Woche 32/2025: Was so geschrieben und gesagt wird

Montag: „Zähle 30 Dinge auf, die dich glücklich machen“ lautet der Vorschlag des Tages hier in der Wörterpresse. Das ist schnell getan: Die dreißig arbeitsvertraglich festgelegten Urlaubstage im Jahr machen mich ziemlich glücklich, jeder einzelne davon. In vier Wochen die nächsten elf. Nicht minder lieb sind mir die freien Inseltage jeden zweiten Donnerstag. Wie der kommende.

Dienstag: Der dienstagsübliche Fußweg ins Werk fiel ins Wasser wegen Regens, zurück ging es auf trockenem Weg.

In einer langen Besprechung am Nachmittag sagte einer in etwa jedem vierten Satz „am Ende des Tages“, wie so oft übertrug es sich im Laufe des Gesprächs wie ein Verbalvirus auf weitere Teilnehmer.

Auch ins Wasser gefallen

Nicht am Ende des Tages, doch kurz davor trafen wir uns im kollegialen Rahmen im Biergarten. Aus der ursprünglich geplanten Dreierrunde wurden elf, wie immer öfter in letzter Zeit war ich der Älteste. Ich fand es anstrengend, es wurde viel geschäftliches gesprochen mit der für die Altersgruppe Mitte zwanzig bis Ende dreißig typischen Wortwahl wie „Die Pommes sind krass crunchy“ und „Der Salat ist echt nice„. Zunehmend erschwert nicht nur mein nachlassendes Gehör die Teilnahme an solchen Unterhaltungen, sondern auch meine lückenhaften Englischkenntnisse. Als sie begannen, sich damit zu brüsten, wieviel Zeit man im Büro verbringt („Stell dir vor, jedes Mal würde einer ’ne Pizza ausgeben, nur weil man nach 22 Uhr noch da ist“) wurde es Zeit für mich, zu gehen. Die Runde zu dritt wäre mir lieber gewesen. Wie bereits vergangene Woche sei nochmals Ernst Jandl zitiert: „das stück, darin / ich keine Rolle spiele / ist meines.“ „/ nicht mehr“, wäre zu ergänzen.

Mittwoch: Ein weiterer Grund, weshalb ich es gestern Abend bei zwei Bieren beließ, war der heute Morgen anstehende Zahnarztbesuch zur Kontrolle und Reinigung, da will man nicht mit einer Fahne herumdünsten, auch sonst sind Arbeitstage unter Restalkohol erfahrungsgemäß wenig erfreulich. Nachdem alles zur beiderseitigen Zufriedenheit kontrolliert und gereinigt war, radelte ich jackenlos durch noch deutliche Morgenkühle zum Turm.

Vormittags hatte ich anlässlich einer überraschenden Übung meinen ersten Einsatz als Brandschutzhelfer. Als das Alarmsignal ertönte, zog ich die bereithängende Warnweste über und setzte einen wichtigen Gesichtsausdruck auf, mit dem ich im mir zugewiesenen Gebäudeabschnitt von Büro zu Büro ging, um die Kollegen aus dem Gebäude zu scheuchen. Die gingen allerdings freiwillig, so dass keine scharfe Ansprache oder Gewaltanwendung meinerseits erforderlich war. Schließlich meldete ich telefonisch die Etage als geräumt, dann verließ ich selbst durch das Treppenhaus den Turm. Der nächste Brand kann kommen, muss aber nicht.

Donnerstag: Falls Sie in der Inneren Nordstadt in Bonn wohnen und morgens jemanden etwas schräg, dafür einigermaßen textsicher „Unchained Melody“ singen hörten, das war ich. Während des Brausebades kam es im Radio, der Mitgesang war ununterdrückbar.

Wie am Montag bereits angedeutet, hatte ich heute frei. Wie üblich nutzte ich den Tag für eine Wanderung. Da Wärme angekündigt war, wählte ich eine nicht zu lange, möglichst bewaldete Route ohne stärkere Steigungen: einen Rundweg durch die Ville ab dem Bahnhof Erftstadt entlang mehrerer Seen, die durch Braunkohle-Tagebau im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind; ich habe das kurz für Sie recherchiert, nicht dass es heißt, hier lerne man nichts. Diese Route hatte mir vor einiger Zeit die Nachbarin empfohlen; vielen Dank, liebe M., eine gute Empfehlung, es war sehr schön. Kurz vor dem Ziel bog ich an einer Stelle falsch ab, wodurch eine Extraschleife zu gehen war. Das war nicht schlimm, auch wenn ich dadurch eine Teilstrecke zweimal ging.

Wie schön es war, können Sie hier sehen:

Dschungelartige Vegetation
Obersee
Untersee
Uferweg am Untersee
Mittagessen mit Blick auf den Heider Bergsee
Namenloser Tümpel am Wegesrand mit Bewohnern
Karauschenweiher

Nach Rückkehr in Bonn, Sie ahnen es, folgte eine Stärkung durch Currywurst und Bier. Bei dieser Gelegenheit herzliche Grüße an Leser Christian K., der mich angeschrieben hatte, um Nähres über das Bonner Currywurstangebot zu erfahren. Als Kleinblogger freut es mich immer sehr, wenn Geschriebenes Anerkennung und Rückmeldung erfährt.

Freitag: Nach den vorgenannten Annehmlichkeiten eines Inseltages noch einmal zurück in die Bürosphäre, ehe das Wochenende anbricht. Eine Kollegin lässt mich per Mail wissen, dass sie mich „fyi reingeloopt“ hat. Was so geschrieben und gesagt wird, wenn es bisi wirken soll.

In einer Besprechung gehört und notiert: „Ich habe keine Meldung erhalten, dass etwas unrund läuft, anscheinend läuft alles geradeaus.“ Ja wie denn nun?

Ansonsten war es ein angenehmer, nicht zu langer Arbeitstag, was überleitet zur Rubrik „Was schön war“:

Nach Rückkehr vom Werk standen Kaffee und Kuchen auf dem Balkontisch bereit. Ich kam gerade rechtzeitig an, bevor meine Lieben alles aufgefuttert hatten. Danach war ich beim Friseur, jetzt habe ich wieder die Haare schön. Nach der (wirklich!) letzten Färbung ergrauen auch die Schläfen langsam wieder.

Schön auch der folgende Satz eines Mädchens zu seiner Begleiterin vor dem Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts, gehört auf dem Weg zur (ebenfalls schönen) Abendgastronomie: „Alter, kuck mal der Rock, der ist ja cute.“

Samstag: Nachdem Kulturstaatsminister Weimar innerhalb seiner Behörde die Benutzung von Gendersternen und ähnlichen Sonderzeichen untersagt hat, empfiehlt er dasselbe nun auch anderen öffentlich geförderten kulturellen Einrichtungen, was gleichsam als Anweisung ausgelegt wird. Öffentliche Empörung und Zustimmung dürften sich in etwa die Waage halten. Auch ich verzichte aus Gründen der Sprach- und Schriftästhetik auf Genderzeichen, sowohl hier im Blog als auch in beruflichen Schriftlichkeiten; bislang hat sich keiner niemand darüber beschwert. Auch amüsieren mich immer wieder groteske Wort- und Satzkonstruktionen, die demselben Zweck dienen sollen wie „der Mitarbeitende“, „Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber“ oder die Anrede „Liebe:r Carsten“. Irgenwo las ich mal, nachdem der Schreibende zuvor das Femininum genutzt hatte, den Klammerzusatz „(das gilt auch für nicht-weiblich gelesenen Personen)“. Und doch habe ich überhaupt nichts dagegen, wenn andere es als richtig und notwendig erachten, geschlechtsneutral zu schreiben und sprechen. Ein wenig stolpere ich immer noch darüber, doch ich werde mich daran gewöhnen. Daher halte ich Weimars Weisung zumindest für fragwürdig.

„Alter“ ist übrigens, obwohl männlich gelesen, geschlechtsneutral, siehe Eintrag von gestern.

Zeit für die nächste Frage.

Vergangenen Donnerstag am Mittelsee

Frage Nr. 12 lautet: „Was möchtest du dir unbedingt irgendwann einmal kaufen?“ Unbedingt, aber nicht irgendwann, sondern sobald es erhältlich ist, das neue Buch „Aber?“ von Max Goldt, bestellt ist es schon beim Buchhändler des Vertrauens (selbstverständlich nicht beim großen A.). Irgendwann, aber nicht unbedingt möchte ich mir einen Hut kaufen, wie ich schon gelegentlich erwähnte. Ansonsten habe ich alles erforderliche.

Sonntag: Ein angenehmer Sommersonntag ohne größeren Berichtenswert mit gewohntem Ablauf: Balkonfrühstück mit den Lieben, Sonntagszeitungslektüre, ein längerer Spaziergang auf die andere Rheinseite und innere Erquickung im Biergarten. Laut Wetterprognose bleibt es erstmal warm, ich habe nichts dagegen.

Spaziergangsbild
Innere Kühlung
Mentale Abkühlung für die, die den Sommer nicht mögen

***

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut durch die warme Woche.

Redaktionsschluss: 17:00 Uhr

Das sagt man nicht

Warnung: Der folgende Text enthält das N-Wort in der Ursprungsfassung.

Der einst beliebte, dauerjugendliche, gleichwohl inzwischen etwas in die Jahre gekommene Moderator Thomas Gottschalk hat vor einigen Wochen auf sich aufmerksam gemacht mit seinem Buch, in dem er beklagt, man dürfe heute vieles nicht mehr sagen, was vor einigen Jahren noch zulässig gewesen sei. Ich habe das Buch nicht gelesen und beabsichtige es aus Zeitgründen bis auf weiteres nicht zu tun. Dennoch erlaube ich mir, Herrn Gottschalk zu widersprechen. Man darf durchaus noch alles sagen, was das Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich aus guten Gründen verbietet. Schriebe ich zum Beispiel, der alte weiße Mann stamme vom Neger ab, so bliebe das strafrechtlich unverfolgt, dennoch müsste ich als Folge einen gewissen Ansehensverlust in Kauf nehmen, zu recht. Dass wir diesen inzwischen als „N-Wort“ umschriebenen Begriff früher mit Selbstverständlichkeit benutzten, war zumindest von mir keine böse Absicht, wir wussten es einfach nicht besser. Roberto Blanco war einer und der tanzende Sängerimitator von Boney M., Tina Turner eine, ebenso die dunkelhäutige Puppe der Nachbarstochter, und der schokoladenumhüllte Zuckerschaum auf einer Rundwaffel hieß so, auch wenn das mit dem Kuss gar keinen Sinn ergibt. „Denk an die armen N-Kinder in Afrika“ sagte die Oma, wenn der Teller nicht leergegessen wurde. – Heute wissen wir es besser, daher meiden wir solche Wörter, das ist gut und richtig so.

Wobei ich gestehe, manchmal staune ich, welche Begriffe mittlerweile Empörungspotenzial enthalten. Kürzlich etwa war es der „Oberindianer“ aus Udo Lindenbergs altem Hit „Sonderzug nach Pankow“. Ein Berliner Chor sollte oder wollte das Lied ohne dieses Wort singen, um amerikanische Ureinwohner nicht zu grämen. Womöglich ist das den Betroffenen herzlich egal, weil sie ganz andere Probleme haben oder vielleicht demnächst bekommen, wenn Häuptling Orangehaut wieder an der Macht ist.

In bestimmten Kreisen gilt es schon seit längerer Zeit als unschicklich, Personen dem äußeren Anschein nach als Frau oder Mann zu bezeichnen, schließlich wisse man nicht, ob die derart bezeichnete Person sich nicht einem anderen oder keinem Geschlecht zugehörig fühlt, nur noch nicht dazu kam oder es gar nicht beabsichtigt, eine äußere Angleichung vornehmen zu lassen. Statt „Frau“ gab es den Vorschlag, von „Personen mit Menstruationshintergrund“ zu sprechen. Eine komische Vorstellung, etwa an der Fleischtheke oder in der Bäckerei, wenn es heißt: „Ich glaube, die junge Person mit Menstruationshintergrund ist vor Ihnen dran.“ Inzwischen tendiert man diesbezüglich wohl zu „sich weiblich lesende Person“, was die Situation beim Bäcker nicht viel weniger komisch macht.

Beziehungsweise bei der Bäckerin – ein weiteres Thema, das angeblich „die Gesellschaft spaltet“: die geschlechtsneutrale Ansprache einschließlich korrekter Pronomen, auf Neudeutsch gendern. In unterschiedlichen Formen wird es praktiziert: mit Genderstern, Binnen-I, Doppelpunkt, klassisch durch Nennung der männlichen und weiblichen Form wie „Liebe Kolleginnen und Kollegen“. Manche benutzen konsequent die weibliche Form, Männer und alle anderen sind mitgedacht, sagen sie; andere wiederum wechseln innerhalb desselben Textes oder Satzes, dann entstehen irritierende Formulierungen wie „Grundschullehrer und Busfahrerinnen verlangen höheres Gehalt“. Ob das der Sache dienlich ist, ich weiß es nicht.

Und schließlich die Partizipform wie „Radfahrende“. Besonders Sprachpingelige meinen, das sei falsch. Wenn einer, der sonst immer mit dem Rad fährt, heute ausnahmsweise den Bus nimmt wegen Hagel und Sturm, dann sei er eben nicht rad-, sondern busfahrend. (Jedoch kein Busfahrer, der sitzt vorne links; oder die Busfahrerin, klar.) Ein Sonst-immer-Rad-heute-aber-Busfahrender. Mit Verlaub, das halte ich für Unfug. Wer eine junge Person in der Kneipe fragt, was sie denn macht, und zur Antwort bekommt, sie studiere, wird wohl verstehen, was sie meint, auch wenn sie in diesem Moment gerade nicht an ihrer Masterarbeit schreibt. Und aufgepasst: Diese Methode ergibt nur im Plural Sinn, weil ein(e) Studierende(r) nun einmal genauso männlich bzw. weiblich ist wie ein(e) Student(in).

(Das laut Straßenverkehrsordnung vorgegebene Zeichen 237 für einen Radweg bildet übrigens immer ein Herrenrad ab. Gab es dagegen schon Proteste?)

Ein Argument für das Gendern soll eine Studie liefern: Menschen wurden aufgefordert, bekannte Politiker zu nennen. Die derart Befragten nannten überdurchschnittlich viele männliche Politiker. Wurde hingegen nach Politiker:innen (oder eine andere Form) gefragt, wurden mehr Frauen genannt. Das mag sein und ist nachvollziehbar. Doch ist das wirklich ein Problem? Wenn es heißt, Angestellte im Einzelhandel wünschen sich mehr Urlaub, denkt wohl niemand, Verkäuferinnen begnügten sich mit weniger Freizeit.

Ich fremdele mit dem Gendern noch etwas. Im Schriftbild stört es meinen Lesefluss, gesprochen klingt es wie mit erhobenem Zeigefinger. Zugegeben, ein sehr flachwurzelndes Argument. Vielleicht muss ich mich nur noch daran gewöhnen; das dahinterstehende Anliegen kann ich zumindest nachvollziehen, ich zähle mich nicht zu den geifernd-eifernden Gegnern.

Man soll auch nicht mehr Schwule und Lesben sagen, wenn gleichpolig Liebende gemeint sind, denn damit grenzt man andere Lebens- und Liebesformen aus, wie Bi-, Trans-, Inter- und Asexuelle. Stattdessen heißt es nun LGBTQ*…-Community; jeder Buchstabe steht für eine andere Vorliebe und die Reihe scheint jährlich länger zu werden. Bei „Wetten dass..?“, ich glaube noch bevor Thomas Gottschalk es übernahm, trat mal einer auf, der die Zahl Pi auf fünfzig oder mehr Stellen hinter dem Komma fehlerfrei aufsagen konnte. Gäbe es die Sendung noch, könnte dort vielleicht demnächst jemand reüssieren, indem sie oder er alle Buchstaben der oben genannten Reihe hersagen und zudem erklären kann. Ich kann es trotz persönlicher Betroffenheit (für mich bitte das G) nicht.

Jüngstes Beispiel verdächtiger Wörter ist der Lumumba, jenes unter anderem auf Weihnachtsmärkten beliebte Kakaogetränk mit alkoholischer Geschmacksverstärkung. Angeblich geht das Wort zurück auf einen erschossenen schwarzen Freiheitskämpfer, woraus die Herleitung „Brauner mit Schuss“ entstanden sein soll. Das erscheint mit etwas weit hergeholt. Sollte es jedoch stimmen, dass das Getränk aus genau diesem Grund zu seinem Namen kam, so bin ich der letzte, der darauf beharrt, es weiter so zu nennen. Vielleicht wäre Schokohol eine Alternative. Ohnehin trinke ich lieber Glühwein, Eierpunsch und Feuerzangenbowle. Gelegentlich auch nicht-alkoholische Getränke.

Insgesamt erscheint mir ein etwas entspannterer Umgang mit solchen Wörtern manchmal angebracht, das gilt für beide Seiten. Niemandem wird etwas genommen, wenn er Paprikaschnitzel oder Schokokuss sagt. Andererseits muss man nicht in jedes vermeintlich verdächtige Wort Diskriminierungspotenzial hinein interpretieren. Sonst beklagt Herr Gottschalk demnächst die Ächtung von Eisbombe (gewaltverherrlichend), Matjesfilet Hausfrauenart (antifeministisch), Götterspeise (blasphemisch), und die blaue Partei mit der schokofarbenen Gesinnung hat wieder was zu hetzen.

Wobei, das Wort Gottschalk ist bei näherer Betrachtung auch nicht ganz ohne. Aber über Namen macht man sich nicht lustig. Auch nicht, wenn jemand Frauenschläger heißt; allenfalls darf man sich da fragen, womit deren Vorfahren einst ihren Lebensunterhalt bestritten. Vermutlich beließen sie es nicht beim Gebrauch falscher Pronomen.

Apropos schlimme Wörter: Es gibt welche, die völlig unverdächtig und allgemein gebräuchlich sind, die ich gleichwohl gar fürchterlich finde, ohne dass ich begründen könnte, warum. Neben den üblichen Anglizismen wie Call, Meeting und roundabout sind das: schlendern, schmunzeln, schlemmen, stöbern, schlecken, shoppen und lecker. Die darf Thomas Gottschalk weiterhin sagen, niemand außer mir wird daran Anstoß nehmen.

Prognose

Neulich wachte ich nachts mal wieder ohne besonderen Grund auf und es dauerte einige Zeit, bis ich wieder einschlief. In solchen Wachphasen kommen manchmal Fragen, Ideen, Gedanken, wie dieser: Wie geht es mit der Menschheit weiter, was könnte sein in zehn, hundert, tausend, hunderttausend, eine Million Jahren? Vielleicht so:

In zehn Jahren wird sich nicht sehr viel geändert haben. Die Sommer sind noch etwas heißer, in einigen Regionen das Wasser knapper. Unser Konsum- und Reiseverhalten ändert sich dadurch nicht. An die ständigen Nachrichten über Dürren, Waldbrände, Unwetter und Überschwemmungen haben wir uns gewöhnt, wir akzeptieren sie als Preis für Wohlstand, Wachstum und unbegrenzte (Auto-)Mobilität.

Nach wie vor ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins, dem sich, trotz aller Bemühungen, die Innenstädte vom Autoverkehr zu befreien, alle anderen unterzuordnen haben, immerhin inzwischen überwiegend mit Elektroantrieb. Der Anteil der SUV hat sich weiter vergrößert. Der Umgang der Verkehrsteilnehmer untereinander ist noch rauer, vor allem Auto- gegen Radfahrer. Auf deutschen Autobahnen gibt es weiterhin kein Tempolimit. Das Autoposen mit knallenden Auspuffen ist strengstens verboten und wird hart bestraft. Immerhin.

Die Union regiert wieder, vielleicht heißt der Bundeskanzler Linnemann, vermutlich nicht Merz. Koalitionspartner sind die Grünen. Die AfD ist weiter erstarkt, auf Bundesebene will noch keine Partei mit ihr zusammenarbeiten. Anders in den Bundesländern: In Sachsen ist sie Koalitionspartner der CDU, in Thüringen stellt sie den Ministerpräsidenten.

Die Meinungsfreiheit ist weiterhin sichergestellt, doch wird die Empörung vor allem in den elektronischen Hetzwerken immer schriller, sobald jemand öffentlich eine von der Allgemeinheit abweichende Meinung äußert oder falsch, womöglich gar nicht gendert.

Auf CSD-Paraden kommt es zunehmend zu Anfeindungen und Gewalt, von rechten Gruppen wie von Islamisten.

Der Duden empfiehlt beim Gendern die Schreibweise mit Doppelpunkt.

Die Pünktlichkeit des Bahn-Fernverkehrs liegt im Jahresschnitt bei dreiundvierzig Prozent. Den Verkehrsminister stellt die CSU.

Die Rolling Stones veröffentlichen ein neues Album und gehen noch einmal auf Abschiedstournee.

In hundert Jahren wird Deutschland, wie die meisten europäischen Länder, von Rechtsautoritären regiert. Eine nennenswerte Opposition gibt es nicht, die Grünen sind verboten. Abweichende Meinungen von der offiziellen Linie und jede Kritik an Regierung und Präsidenten werden hart bestraft. Es kommt zu Inhaftierungen und Einweisungen in Umerziehungslager, aus denen viele nicht zurückkehren. Die Todesstrafe ist wieder eingeführt.

Immer mehr Regionen der Welt sind wegen hoher Temperaturen und Wassermangels dauerhaft unbewohnbar, immer mehr Menschen streben in Richtung Norden, wo es zu heftigen Konflikten und Verteilungskämpfen kommt. Deutschland hat seine Grenzen geschlossen, ein strenges Einwanderungsgesetz regelt, dass Zuwanderung nur noch unter bestimmten Voraussetzungen wie einer hohen Qualifikation, perfekten Deutschkenntnissen und passender Hautfarbe möglich ist. Das Recht auf Asyl ist aufgehoben, Abschiebungen sind jederzeit möglich.

Homosexualität ist verboten und führt zu Haftstrafen. Die Regenbogenflagge gilt als verfassungsfeindliches Symbol.

Strom und Wasser werden rationiert, immer wieder kommt es zu stundenlangen Stromausfällen, vor allem in den Armensiedlungen.

Die Rolling Stones geben ihr letztes Konzert.

In tausend Jahren ist die Zahl der Menschen drastisch gesunken, nachdem die Strom- und Wasserversorgung weltweit zusammengebrochen ist. Zudem sind Milliarden von Menschen im Dritten Weltkrieg und durch mehrere Pandemien umgekommen. Staatliche Strukturen, öffentliche Ordnung, Recht und Gesetz existieren nicht mehr, es gilt das Recht des Stärkeren. Was wir heute Zivilisation nennen, gibt es nicht mehr.

Weite Teile der Erde sind unbewohnbar, viele Gebiete und Regionen im Meer versunken. Häufige Unwetter mit Hagel, Tornados und Überschwemmungen setzen den verbliebenen Menschen zu, hinzu kommt eine erhebliche weltweite Rattenplage.

In hunderttausend Jahren ist der Mensch, bis auf ein paar indigene Völker in den wenigen verbliebenen Dschungelgebieten und Keith Richards, nahezu ausgestorben. Nach Ausbruch mehrerer Supervulkane wie den Phlegräischen Feldern bei Neapel und unter dem Yellowstone-Nationalpark war die Erde jahrelang in Dunkelheit gehüllt, was zu erheblichen Ernteausfällen führte.

In einer Million Jahren ist die Erde vollständig vom Menschen befreit, all seine Spuren, Städte, Straßen und Bauwerke sind verschwunden unter Wasser, Erdschichten und Eis. Nur ein paar Atommüllreste strahlen im Boden noch vor sich hin. Die Ratten und Keith Richards stört es nicht.

Woche 27/2023: Am meisten leiden die Raben

Montag: Gelungenes Gendern ist oft Glückssache. Wenig geglückt ist es der Zeit Online hier: »Marseille ist dabei nicht nur die zweitgrößte Stadt Frankreichs nach Paris, sondern auch eine, in der die Kluft zwischen den Einwohnern und Einwohnerinnen am größten ist.«

Im Übrigen zeigte sich der Wochenstart ohne nennens-notierenswerte Ereignisse, was immerhin kein Unglück ist.

Dienstag: Gegen vier in der Frühe wachte ich auf aus verstörenden Träumen, deren Inhalt ich vage erinnere, womit ich Sie allerdings nicht belästigen will. Danach lag ich etwa eine Stunde lang wach und fragte mich, welche fehlgeleiteten Hirnströme derartiges erdacht haben mochten.

Der Tag verlief in gewohnten Bahnen mit Fußmarsch ins Werk und zurück, mäßiger Arbeitslust am Nachmittag und Friseurinbesuch am Abend. Vielleicht ist sie gar keine Friseurin, sondern eine frisierende „weiblich gelesene Personen“, wie man jetzt anscheinend Leute nennt, die bis vor kurzem noch voreilig als Frauen bezeichnet wurden. Jedenfalls las ich nämliches während des Wartens in einem Zeitungsbericht. Du liebe Güte, um nicht zu schreiben: dämlich.

Mittwoch: Nach Schotterwüsten und Steinen in Käfighaltung erfreut sich nun Kunstrasen zunehmender Beliebtheit bei (Vor-)Gartenbesitzern, berichtet die Zeitung. »Die steigende Nachfrage nach dem künstlichen Grün, das mittlerweile täuschend echt aussieht, sei eine ganz natürliche Entwicklung«, wird ein Außenauslegewarenlieferant zitiert. Natürlich.

Größter Beliebtheit erfreut sich Teams als das Medium der Bürokommunikation. Warum halten es manche für den gängigen Regeln von Anstand und Höflichkeit entsprechend, wenn sie andere anrufen und einleitend sagen „Ich habe ein paar Fragen, Moment, ich teile mal eben meinen Bildschirm“, anstatt als erstes zu fragen, ob der Angerufene Zeit für ihr Anliegen hätte?

Woran ich mich erst wieder gewöhnen muss, vermutlich erwähnte ich es schon, ist, mittags nicht mehr alleine in der Kantine zu essen. Dazu gehört es, zu Beginn des Mahles so etwas wie „Guten Appetit“ zu sagen, als ob es ohne dieses nicht schmeckte oder an Bekömmlichkeit einbüßte. Manche sagen nur noch „Guten“, was ich gewöhnlich überhöre und unerwidert lasse. Wenigstens sagen sie nicht „Mahlzeit“. Oder was Englisches.

Donnerstag: Es gibt Tage, an denen die Existenz anderer Menschen lästig erscheint, ohne dass dafür ein konkreter Anlass erkennbar ist; vielmehr tun sie das gleiche wie sonst auch: ihren Müll in die Gegend werfen, auf Radwegen laufen, öffentliche Flächen bekoten. So ein Tag war heute.

Der Bundestag hat gegen ein neues Gesetz zur Sterbehilfe entschieden. Das finde ich sehr schade. Nicht, dass mich zurzeit akute dauerhafte Lebensmüdigkeit drückte, doch fände ich es beruhigend, bei Bedarf jederzeit das Licht ausmachen zu können, ohne andere zu behelligen, zum Beispiel indem ich mich vor die einfahrende Stadtbahn werfe. Auch das ist Freiheit. (Ich wüsste übrigens, was im äußersten Fall zu tun ist. Schmerzfrei und sauber.)

Immerhin: Abends gab es Sekt, weil einer von uns seit geraumer Zeit de facto die Viertagewoche hat. Leider nicht ich.

Freitag: Die Tagesfrage des Blogvermieters lautet, bei welchen Themen ich eine Autorität sei. Da muss ich passen, es gibt meines Wissens nichts, bei dem ich durch besondere Kenntnisse und Fähigkeiten hervortrete, vielmehr ist in fast allen Bereichen Mittelmaß meine Richtschnur. Etwas, das mich von den meisten anderen abhebt, ist die Neigung zu Gänsehaut selbst an so warmen Tagen wie heute. Autorität erlange ich damit wohl nicht.

Die Rückfahrt vom Werk brach ich nach ungefähr einem Viertel ab und kehrte um, da ich mein Datengerät im Büro vergessen hatte, was ich als positives Zeichen bezüglich meiner Digitalabhängigkeit werte; den meisten jüngeren wäre das nicht passiert. Nach erneuter Abfahrt bemerkte ich, den Fahrradhelm im Schrank gelassen zu haben. War wohl nicht mein Tag.

Namenstag haben unter anderem Bodard und Walfrid. Zweiterer klingt wie der Hänselname für einen etwas voluminöser geratenen Menschen namens Wilfried. Kinder und Kollegen können bekanntlich sehr gemein sein.

Samstag: „Wie hast du geschlafen?“ – „Gut.“ – „Dich habe ich gar nicht gefragt.“ Szenen aus dem Leben zu dritt.

Nach dem Frühstück unternahm ich die samstagsübliche Runde durch die sommerwarme Stadt. Auf dem Weg zum Glascontainer sprach mich in der Inneren Nordstadt ein junger Mann an und bat um eine Spende, um sich etwas zum Essen kaufen zu können. Ich gab ihm nichts und reagierte auch sonst nicht auf seine Ansprache. Kurz darauf saßen Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern und redeten auf mich ein. E: „Warum warst du so unhöflich, warum hast du ihm nichts gegeben? Er hatte Hunger und du bist reich.“ (Es hätte auch sagen können: „Du bis ein reiches A…loch“, aber dieses Wort ist im Engelsvokabular vermutlich nicht enthalten.) T: „Richtig so, der war gar nicht bedürftig, hatte sogar eine Zigarette in der Hand. Soll erstmal aufhören zu rauchen, dann hat er auch Geld für Brötchen. Der gehörte bestimmt zu einer professionellen Bettlerbande und fährt einen BMW.“

Es ist nicht so, dass ich nie was gebe. Wenn ich morgens zu Fuß ins Werk gehe, sitzt manchmal ein alter Mann am Rathaus, vor sich einen Pappbecher. Er spricht niemanden an, sitzt dort einfach und wartet. Dem werfe ich ab und zu überzähliges Kleingeld in den Becher, nicht nur Kupfer, auch Euromünzen. Dann freut er sich, wir wünschen uns gegenseitig einen angenehmen Tag und ich freue mich auch. Heute freute ich mich nicht ob meines Knausers und weil ich den Jungen wie Luft behandelt habe, selbst auf sein „Schönen Tag noch“ reagierte ich nicht. Ja, er hatte eine Zigarette in der Hand, warum auch nicht, wahrscheinlich hat ihm die jemand geschenkt. Vermutlich hatte er wirklich Hunger. Wer weiß, vielleicht ist der alte Mann am Rathaus ein Profi und Inhaber mehrerer Mietshäuser.

Ich kann nicht allen was geben, dazu sind es zu viele. Aber warum gebe ich dem einen, dem anderen nicht? Nach welchen Kriterien entscheide ich das? Wie reagiere ich höflich und angemessen, auch wenn ich nichts gebe? Darüber wird nachzudenken sein. „Nein danke“, wie es mir neulich versehentlich bei solcher Gelegenheit entfuhr, ist sicher keine geeignete Erwiderung. Die Grundfrage ist: Warum müssen Menschen in einem so wohlständigen Land überhaupt betteln? Fragen Sie die FDP, könnte die Antwort lauten, aber das wäre wohl sehr stark vereinfachend.

Sonntag: Es ist heiß. Das hielt mich nicht vom sonntäglichen Spaziergang ab, wobei ich des öfteren die Straßen- auf die Schattenseite wechselte. Auf der Rückenlehne einer öffentlichen Bank saß ein Rabe mit weit aufgerissenem Schnabel. Anlässlich von Kriegen und Katastrophen heißt es oft, am meisten litten die Kinder. Bei derartiger Hitze glaube ich, am meisten leiden die Raben. Weder können sie schwitzen noch das Federkleid lüften, hinzu kommt ihre für Sonnenlicht besonders empfängliche Schwärze.

»Rettet die Welt« las ich irgendwo im Vorbeigehen. Gerne wiederhole ich: Die Welt bedarf nicht der Rettung, allenfalls müsste sich die Menschheit retten. Dies bewusst im Konjunktiv.

Natur, gestern Abend in der Südstadt. Zu den wenigen Dingen, die mich wirklich interessieren, zählt, wie es hier aussehen wird tausend Jahre später, nachdem sich die Menschen erfolgreich selbst ausgerottet haben.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche.