Woche 20/2023: Eisheilige, Imkernde und (kein) Brückentag

Montag: Vergangene Nacht träumte ich von einer erheblichen Mailflut im Büro. Kaum war eine Nachricht bearbeitet, trafen zwei neue Imponderabilien ein, zeitweise im Minutentakt, es nahm kein Ende. Die Wirklichkeit zeigte sich heute wesentlich ruhiger, es kostete Mühe, in die Gänge zu kommen und die anstehenden Aufgaben anzugehen. Stattdessen kam eine weitgehend unnötige und an anderen Tagen als lästig empfundene Besprechung gelegen, die keine aktive Teilnahme meinerseits erforderte und es mir stattdessen ermöglichte, eine halbe Stunde lang aus dem Fenster zu schauen und Strichliste zu führen, wie oft jemand „tatsächlich“ sagt (vierzehn mal).

Immerhin trat ich optisch hervor. Einem inneren Bedürfnis folgend wählte ich morgens nach längerer Zeit einen Anzug und ordentliche Schuhe als Arbeitskleidung. Nachdem in den zurückliegenden drei Jahren diesbezüglich eine gewisse allgemeine Lotterei zu beobachten ist, fühlte es sich gut und richtig an, auch wenn es nicht zur Gewohnheit werden muss. Auf eine Krawatte verzichtete ich.

Als ich abends Brötchen für das Abendessen holte, kam ich an einer Dreiergruppe vorbei, zwei Damen und ein Herr (letzterer in Anzug mit Krawatte), die in der Fußgängerzone standen und den Vorübergehenden Druckwerke zur Mitnahme reichten. Daneben ein Schild mit der Aufschrift »Für eine gesunde Psyche«. Wie gesund mag es für deren Psyche sein, wenn niemand stehen bleibt für ein Gespräch, oder wenigstens im Vorbeigehen ein Heft abnimmt?

Dienstag: Heute war es wieder ziemlich kalt, mutmaßlich Nachwirkungen der Eisheiligen. Fragte man mich nach deren Namen, so antwortete ich als weitgehend ungläubiger Mensch Malaga, Waldmeister, Langnese, Schöller und Fürst Pückler. Wie auch immer – Der Wind, der mir auf dem Rückweg vom Werk die ganze Zeit kühl ins Gesicht blies, rüttelte am fragilen Kartenhaus meiner guten Laune.

Mittwoch: Wegen des Feiertages morgen und der sich daraus ergebenden Gelegenheit eines langen Wochenendes wird heute mit zahlreichen Staus auf deutschen Straßen gerechnet. Dazu einst ein gewisser Blaise Pascal: »Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos, dans une chambre.« Übersetzt: »Das ganze Unheil der Menschen kommt nur daher, dass sie nicht gelernt haben, in Ruhe in einem Zimmer zu bleiben.« Ein Satz voller Wahrheit.

Heute ist Weltfernmeldetag. Eine schöne Gelegenheit, an das verblichene Fernmeldewesen zu erinnern, das längst durch die Telekommunikation abgelöst worden ist.

Die Zeitung berichtet über einen Straßenbaum in der Bonner Innenstadt, der gestern ohne Ankündigung und nachvollziehbaren Grund einfach umgekippt ist. Dazu der Leiter des für die Stadtbegrünung zuständigen Amtes: »Bäume sind Lebewesen, die manchmal unberechenbar reagieren.« Besondere Vorsicht daher im Mai, wo sie laut traditionellem Liedgut zum Ausschlagen neigen.

Donnerstag: Vielen Dank den Christen für diesen arbeitsfreien Tag, den ich wenig blogabel verbrachte mit lange Schlafen, einem längeren Spaziergang über den Rhein (also über die Brücken, nicht übers Wasser, das konnte nur der Himmelfahrer) und Lesen auf dem Balkon, letzteres erstmals, da die Sonne der Jahreszeit angemessen wärmte, unter der neuen Markise. Ein Lob der Viertagewoche; mit dem Thema bin ich noch lange nicht durch.

Was es alles gibt
Parkidylle mit friedlichen Kastanien

Freitag: Dank dem Brückentag, den andere eingelegt hatten, war es heute im Büro sehr ruhig, ich hatte die Etage, womöglich das ganze Gebäude für mich alleine. Die erste freitägliche Teams-Besprechung fiel dank geringer Teilnehmerzahl erfreulich kurz, die zweite ganz aus. Auch der Maileingang war gering, zudem schien die Sonne, was sich kürzend auf meinen Dortseibedarf auswirkte und mich zu einem zeitigen Feierabend veranlasste.

»In der Bahn sind Slides schneller getauscht, als du „Deadline” sagen kannst«, wirbt die Deutsche Bahn auf Twitter. Welch ein Unfug. Niemals würde ich freiwillig „Deadline“ sagen. – Apropos Tod: Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie Sie gerne sterben möchten? Idee: sich selbst verarschen und infolgedessen totlachen.

Abends aßen wir beim Italiener nicht weit von unserer Wohnung entfernt, der das Lokal erst vor kurzem übernommen hat. Wir waren sehr zufrieden und wünschen ihm künftig mehr Gäste als gestern, wo wir das Restaurant fast für uns hatten.

Das Speisenangebot überrascht durch Vielseitigkeit

Samstag: »Bahn will Erde vermarkten«, übertitelt die Zeitung einen Artikel. Darin geht es nicht um eine von Herrn Lutz angestrebte Weltherrschaft, sondern die gewinnbringende Veräußerung von Aushub aus Bahnbaustellen.

Auch aus der Zeitung, in einem Artikel über Bienen: »Der einzige Unterschied zu den Wildbienen ist, dass die Honigbiene eine Lobby hat – nämlich den Imkernden« – Gendern im Singular sollte man Profis überlassen.

Nachmittags freute ich mich über eine Mail im privaten Eingang. Vergangene Woche erzählte ich über meinen Besuch der Lesebühne TapetenPoeten in Beuel und die Idee, dort selbst mal was vorzutragen, Sie erinnern sich vielleicht. Meine diesbezügliche Anfrage von Montag wurde heute positiv beschieden, am 5. September bin ich voraussichtlich dabei. Somit noch genügend Zeit, zu überlegen, was ich dort vortragen werde. Wenn Sie Vorschläge haben, gerne.

Abends gab es Bowle. Das kam so: Der Geliebte hatte in der Woche eine größere Anzahl Nektarinen erstanden. Da ich in diesem Haushalt der einzige regelmäßige Obstesser bin, Früchte in solcher Menge jedoch nicht zu verzehren in der Lage bin, drohten sie, der Überreife und Gammel anheim zu fallen. Daher der Bowlenbeschluss; neben den Nektarinen kamen noch eine Birne und eine Handvoll Erdbeeren unters Messer und in die Schale. Durch ein bedauerliches Versehen erfolgte der Aufguss mit einem höherpreisigen Jahrgangssekt statt des vorgesehenen Erdbeerschaumweins, was zunächst den Unmut des Liebsten hervorrief, dem anschließenden Genuss jedoch nicht abträglich war.

Am späten Abend kreiste für längere Zeit ein Hubschrauber mit erheblichem Lärm über der Stadt, zeitweise verharrte er minutenlang an einer Stelle. Vielleicht Räuber und Gendarmen für Große.

Sonntag: Erstmals in diesem Jahr erlaubte die Außentemperatur das Frühstück auf dem Balkon, bowlenbedingt noch von einer leichten Appetitlosigkeit begleitet.

Doch kommt Appetit bekanntlich beim Trinken. So schmeckte das Spazierbier nachmittags in einer Südstadt-Außengastronomie schon wieder gut. Dabei störte es mich überhaupt nicht, dass aus dem geöffneten Fenster der Gaststätte immer dasselbe Lied in Dauerschleife zu hören war, ein spanisches Stück mit bekannter Melodie und mir unbekanntem Titel. Wie mögen das die Angestellten des Lokals empfinden (beziehungsweise was macht das mit ihnen, wie manche sagen), die das stundenlang anhören müssen? Oder merken die das gar nicht mehr, so wie man sich ja angeblich auch an das Dauerrauschen gewöhnt, wenn man nahe einer Autobahn wohnt?

Wo wir gerade bei Fragen sind: Was veranlasst immer mehr junge Männer zu dieser albernen Kleinlockenfrisur bis weit über die Stirn? Wer hat ihnen gesagt, das sähe gut aus?

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Kommen Sie gut durch die Woche. Ich sehe ihr mit Vorfreude entgegen: Arbeitstage sind nur Montag und Freitag, dazwischen bin ich privat in München und ich bin mir sicher, das wird gut.

Woche 50: Habemus balneum

Montag: Die Verbraucherschutzkommision der Europäische Union warnt vor bestimmten Feuerwerkskörpern, weil mit deren Gebrauch Verbrennungen und Gehörschäden einhergehen können. Ach was. Warum wird nicht auch vor finanziellen Einbußen nach deren Erwerb gewarnt?

Zurecht weist Frau Marjorie auf das Fehlen des Wortes „tatsächlich“ in der jüngst fortgeschriebenen Floskel-Liste hin. Das ist umso unverzeihlicher, als dass ich mich bereits an einem Freitag im April über seinen übermäßig-unsinnigen Gebrauch ausließ. Vielen Dank für den Hinweis, das Wort wird selbstverständlich bei nächster Gelegenheit ergänzt.

Dienstag: „Das hat eine gewisse Ambivalenz. Reibung erzeugt Wärme“, sagte morgens in der Bahn eine Frau zu ihrem Nebenmann. Wie kann man am frühen Morgen schon so einen Unsinn reden.

„Das ist wie das Henne-Huhn-Prinzip“, sagte die Kollegin später in der Besprechung. Ich war zu müde, mir von ihr das Prinzip erläutern zu lassen.

„Ein Smoking ist auch nichts, was man nicht nicht haben müsste“, sagte der Liebste am Abend. Darüber muss man erstmal nachdenken. Braucht man so ein Ding nun oder nicht oder nicht nicht oder doch? Rein mathematisch bedeutet eine dreifache Verneinung „nein“, doch bin ich mir nicht sicher.

Bereits ab 2021 soll Tabakwerbung in Deutschland schrittweise verboten werden, welch politischer Donnerschlag. Ein im Fernsehen sich äußern dürfender Tabaklobbykasper sieht darin indes einen gesundheitspolitischen Rückschritt, werde der Tabakindustrie dadurch doch die Möglichkeit genommenen, über weniger gesundheitsschädliche Produkte wie Elektrozigaretten zu „informieren“. Auf diese Argumentation muss man auch erstmal kommen.

Apropos Jugendschutz:

KW50 - 1 (2)

Ein wenig fühlt es sich an wie ein Ritterschlag.

Gelesen hier, und das gefällt mir richtig gut, das sollte man sich immer wieder bewusst machen:

„Man sollte Alltag sehr viel mehr schätzen; man merkt das, wenn der Alltag zwischendurch mal wegbricht. Deswegen mache ich soviel Alltag wie möglich.“

Aus gegebenem traurigen Anlass:

Mittwoch: Diese Woche gab es nur ein dienstlich veranlasstes vorweihnachtliches BesoffenBeisammensein, mit teambildendem Aufenthalt in einem sogenannten „Escape-Room“. Kann man mal machen, doch bedarf es keiner kurzfristigen Wiederholung. – Erwähnte ich schon meine Abscheu gegen Event-Gruppenbilder? Auf solchen erkennen Sie mich stets als denjenigen, der niemals in die Kamera schaut.

Donnerstag: »Frauen mögen es in der Wohnung wie auch im Büro lieber wärmer, Männer dagegen kühler. Deshalb tobt in vielen Familien und Betrieben der „Kampf um den Thermostat“«, lese ich beim Morgenkaffee in der PSYCHOLOGIE HEUTE. Womit meine weibliche Seite sehr treffend beschrieben wäre, wobei in diesem Haushalt mehr die Balkontür Gegenstand der Kampfhandlungen ist.

Ich bin kein Morgenmensch. Kommunikation vor neun Uhr ist mir ein Graus, insofern verwundert mich immer wieder, wie viele Menschen bereits um kurz nach sieben auf dem Weg ins Werk das Telefon am Ohr haben beziehungsweise, die Jüngeren, wie ein Schmalzbrot vor sich halten. Eine Oase der Stille war bislang die halbe Stunde zwischen Bad (als wir noch eins hatten), Ankleidung und Aufbruch ins Werk. Aufgrund – grundsätzlich begrüßenswerter – organisatorischer Änderungen im unmittelbaren menschlich-persönlichen Umfeld ist es damit auch vorbei: Bereits beim ersten Kaffee des Tages versucht man, mich in Gespräche zu verwickeln, zudem wird die Balkontür aufgerissen, um meine innere Frau zu frösteln.

Später im Werk: „Können wir bitte erstmal nur die Topics aufnehmen, auf gut Deutsch?“, sagte der Projektleiter. Er klang dabei nicht besonders ironisch.

Freitag: Morgens verkündete der Fahrer der Stadtbahn, während wir in der Haltestelle Hauptbahnhof standen, der Zug nebenan fahre vor uns ab, woraufhin etwa sechzig Prozent der Fahrgäste fluchtartig den Wagen verließen und nach nebenan liefen, auf dass sie früher ans Werk kommen. Eine knappe Minute später setzte auch unser Wagen seine Fahrt fort. Was treibt diese Menschen nur?

Habemus balneum – auf gut Deutsch: Nach zwei Monaten und sechzehn Tagen wurde endlich die Dusche installiert. Höchste Zeit; langsam wurde es unbequem und lästig, jeden Morgen runter an den Rhein zu gehen. Weiterhin stößt das morgendliche Leeren des Nachttopfes auf die Straße zunehmend auf Missfallen von Passanten und Anwohnern. Aber wer weiß, vielleicht bekommen wir schon kommende Woche das Klosett eingebaut.

Samstag: Experten forderten kürzlich, Katzen wegen ihres Jagdtriebes und der damit verbundenen weiteren Dezimierung von Singvögeln nicht mehr frei herumlaufen zu lassen, was erwartungsgemäß nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt. Frau Susanne H aus B schreibt dazu in einem Leserbrief an den SPIEGEL:

„Wann immer meine Katzen Jagdglück hatten, hatte sich der Vogel dumm und sorglos angestellt. Hätte er seine Dummheit an seine Nachkommen weitervererben sollen?“

Sonntag: Eines der schönsten Geräusche ist das Prasseln von Regentropfen auf die Fensterbank unseres Schlafzimmers, vor allem wenn ich mich nochmal umdrehen und weiterschlummern kann. Wie heute früh.

Matthias Brandt schreibt in „Blackbird“, meiner derzeitgen Bettlektüre:

„Ich könnte genauso gut jemand anders sein. Alleine schon, wenn ein anderes Spermium ein bisschen schneller gewesen wäre, wäre ich jetzt vielleicht nur eins dreiundfünfzig groß gewesen und hätte eine Riesennase gehabt, also noch viel größer, als mein Zinken ohnehin schon war, und ich würde zu Modelleisenbahnertreffen fahren oder was weiß ich.“

Da ist was dran. Statt in warmer Stube mit der Modelleisenbahn zu spielen, würde ich vielleicht morgens die Balkontür aufreißen und abends Fußball kucken. Was weiß ich.

Verkaufsoffener Sonntag in Bonn. „Genussvoll shoppen im Lichterglanz“, so das Motto. Wenigstens nicht „besinnlich“. Ich ziehe es dennoch vor, die Innenstadt zu meiden.