Woche 25/2025: Möglichst im Schatten

Montag: Schon länger bemängele ich eine allgemein nachlassende Sorgfalt beim Verfassen von Schriftlichkeiten, hier und da merkte ich es bereits an. Heute in einer offiziellen Mitteilung an den Vertrieb: „Wir bitten für euer Verständnis.“ Fürbitte im harten Geschäftsleben ist mir bislang selten begegnet.

Ansonsten war der Start in die neue Arbeitswoche, schon wieder eine viertägige dank Feiertag, erträglich. Nur die Zahl der Besprechungen war etwas zu hoch, davon die erste bereits morgens um halb neun, somit deutlich vor meiner täglichen Buchstabenlieferung. Wenigstens blieben die meisten Kameras aus und ich hatte nur geringen Redeanteil. Währenddessen betrachtete ich in der Ferne die lange Warteschlange vor dem Konferenzzentrum, wo man sich dieser Tage wieder zu einer internationalen Klimakonferenz trifft. Und wieder frage ich mich, ob das dafür ausgestoßene CO2 in einem angemessenen Verhältnis zum zu erwartenden Ergebnis steht.

In einer anderen Besprechung nachmittags schweifte ich gerade gedanklich etwas ab, als ich plötzlich um meine Meinung gefragt wurde. Meine Antwort, nachdem ich das Mikrofon endlich eingeschaltet hatte, lautete sinngemäß „Ja, das kann man so machen.“ Hat hoffentlich keiner gemerkt.

Dienstag: Wenn ich wie heute zu Fuß ins Werk gehe, komme ich in der Innenstadt an einem äußerst hässlichen Haus vorbei. Gebaut wurde es mutmaßlich in den Siebzigerjahren, als ohnehin nicht sonderlich auf Ästhetik geachtet wurde oder man anders darauf schaute, jedenfalls ist mir aus dieser Epoche kein auch nur halbwegs ansehnliches Gebäude bekannt. Dieses Haus mit seiner zweifelhaften Ornamentik aus bräunlicher Metallverkleidung sticht besonders hervor. Im Erdgeschoss ist ein Friseursalon, die Etagen darüber werden von einer Leiharbeitsfirma genutzt. Ob es darüberhinaus weitere Nutzer, gar Bewohner gibt, weiß ich nicht, ist auch nicht wichtig. Weshalb ich es erwähne: An der Fassade ist eine Uhr angebracht. Diese steht schon seit Jahren, seit ich das Gebäude erstmals zur Kenntnis genommen habe, konstant auf halb eins. Als ob sie uns sagen wollte: Es ist nicht fünf vor zwölf, auch nicht fünf nach, sondern schon halb eins, und das seit Jahren. Also seht euch vor, noch fünf Minuten, und es ist um euch geschehen.

Es würde nicht verwundern, wenn es unter Denkmalschutz steht

Am Rheinufer sah ich zahlreiche Konferenzteilnehmer auf umweltfreundlichen Elektrorollern zum Konferenzzentrum rollern, in der Hoffnung, den nächsten Zeigersprung der Uhr aufzuhalten oder wenigstens verzögern zu können. Außerdem zwei mittelalte Läufer, die sich wegen der Wärme bereits am Morgen ihrer T-Shirts entledigt hatten. Auch kein sonderlich ästhetischer Anblick, aber sowas soll man ja nicht mehr sagen oder schreiben wegen Badischäiming.

Auch nicht gerade eine Schönheit

In der Kantine gab es Fairmasthuhn, demnach fair gemästet, welch Widerspruch in sich; dem Huhn gegenüber erscheint es nicht sonderlich fair. Den ersten Gedanken, ob es nicht Viermasthuhn heißen müsste, verwarf ich wieder. (Obwohl die Rechtschreibprüfung keine roten Strichelchen darunter macht.)

Wesentlich zufriedener als Fair- oder Viermasthühner wirkte diese Gänsegroßfamilie, die mir auf dem Rückweg begegnete.

Gans schön viele. Verzeihung.

Mittwoch: Außer dem von mir sehr geschätzten Erbseneintopf zum Mittag verlief der Büroaufenthalt ohne besondere Bemerknisse. Der Tag endete mit einer Geburtstagsfeier in einem Garten südlich von Bad Godesberg. Viel mehr ist danach nicht erinnerlich.

Den Herkulesstauden an den Gleisen wurde noch immer nicht der Garaus gemacht

Donnerstag: An Fronleichnam feiern die Katholiken, wenn ich es richtig verstehe, jedes Jahr muss ich es erneut nachlesen, die bleibende Gegenwart von Jesus Christus. Erfreulich, dass wir auch zweitausend Jahre später deswegen heute nicht ins Büro müssen, auch Unkathohlen nicht. Sofern man im richtigen Bundesland wohnt; in den anderen scheint Jesus nicht so gegenwärtig zu sein.

Den freien Tag nutzte ich nach spätem Frühstück mit den Lieben auf dem Balkon unter anderem für einen längeren Spaziergang durch Schwarzrheindorf und Beuel. Es war sehr warm, nur wenige Menschen zog es aus den Häusern, auf dem sonst stark befahrenen Rheindeich nur wenige Radfahrer. Vielleicht sind die auch alle weggefahren über das lange Wochenende und drängen sich jetzt an irgendwelchen Stränden. Da bleibe ich lieber zu Hause.

Dieser als Reihenhaus getarnte Trafoturm in Beuel war mir bislang entgangen.

Dort läuft die Klimaanlage auf Hochtouren, der Geliebte lässt darüber nicht mit sich reden. Dadurch ist es in der Wohnung kühl, für mein diesbezüglich etwas eigenartiges Empfinden, weswegen ich mir schon die Bezeichnung „fimschiges Weibchen“ gefallen lassen musste, zu kühl. Das treibt mich immer wieder zum Aufwärmen raus auf den Balkon, ehe es mir dort zu warm wird und ich wieder rein gehe, bis es zu kalt wird und ich wieder raus … siehe oben. Man macht was mit.

Auch Frau K. ist übers lange Wochenende weggefahren. In ihrem immer lesenswerten Landlebenblog schreibt sie wieder wunderbare Sätze wie diesen:

… Motorradfahrer brüllen sich über den ohrenbetäubenden Krach ihrer blubbernden Motorräder gegenseitig Unverständliches zu, bevor sie jaulend und heulend starten. Ich wundere mich, mit welcher Begeisterung und welchem Durchhaltevermögen Menschen laut sind – in einer ohnehin ja schon durchaus lauten Zeit. 

Freitag: Im Büro herrschte dank Brückentag der anderen die erwartete Ruhe mit nur wenigen Besprechungen und geringem Aufkommen an Anliegen in Wort und Schrift. Das motivierte mich zu einem zeitigen Verlassen der Arbeitsstätte mit Zwischenhalt zur inneren Kühlung auf dem Heimweg, da man bekanntlich nicht warten soll, bis der Durst sich meldet. Von der wesentlich jüngeren Ausschankkraft wurde ich geduzt, ich werte es positiv und fühle mich geschmeichelt.

Feierabend

Bei Gunkl las ich das wunderbare Wort „Bedeutungsüberschuß“ und nehme mir vor, es demnächst in werklichen Angelegenheiten mal anzuwenden.

Samstag: Heute ist kalendarischer Sommeranfang, nachdem das Wetter sich schon länger sommerlich geriert. Wie üblich verband ich die erforderliche Altglasentsorgung mit einem Spaziergang, stets möglichst im Schatten, durch die Nordstadt, an den Rhein und durch die Innenstadt. In letzterer ist an diesem Wochenende Straßenfest, dazu ist die Friedrichstraße auf voller Länge mit einem roten Teppich ausgelegt und für den Radverkehr gesperrt. Zusätzlich zur dort ohnehin zahlreich ansässigen Gastronomie werden alle paar Meter Speisen und Getränke zum örtlichen Verzehr angeboten, trotz Hitze waren die Plätze gut belegt. An einer Stelle mit Livemusik ging ich etwas schneller, da ich Livemusik außerhalb von Konzerten und Karnevalsveranstaltungen zumeist als lästig empfinde. Immerhin gelang es mir, den gastronomischen Verlockungen zu widerstehen und mich zurück in die klimatisierte Wohnung zu begeben, die mir heute, im Gegensatz zu Donnerstag, nicht zu kalt vorkommt.

Nordstadt, sommerlich

Zeit für eine weitere Frage. Da heute der 21. ist, nehme ich die doch gleich. Frage 21 lautet: „Ist es wichtig für dich, was andere von dir denken?“ Ja, grundsätzlich schon, jedenfalls bei Menschen, die mich kennen und die mir was bedeuten. Das halte ich auch für gut und richtig, denn Leute, denen das völlig egal ist, sind in der Regel die größten Arschlöcher, verzeihen Sie meine derbe Ausdrucksweise. Eine Folge daraus ist ein gesteigertes Harmoniebedürfnis und eine gewisse Konfliktscheu, was nicht immer gut ist, aber ich kann es nicht ändern.

„Bonn gewinnt“, mit dieser an ein in den Achtzigern beliebtes Spiel erinnernden Sentenz, bei dem es darum ging, als erster vier farbige Plastikplättchen in eine Reihe zu bringen, wirbt die amtierende Oberbürgermeisterin auf Plakaten um Wiederwahl bei den Kommunalwahlen im September. Offen bleibt dabei, was genau zu gewinnen ist und gegen wen. Vielleicht Bielefeld? Rätselhaft auch ein anderes Wahlplakat derselben Partei:

Macht für das Morgen? Was bedeutet das? Macht im Sinne von mächtig, oder macht mal?

Gelesen bei Herrn Buddenbohm und zustimmend vehement genickt:

Als älterer Mensch jedenfalls, wenn man aus der Perspektive eines Menschen auf Szenen und Geschehen oder überhaupt auf irgendwas sieht, der nicht mehr primär an Action und Erlebnis interessiert ist, sondern vielleicht allmählich etwas mehr an Ruhe und Kontemplation, ohne damit allzu ambitioniert klingen zu wollen, aus dieser Perspektive, so glaube ich, wirkt die damalige Zeit naheliegenderweise anziehend. […] Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so. Wie bekanntlich alle Fragen, die mit „Bin ich eigentlich der oder die Einzige …“ beginnen, kategorisch verneint werden können.

Nein, Sie sind nicht der Einzige.

Sonntag: Auch heute war es sehr warm, wärmer noch als gestern, was selbstverständlich kein hinreichender Grund ist, auf den allsonntäglichen Spaziergang zu verzichten.

Ob DAS die Wähler überzeugt?
Wenig los an der Poppelsdorfer Allee, nicht nur dort

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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche und den Sommer.

Redaktionsschluss: 18:30

Woche 21/2022: In Erwartung einer Aufheiterung

Montag: Der Arbeitstag geriet sehr lang, da wegen der Dienstreisen vergangener Woche und konsequenter Arbeitsverweigerung am Wochenende einige Rückstände aufzuarbeiten waren. Die Aussicht auf eine dank Feier- und Brückentag kurze Arbeitswoche ließ ihn dennoch in erträglichem Licht scheinen.

Nach der trotz weißem Hemd unfallfrei verzehrten Currywurst am Mittag spazierte ich eine Runde durch den Rheinauenpark, wo die Teiche zurzeit grundsaniert werden. Dazu wurde das Wasser weitgehend abgelassen, damit Radlader Schlamm, Schotter und Sand verteilen können. Einer sauste durch knöcheltiefes Wasser, eine schwarze Bugwelle aus übelriechender Miege vor sich her schiebend; der Fahrer schien dennoch Spaß bei der Arbeit zu haben. Davon unbeeindruckt zeigten sich mehrere Graureiher, die durch die Restpfützen stakten und nach Beute pickten.

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Der Feierabend kam auch deshalb so spät, weil zur sonst üblichen Zeit starker Regen und Gewitterandrohung die Rückfahrt mit dem Fahrrad nicht ratsam erscheinen ließen. Vielleicht bin ich einfach zu empfindlich.

Dienstag: Bereits um kurz nach halb fünf wachte ich auf; statt entzückender Träume stellten sich Gedanken um Werksgedöns ein, was zum Glück nicht oft vorkommt, da ich Arbeit und Privat sonst sehr gut trennen kann, und Bettzeiten fallen überwiegend in die zweite Kategorie. Da die Frühgedanken wohl als Arbeitszeit zu werten sind, geriet nach dem Mittagessen (Graupeneintopf mit Bockwurst) der Spaziergang durch den Park, wo Radlader und Reiher noch immer wirkten, etwas ausgedehnter.

Mittwoch: Währen im persönlichen Umfeld auf zufriedenstellende Nachtruhe ein weitgehend ruhiger, ereignisloser Quasifreitag folgte, war in der Welt wieder einiges los: In den USA erschoss ein Achtzehnjähriger in einer Schule einundzwanzig Menschen, ehe er selbst erlegt werden konnte. Nun werden wieder, wie stets nach derartigen Ereignissen, Rufe nach schärferen Waffengesetzen laut. Doch damit ist es in Amerika so wie bei uns mit dem Tempolimit auf Autobahnen: Da kann man nichts machen, fragen Sie die FDP.

Donnerstag: Heute ist Himmelfahrt. Wobei sich das Auffahren in höhere Gefilde derzeit als schwierig erweist, da in den Flughäfen Personal für die Sicherheitskontrollen fehlt, wie gemeldet wird. Das überrascht, da private Unternehmen das bekanntlich viel besser können als der Staat. Fragen Sie die FDP.

Freitag: Kürzlich las oder hörte ich einen Satz, der ungefähr so lautete: „Allein bedeutet nicht nur einsam, sondern auch frei.“ Da ich dazu nichts notierte, kann ich weder den originalen Wortlaut wiedergeben noch die Quelle nennen, sehen Sie es mir nach. Inhaltlich jedenfalls ein wahrer Satz, ich bin gerne mal allein, nicht dauerhaft, nur für ein paar Stunden. Wobei eine der schönsten Alleinzeit-Formen für mich unbegleitetes Wandern ist. Aus verschiedenen Gründen kam ich dieses Jahr noch nicht dazu, deshalb nutzte ich den heutigen Brückentag für eine Wanderung von Bonn nach Siegburg, immer an der Sieg entlang.

Unerwartet regnete es morgens, wodurch sich der Beginn verzögerte. In Erwartung einer Aufheiterung startete ich bei Niesel, eine halbe Stunde später hörte es auf und die Sonne kam durch, kurz darauf setzte ich mit der Siegfähre über und wandelte durch liebliche Auenlandschaft.

Die Annahme, die Strecke führte nur über befestigte Wege, erwies sich als Irrtum, vielmehr stapfte ich längere Zeit auf schmalen Pfaden, von hohen Gräsern gesäumt, die sich regenschwer in den Weg legten. Bald waren die Hosenbeine durchnässt und die Wanderschuhe wurden geprüft, ob sie dicht sind. Ergebnis: Sind sie nicht. Oder doch, einmal eingedrungenes Wasser bleibt zuverlässig drinnen. Insofern hätte ich zuvor auf die Fähre verzichten und einfach durch die Sieg waten können, das Ergebnis wäre ungefähr das gleiche gewesen.

Dennoch war es schön; das letzte Drittel nicht ganz so, weil es in unmittelbarer Nähe zur Autobahn verläuft. Am Ende gabs auf dem Siegburger Marktplatz das Belohungsweißbier, das über die immer noch nassen Füße hinwegtröstete.

Man beachte die Dienstmütze
Da waren Hosen und Füße noch trocken.
Da schon nicht mehr.
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Die Brücke zum Brückentag
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Samstag: Unerwartet erreichte mich ein handgeschriebener Brief, über den ich mich sehr freute. Das schöne an Briefkommunikation alter Art ist, es wird nicht sofort oder innerhalb von Stunden eine Antwort erwartet, nicht einmal innerhalb einer Woche. Selbstverständlich werde ich bald antworten, weiß auch schon ungefähr, wann und bei welcher Gelegenheit.

Nach samstäglichen Erledigungen schaute ich bei der Vinothek des Vertrauens rein, wo Champagner gereicht wurde, um damit auf einen gebrochenen Fuß anzustoßen. Zum Glück nicht meiner.

»Der Mensch braucht sinnvolle Aufgaben. Geld auch.« So wirbt eine Bank in der Innenstadt. Leider schließt sich beides zumeist aus: Entweder hat man das eine, wie Altenpfleger, oder das andere, etwa Investmentbanker. Beides zusammen ist selten, das wird auch die Bank nicht auflösen können.

Sonntag: Während des Spaziergangs sah ich in der Nordstadt Werbung für eine Veranstaltung mit dem Namen „Lieblingslieder“, als Spezialgast wird Dieter Bohlen angekündigt. Auch das schließt sich gegenseitig aus.

„Schildkröte entlaufen“ hat jemand an mehrere Lampenpfähle in Bonn-Endenich aufgeklebt, mitsamt Telefonnummer. Das mag auf den ersten Blick erheitern, ist mir indes selbst schon passiert, als das Kind mit meinem Namen seiner Landschildkröte im Garten etwas Auslauf verschaffte. Normalerweise wohnte sie im Sommer in einem Holzverschlag auf dem Rasen im Garten, ab und zu durfte sie frei herumlaufen, selbstverständlich unter meiner strengen Aufsicht. An einem Sommertag holte ich die Dampfmaschine raus und heizte sie auf dem Rasen an, was ich mit einem Schildkrötenfreigang verband, was sich bald als liederlich* erwies: Während ich mich eine Minute der Maschine widmete, büxte das Tier aus. Die sofort eingeleitete Suche blieb erfolglos, so langsam sind Schildkröten gar nicht. Ich war sehr traurig, aber nur ein paar Tage lang, dann fanden Nachbarn sie bei sich im Beet und brachten sie zurück. Ich hatte meine erste Lektion in Multitasking-Fähigkeit erhalten, auch wenn das Wort vermutlich noch nicht gebräuchlich war.

* Liebe N., wie finden Sie dieses Wort?

Dem öffentlichen Bücherschrank an der Poppelsdorfer Allee entnahm ich zwei Bücher, beide von 1985: „Wir amüsieren uns zu Tode“ von Neil Postman und „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“ von Georg Heinzen und Uwe Koch, die auf den wachsenden Stapel der Ungelesenen kommen.

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Gut in dieser Woche waren: eine kurze Arbeitswoche, ein endlich veröffentlichter Text, ein erhaltener Brief.

Nicht so gut: nasse Füße

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Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Wochenstart, kommen Sie gut durch.

Woche 19: Notizen unter Weineinfluss, Abgründe und nackt kochende Männer

Montag: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich mal wieder mit irgendwas unbeliebt gemacht; was genau, erfährt der Zeitungsleser nicht. Dafür dieses: „Mit dem Begriff N-Wort wird eine früher in Deutschland gebräuchliche rassistische Bezeichnung für Schwarze umschrieben.“ Schön, dass das endlich mal klargestellt ist. Darauf ein N-Wortkussbrötchen. (Ich gestehe, das N-Wort im intimsten Kreise, wo es niemanden stört oder verletzt, gelegentlich noch auszusprechen, ohne jede böse Absicht.)

Ein weiteres N-Wort, indes gänzlich unbedenklich, ist Namenstag. Den haben heute laut Zeitung: Epimach, Gordian, Isidor, Job; als Namen eher ungebräuchlich, daher nur selten auf Auto-Heckscheiben zu lesen.

Dienstag: Der erste Piks. Durch das kleine Pflaster auf dem Oberarm fühlt man sich fast ein wenig systemrelevant. Unterdessen freuen sich viele darauf, was sie bald vielleicht wieder dürfen. Ich sehe darüber hinaus mit etwas Unbehagen, was wir womöglich demnächst wieder müssen.

Zum Beispiel dieses: „Wir müssen ja auch Erwartungsmanagement betreiben“, gehört in einer Besprechung.

Mittwoch: „Ich bin der Jan-Malte“, sagte morgens der Mann im Radio. Für seinen Namen kann er nichts, für den bestimmten Artikel schon.

Mittags nach dem Essen begegnete mir im Rheinauenpark eine Läuferin, begleitet von einer männlichen Stimme aus einem Lautsprecher. Ob es sich dabei um einen Wortbeitrag im Radio oder eine Telefonkonferenz handelte, war auf die Schnelle nicht auszumachen. – Nachmittags auf dem Heimweg vom Werk sah ich einen, der freihändig radelnd ein Tablet in den Händen hielt, worüber er mit Trottel-Koronalisierung telefonierte. Demnächst fahren sie dann vielleicht mit aufgeklapptem Laptop auf Elektrorollern. Was geht in diesen Menschen nur vor? Oder wie es in einer Fernsehreklame heißt: Bin ich der einzige, der das nicht normal findet?

Ansonsten liebe ich – neben dem Herbst – diese Jahreszeit sehr, deswegen:

Die gestern injizierte Systemrelevanz fühlte sich heute an wie ein leichter Muskelkater. Keine Larmoyanz, reine Feststellung. Außerdem ist heute wegen Feier- und Brückentag gleichsam schon Freitag, wer wollte da jammern.

Der Geliebte bevorzugt neuerdings schwarze Einmalhandschuhe. „Daran sieht man das Blut nicht so“, sagt er. Ich gehe nicht von einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben aus.

Donnerstag: „Verarschen kann ich mich selbst!“ – „Los, mach mal.“ Und wie war Ihr Himmelfahrt so? (Es ist Liebe, glauben Sie mir; vielleicht eine Form, die sich Außenstehenden nicht unmittelbar erschließt.)

Freitag: Brückentag. Welch wunderbares Wort, in einer Reihe mit so schönen deutschen Wörtern wie Wanderlust, Weltschmerz, Kindergarten, Habseligkeiten, Doppelhaushälfte und Auslegeware. Zumal eine Brücke dem Zweck dient, Täler und Abgründe zu überwinden, womit der Charakter der Werktätigkeit einigermaßen treffend erfasst ist.

Samstag: „Rund fünf Prozent der deutschen Männer bevorzugen es, ohne Kleidung zu kochen“, schreibt die PSYCHOLOGIE HEUTE über die Freude am Nacktsein. In Gedanken gehe ich nun alle mir bekannten kochenden Männer durch und hoffe bei den meisten, sie gehören zu den anderen fünfundneunzig Prozent.

Bleiben wir in der Küche: Nach Bleikristall, Kaffeemaschinen und -tassen hat der Geliebte jetzt Gefallen gefunden an einer bestimmten Geschirrsorte; der Paketbote brachte heute gleich drei Pakete davon, wofür nun Platz geschaffen werden muss. Demnächst trage ich also wieder ausgemusterten Hausrat in das Häuschen zwei Straßen weiter. Was tut man nicht alles, wenn man liebt. Und einer muss den Konsum ja am Leben halten.

Laut Zeitung hat Isidor heute schon wieder Namenstag. Vielleicht für diejenigen, die es Montag für einen Scherz hielten.

Sonntag: Meine Bettlektüre der vergangenen Woche war „Vervirte Zeiten“ von Ralf König, wo der Corona-Alltag des Kölner Paares Konrad und Paul mit seinen Entbehrungen geschildert wird. Wer (wie ich) die Comics von Ralf König mag, wird auch dieses Buch mögen. Auch wenn sie in den letzten Jahren sehr harmlos, geradezu jugendfrei geworden sind; schon lange sieht man dort nicht mehr das Körperteil, das womöglich in nicht allzu ferner Zukunft als das „P-Wort“ umschrieben wird.

Gestern Abend haben wir uns übrigens die Serie „All you need“ angeschaut, die es in der ARD-Mediathek zum Strömen gibt. Obwohl ich nicht gerade der begeisterte Serienkucker bin, hat es mir gut gefallen. Es geht um das Liebesleben von vier jungen Männern und einer Frau in Berlin, wobei auch dem Auge was geboten wird. (Allerdings ebenfalls kein <P-Wort>, das ist im deutschen Fernsehen auch 2021 noch undenkbar.)

„Kann es eigentlich sein, dass Deutsche weniger gut Deutsch können als Engländer Englisch und Franzosen Französisch?“, fragt Claudius Seidl in der FAS zum Thema Sprachverschmutzung. Ja, kann gut sein.

Die Geschirrlieferung von gestern beinhaltete auch eine Kuchenplatte mit aufwändiger Glaskuppel. Diese nahmen wir heute in Betrieb mit Geburtstagskuchen aus der Nachbarschaft.

Eine deutsche Eigenart ist ja, Kuchen und Torten ab einem gewissen Sättigungsvermögen als „mächtig“ zu bezeichnen, warum auch immer. Nie hörte ich dieses Wort im Zusammenhang mit Rinderkotelette oder Grünkohl, die ebenfalls ganz schön satt machen können, dafür bei Kohleflözen, von deren Verzehr eher abzuraten ist. Das hier abgebildete Exemplar war jedenfalls äußerst mächtig. Liebe M, er war köstlich! Lieber J, alles Gute dir!

Ansonsten in dieser Woche notiert: 1) „Hildegard Knef und die Kesselflicker“ (vermutlich als Bandname) und 2) „Asphalt in Aspik“. Die Hintergründe dieser Notizen sind, da sie unter Weineinfluss erfolgten, nicht mehr nachvollziehbar.

Woche 22: Sommeranfang

Montag: Der österreichische Bundeskanzler scheitert an einem Misstrauensantrag. Mehr dazu unter dem Hashtag #Kurzschluss. (Auch wenn ich ihm damit vielleicht unrecht tue, sehe ich es als empirisch erwiesen an, dass nach hinten geschmierte Haare zu achtzig Prozent auf einen zweifelhaften Charakter hinweisen, siehe auch – früher – Karl-Theodor zu Guttenberg und Gottlieb Wendehals.)

Wie ich der Presse entnehme, gibt es einen „Fachverband für Fußverkehr“.

Ein bekannter Süßwarenhersteller eröffnet laut Zeitungsbericht am kommenden Freitag einen neuen Werksverkauf. „Der Goldbär kommt in Lebensgröße vorbei“, so die Zeitung.

Dienstag: In der Kantine gab es Spargel an Rinderhüftsteak. Bitte denken Sie sich hier ein Emoji, das sich mit geschlossenen Augen genüsslich die Lippen leckt. Sollen sie ruhig dauernd meckern – auf unsere Kantine lasse ich nichts kommen.

Mittwoch: Am Vormittag geht die Kollegin aus einer anderen Abteilung mit einem Teller selbstgemachter Mini-Muffins über den Flur, die sie an alle verteilt, die sie kennt, auch an mich. Anlass ist ihr letzter Arbeitstag vor dem Vorruhestand. Auch wenn ich mich noch in einiger Entfernung zum Pensionsalter sehe und fühle: Während unserer Umarmung und meinen besten Wünschen für ihren neuen Lebensabschnitt spüre ich ein ganz kleines bisschen Neid.

Aufzugkonversation nach dem Mittagessen (wieder Spargel). Immer wieder bemerkenswert, welche Irritationen es erzeugt, wenn man auf die hingeworfene Frage „Wie gehts?“ statt des üblichen „Muss ja“, „Am liebsten gut“ oder „Geht so“ möglichst überzeugt klingend mit „Ausgezeichnet“ antwortet. Wobei „Wie gehts?“ ja zunehmend durch „Alles gut?“ abgelöst wird, was es im Endeffekt nicht besser macht.

„Kakao dich glücklich“, lese ich auf einem Werbeplakat im Kölner Hauptbahnhof. Erst nach Sekunden intensiven Nachdenkens erkenne ich das darin enthaltene, nicht sonderlich geglückte Wortspiel. Von einem Erwerb des beworbenen Produktes werde ich wohl absehen.

Donnerstag: Für die einen ist es „Vatertag“, die Winzer nennen es „Erzeugerabfüllung“.

Ein weiterer Eintrag für meine ungeschriebene Liste schöner Sätze, heute gelesen bei Herrn Firla:

„Die Bewunderung für Statuen scheint allgemein unter Menschen weit verbreitet zu sein, gelten sie doch als künstlerische lebensverlängernde Maßnahmen für Persönlichkeiten, die uns schon zu ihren Lebzeiten in irgendeiner Weise überragten.“

Freitag: Brückentag. Während meine Lieben Schränke an die Wand schrauben und der Nachbar gegenüber auf dem Balkon ein große, flaches Holzgestell von nicht erkennbarer Zweckbestimmung zusammenzimmert, lese ich bei sommerlichen Temperaturen auf unserem Balkon das Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“ von Jaron Lanier fertig. Da sich das Lesevergnügen in Grenzen hielt, werde ich es nicht meiner Sammlung zuführen, sondern die Tage in einen öffentlichen Bücherschrank bringen. In der Ferne höre ich immer wieder Autos hupen und Straßenbahnen klingeln. Andere haben offenbar auch Brückentag und nichts besseres zu tun, als mit dem Auto in die Stadt zu fahren.

Samstag: In Bonn erfreuen sich Beethovenfiguren aus Plastik zurzeit großer Beliebtheit. Trotz des Anschaffungspreises von dreihundert Euro sollen sowohl das grüne als auch das güldene Modell bereits vergriffen sein.

Abends der erste Besuch des Lieblingsbiergartens in diesem Jahr. Am Nebentisch saß ein Herr, der gewisse Ähnlichkeit mit dem bekannten Schauspieler Vic Dorn hatte. Auch sonst gewährte er keine besonders erfreulichen Anblicke.

KW22 - 1

Sonntag: Passend zum meteorologischen Sommeranfang steigen die Temperaturen auf über dreißig Grad. Dessen ungeachtet begegnete mir während des Spaziergangs am Nachmittag ein Radfahrer in Daunenjacke und mit Wollmütze. Vielleicht hatte er eine Wette verloren, Menschen müssen dann ja manchmal die unmöglichsten Dinge tun.

Einige hundert Meter weiter sah ich einen älteren Herrn einem kleinen Jungen, mutmaßlich dem Enkel, zeigen, wie man einen Brief in einen Briefkasten einwirft. In nur wenigen Jahren wird der Junge dem Opa erklären, wie man eine WhatsApp-Nachricht versendet.

Nachtrag zu Freitag: Das Buch befindet sich nun im Bücherschrank am Frankenbad, falls Sie daran interessiert sind.