Woche 10/2024: Freie Fahrt für Freie Demokraten und sonnenbebrillte Aperoltrinker

Montag: Weiterhin von läufiger Nase und bellendem Husten belästigt beschloss ich am frühen Nachmittag, mich krankzumelden, alle Termine für morgen abzusagen, nach Hause zu fahren und mich ins Bett zu begeben. Manchmal geht es nicht anders, morgen sehen wir weiter, oder übermorgen.

Abends schaute ich auf Welt TV eine reißerische – nun ja: Dokumentation über die Auslöschung der Menschheit durch Außerirdische, die nicht frei war von unfreiwilliger Komik; alle paar Sekunden schlug irgendwo mit entsprechender Geräuschanimation ein Feuerball ein. Im ersten Werbeblock die Erkenntnis: Die Menschheit hätte es nicht anders verdient.

Dienstag: Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich liegend. Alles Weitere ist hier nachzulesen.

Unbedingt lesenswert: Frau Anjes Betrachtungen zu Gendern und Heiraten.

Mittwoch: Da ich mich morgens nicht unwohler fühlte als üblich um diese Zeit, entschloss ich mich zur Wiederaufnahme der Werktätigkeit; wenn es nicht ging, konnte ich ja wieder nach Hause fahren und mich ins Bett legen. Auf einer Skala von eins bis zehn lag das Wohlbefinden nach Ankunft im Büro bei maximal sechs komma fünf, dennoch verlief der Arbeitstag insgesamt recht angenehm und er endete spät. Auch die offene Angelegenheit mit der Querschnittsabteilung konnte zum Abschluss gebracht werden, wenn auch einen Tag zu spät, was, wie schon gestern beklagt, aus rein formalistischen und nicht im Geringsten sachlichen Gründen zu einer mindestens vierwöchigen Verzögerung eines Vorhabens führen wird. Es sei denn, bestimmte Kollegen drücken ein Auge zu, was so wahrscheinlich ist wie Trumps Verzicht auf die Präsidentschaftskandidatur und die Erreichung der Klimaziele durch die Bundesregierung. Alle sind sich einig, dass das vor über zwanzig Jahren festgelegte Vorgehen Mist ist, ein echter Bullshit-Job im Graeberschen Sinne, der allen Beteiligten viel Arbeit bereitet und keinerlei erkennbaren Nutzen hat, doch niemand sieht sich in der Lage, es zu ändern. Wie den Klimawandel. Ich habe beschlossen, mich heute und in der Zukunft nicht mehr darüber zu ärgern, zumal auch das (gut) bezahlte Arbeitszeit ist. Gleichwohl werde ich jede sich bietende Gelegenheit nutzen, dagegen zu stänkern. Ich fühle mich bereits viel wohler.

In den Niederlanden wurden die Bußgelder für Verkehrsverstöße angehoben, steht in der Zeitung. Unter anderem kostet Falschparken jetzt mindestens hundertzwanzig Euro, bei Rot über die Ampel dreihundert und Telefonieren ohne Freisprecheinrichtung vierhundertzwanzig Euro. Undenkbar im Land der freien Fahrt für Freie Demokraten.

Donnerstag: Mit der Erkältung wird es immer besser, die Rückkehr zum Stofftaschentuch steht kurz bevor.

Morgens

Auf dem Rückweg vom Werk erregte augapfelstreichelnde Werbung (mindestens) die Aufmerksamkeit.

Schönes Haar ist ihm gegeben

Nach Rückkehr fragte mich der Geliebte, wie und wo ich beerdigt werden möchte. Außerdem hat er ein aufwändiges Blumengebinde gekauft. Gewiss, mein Husten wies in den vergangenen Tagen einen leicht finalen Klang auf, doch manchmal neigt er zur Übertreibung. Im übrigen ist es mir völlig egal, in welcher Weise man meine Überreste dereinst dem ewigen Kreislauf zuführen wird und ich verstehe Leute nicht, die dazu konkrete Vorstellungen und Wünsche haben.

Freitag: In Deutschland fehlen Grundschullehrer, wurde morgens im Radio gemeldet. Diese Not zu lindern könnte auch die Hochschule Aachen entsprechende Studiengänge anbieten. Kann sie aber nicht mangels Gebäude. Es gäbe schon eins, nur kann das nicht genutzt werden, da nicht barrierefrei. Dass eine Körperbehinderung Zugangsvoraussetzung für das Lehramt ist, ist mir neu. Die AfD lacht sich kaputt. (Bevor Empörung aufbraust und man mich des Ableismus bezichtigt: Ich bin für Barrierefreiheit. Doch ist ihre Abwesenheit meines Erachtens kein geeignetes Argument, sinnvolle und notwendige Dinge gar nicht zu tun.)

„Ich bin ein naturverliebter Mensch“ sagte einer in der Besprechung, was großen Raum für Spekulationen eröffnet.

Heute ist nicht nur Weltfrauentag, sondern auch:

Finde den Fehler.

Mittags gab es Currywurst mit Pommes und Kraut. Wann fing das an, dass es statt Krautsalat überall nur noch Coleslaw gibt, und hört das irgendwann wieder auf? (Ja, ich weiß, dass das nicht dasselbe ist.)

Ein berufliches Vorhaben meine Wochenarbeitszeit betreffend nimmt konkrete Formen an. In Kürze werde ich dazu wohl eine Entscheidung treffen, die das Leben noch etwas schöner macht, vor allem Donnerstags.

Samstag: Ich habe beschlossen, den Winter für beendet zu erklären. Zur Bekräftigung dieses Beschlusses habe ich die Winterjacke gegen die leichtere Daunenjacke getauscht. In der Sonne ist es fast warm, aber auch nur dort, wie ich beim ersten Freiluftbier der Saison auf einem schattigen Außengastronomieplatz feststellte, weil alle Sonnenplätze von sonnenbebrillten Aperoltrinkern belegt waren.

Utepils, wie der Norweger sagt

Schon lange erwäge ich, mir einen Hut zu kaufen. Heute wäre es beinahe dazu gekommen, ich befand mich bereits im Hutfachgeschäft und probierte vor dem Spiegel mehrere Hüte an. Doch keiner davon sagte mir richtig zu, mal war es die Farbe, mal die Breite der Krempe oder die Form des Hutbands; bei jedem dachte ich: Das sieht komisch aus. Vielleicht sollte ich demnächst nochmal in Begleitung dort hingehen, ganz ab bin ich von der Idee noch nicht. Sie muss noch etwas reifen.

Sonntag: Aus dem Interview der Sonntagszeitung mit dem Bayer-Chef Bill Anderson: »In großen Unternehmen verbringen manche Beschäftige ihr halbes Leben damit, wie sie für ihre Ideen die Zustimmung ihrer verschiedenen Vorgesetzten bekommen und welche Powerpoint-Folien sie für deren Nachfragen vorbereiten müssen.« Sie sehen mich heftigst nicken.

Nachmittags ging ich spazieren, wie jeden Sonntag.

Magnolienpracht am ehemaligen Krankenhaus
Mirabellenblüte auf der anderen Rheinseite
Stilleben mit Klo unter der Autobahn

***

Kommen Sie gut durch die Woche, genießen Sie den Frühling.

Zwischen den Jahren

Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester wird gerne „zwischen den Jahren“ genannt. Das ist natürlich Unsinn: Wie ein Blick in den nur noch dünnen Kalender zeigt, befinden wir uns noch immer im alten Jahr, das in letzten Zuckungen dem Ende entgegen siecht.

Und doch haben diese Tage etwas Zwischenzeitliches, jedenfalls wenn man keinen Urlaub hat: Die wesentlichen Aufgaben des Jahres sind erledigt, alles andere kann bis zum nächsten Jahr warten. Nächstes Jahr – wie fern das klingt, dabei ist es schon nächste Woche, übermorgen bereits. Man fängt nichts Neues mehr an, dafür macht man früh Feierabend, wenn man die Möglichkeit hat. Für das wenige, was noch zu tun ist, nimmt man sich Zeit, auch für Dinge, zu denen man sonst nicht kommt. Hektisch wird es erst wieder im neuen Jahr, wenn sie alle zurück sind aus dem Weihnachtsurlaub und die anderen mit Mails, Anrufen, Powerpoint und Besprechungen behelligen; alles dringend, alles wichtig.

Bis dahin herrscht himmlische Ruhe – das Telefon schweigt, kaum Maileingang, der Kalender terminfrei. Das Kantinenangebot ist eingeschränkt, wir sind noch satt von Weihnachten. Auch in den Büros ist fast niemand, daran wird sich indes auch im neuen Jahr so bald nicht viel ändern. Insofern hat „zwischen den Jahren“ noch eine andere, durchaus zutreffende Bedeutung bekommen.

Woche 6: Sei immer nett zu jedermann

Montag: Geburtstagen messe ich mittlerweile keine große Bedeutung mehr bei, jedenfalls meinen eigenen. Dennoch danke ich allen, die heute mit Worten und Gaben an mich gedacht haben. Ausdrücklich danke ich auch denen, die ihre Grüße und guten Wünsche fernschriftlich per elektronischer Kommunikationsmedien übermittelten. Nicht auszudenken, wenn die alle angerufen hätten. Ich selbst schenkte mir übrigens einen frühen Feierabend, woran zu gewöhnen mir auf Dauer nicht schwer fiele.

Dienstag: Meine Kollegin hat mir ein Buch von Eckart von Hirschhausen geliehen, welchen zu lesen ich bislang keine Gelegenheit hatte. Dabei schreibt er wunderbare Sachen:

„77 Prozent der US-Amerikaner glauben, dass Aliens die Erde besucht haben (Umfrage von 2012, also vor Donald Trump).“

(Aus: „Wunder wirken Wunder“, 2016)

Ansonsten plagt mich ein aufkommender Schnupfen. Der Nachteil: vorübergehende Umstellung von Stoff- auf die von mir ungeliebten Papiertaschentücher. Der Vorteil: eine gute Begründung, um Händeschütteleien zu umgehen.

Mittwoch: Vielleicht hätte ich richtig Karriere gemacht, verweigerte ich mich nicht konsequent der Powerpoint-Nutzung. Heute hätte mir auch das nichts genützt, denn der Rechner meldet „Powerpoint funktioniert nicht mehr“; auch nicht nach zahlreichen Versuchen und Neustart.

KW6 - 1

Eine kurze Umfrage im Kollegenkreis ergibt, ich bin nicht der einzige. Welch paradiesische Vorstellung: ein Leben ohne Präsentationen. Wie ich hörte oder las, oder beides, so genau weiß ich es nicht mehr, ist diese Geißel der Bürokommunikation bei Amazon generell verboten. Stattdessen müssen dort Vorlagen und Konzepte ohne dämliche Bildchen und in ganzen Sätzen in ein Textdokument niedergeschrieben werden, auf dass ein jeder, den es betrifft, sich die Zeit nehme, es zu lesen. Wenngleich ich eine Amazon gegenüber äußerst reservierte Haltung zu meinen positiven Eigenschaften zähle, so sehr begeistert mich diese Regelung.

Auch Herr Firla macht sich Gedanken zu Amazon, schreibt über „Händler, die präamazonal mit einer Schelle bimmelten, um Kunden auf die Straße zu locken.“ Sehr lesenswert.

Trotz erkältungsbedingter Unlust lohnte sich am Abend der Besuch der Chorprobe, denn wir probten mein absolutes Lieblingsstück: „Ebben? Ne andrò lontana“ aus der Oper „La Wally“ von Alfredo Catalani, bekannt geworden unter anderem durch Maria Callas. Vor Jahren sangen wir es schonmal, da klang es so:

Ist das nicht wunderwunderschön? Vielleicht nicht so schön wie von Frau Callas (oder „die Callas“, wie respektlose Medien gerne schreiben), aber doch mindestens so schön wie Modern Talking.

Donnerstag: Das mit Modern Talking war zugegebenermaßen eine unelegante Überleitung auf heute: Dieter Bohlen wird fünfundsechzig, und das Bundeskartellamt untersagt Facebook das Datensammeln. Man nehme die Weisung des Kartellamtes ernst, lässt das Unternehmen den Sprecher sprechen. Die Hoffnung, dadurch würde sich irgendetwas ändern, scheint indes genauso unbegründet wie die, Bohlen könnte jetzt in Rente geht.

Freitag: Im Werk stehen größere Veränderungen an. Wieder gilt: „Sei immer nett zu jedermann / Schon morgen er dein Chef sein kann.“

Samstag: „Man muss da immer sehr aufpassen eine ganz exakte Grenze zwischen wissenschaftlich Nachweisbarem und Fabuliertem zu ziehen, denn in der Grauzone zwischen beidem bereichern sich die Scharlatane“, schreibt Frau Myriade in ihrem Blog. Ein Satz, der mir sehr gut gefällt.

Heute in einem Monat wird mein Twitterkonto zehn Jahre alt. Dann lösche ich es. Darauf freue ich mich schon. Der letzte Tweet hat keine Pointe. #Twexit

Eine weitere Wiederentdeckung von einer alten Musikkassette mit Radioaufnahmen:

Sonntag: Nachdem wir zuvor auf RTL „Take Me Out“ geschaut hatten, diese Verkupplungsshow, die durch ihren Moderator Ralf Schmitz einen gewissen Unterhaltungswert aufweist (aber auch wirklich nur deswegen), träumte ich in der Nacht, durch einen Irrtum, ein grandioses Missverständnis als Kandidat in diese Show geraten zu sein. Schon als ich die Reihe der Damen stolpernd abschreite, drückt jede von ihnen entsetzt auf den Buzzer. „Lisa-Patricia, warum hast du gedrückt?“, fragt Schmitz. „Na hör mal, der geht ja gaaar niiiiich …“, antwortet die Gefragte; „Der geht so komisch“, sagt eine andere, deren Name mir entfallen ist. Nur Marta, eine ganz besonders Dicke mit Glatze, viel Metall im Gesicht und großflächigen Tätowierungen am ganzen Körper, hat noch weißes Licht am Pult. „Ich finde den total scharf“, lässt sie Schmitz mit sonorer Stimme wissen, während sie sich, mich nicht aus den zu messerscharfen Schlitzen verengten Augen lassend, lüstern die Lippen leckt.

Dann wird der kurze Film über mich eingespielt. Als zu sehen ist, wie ich vor meiner Modelleisenbahn sitzend die Schranken herunter kurbele, bricht Panik im Saal aus, die Damen rennen und kreischen wild durcheinander, selbst Ralf Schmitz, sonst niemals um einen Spruch verlegen, starrt mich schweigend an, sichtlich um Fassung ringend. Nur Marta, inzwischen gänzlich unbekleidet, kommt zielstrebig, noch immer die Lippen leckend, auf mich zu. Dann wache ich auf, mit dem Vorsatz, nie wieder vor dem Zubettgehen RTL zu schauen.

KraftPunkt

Früher bemalten Menschen die Wände ihrer Höhlen mit Blut, Holzkohle und Metalloxiden, später beschrifteten oder bedruckten sie Folien und legten sie auf einen sogenannten Tageslichtprojektor; heute gibt es Powerpoint, ein echter Segen moderner Bürokommunikation: mit wenig Aufwand kann man Informationen an die Wand projizieren, ohne hinterher vor Fragen zu stehen wie „In welchen Müll gehören die blöden Folien?“ oder „Wie kriege ich meine Höhlenwand wieder sauber?“

Was mit wenig Aufwand funktioniert, lässt sich mit viel Aufwand perfektionieren. So sind manche Kollegen wahre Meister darin, banalste Vorgänge wie etwa das Wechseln einer Kugelschreibermine mit reichlich klein geschriebenem Text, Grafiken, Animationen und Bildern auf vierzig Seiten und mehr aufzublasen, getreu der Regel „weniger ist weniger“. Auch ist es mittlerweile verpönt, Führungskräfte mit einem einfachen, knapp gehaltenen und auf die wesentlichen Punkte reduzierten Word-Dokument abzuspeisen, nein, es muss eine grafisch ausgefeilte Powerpoint-Präsentation sein, selbst wenn sie dem Chef nur schwarz-weiß ausgedruckt verabreicht wird. Vielleicht versteht er den Inhalt sonst nicht. Vielleicht haben die Kollegen auch nur Langeweile.

Doch die wahre Powerpoint-Hölle eröffnet sich alljährlich in diesen Tagen: je bunter und animierter Tannenbäume, Rentierschlitten, Weihnachts- und Schneemänner über den Bildschirm tanzen, desto schneller reagiert mein Löschfinger. Aber ich will mich nicht beklagen, das ist immer noch besser und wesentlich einfacher zu entsorgen als Jingle-Bells singende Postkarten.

Sicher scheint indes: dereinst wird das Ende der Welt nicht angekündigt werden durch missgedeutete Schriften vergangener Völker, sondern irgendwann durch eine riesige Powerpoint-Präsentation am Firmament. Animiert und bebildert.