentation über Moose anschaut, eine faszinierende Lebensform, die selbst unter widrigsten klimatischen Unbequemlichkeiten noch gedeiht. Vielleicht sind es Moose, die bald die Weltherrschaft erlangen, nachdem wir uns erfolgreich ausgelöscht haben. Eine noch faszinierendere, geradezu unheimliche Lebensform ist Physarum polycephalum, auch Blob genannt, über den anschließend berichtet wurde. Er verfügt über erstaunliche Intelligenz, obwohl er kein Hirn hat, im Gegensatz zu vielen Menschen, die trotz Hirn nennenswerte Intelligenz vermissen lassen.

Sonntag: Während des Spazierens sah ich am Rhein einen Mann, der mit Flusswasser seinen kleinen Hund hinten reinigte. Der Hund ließ es über sich ergehen, begeistert wirkte er nicht, was bei der Wassertemperatur und überhaupt nachvollziehbar ist.

Auf dem weiteren Weg durch den trüben, sich scheinbar endlos ziehenden Januar sah ich die erste Schneeglöckchenblüte und einen Kleinbus mit der Aufschrift »Es gibt Hoffnung«, was wie ich finde ganz gut zusammenpasst. Außerdem sah ich jede Menge Moos, die Dokumentation gestern Abend hat mir diesbezüglich die Augen geöffnet. Es ist kaum möglich, auch nur wenige Meter durch die Gegend zu gehen, ohne irgendwo die grünen Polster zu erblicken.

Es gibt Menschen, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, über Moose zu forschen. Das muss wunderbar sein.

Ganz wunderbar muss es auch sein, sein Moos zu verdienen mit Schreiben, wenn man es kann wie Max Goldt, der sich ausnahmsweise interviewen ließ, anzuschauen hier:

Ach ja, dies noch:

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche, möglichst ohne Mord, Totschlag und anderen Unannehmlichkeiten.