Woche 40/2025: Krabbensuppe statt Currywurst und barfuß durchs Watt

Vorbemerung: Aus gegebenem Anlass ist dieser Rückblick etwas umfangreicher als gewohnt geraten. Ich bitte um Verständnis.

Montag: Die erste Nacht in Büsum schlief ich gut. Mit dem Hotel bin ich weiterhin sehr zufrieden: Neben Seeblick vom Balkon und Jackenhaken im Zimmer verfügt es über einen angenehm großen, ruhigen Frühstücksraum mit umfangreicher Auswahl und ausreichend großen Saftgläsern. Wer über ein nicht mehr ganz modernes Bad in beigebraunem Design mit feuchtraumtypischer Patina in Fliesenfugen hinwegsehen kann, dem empfehle ich es. Noch ein Vorzug: Frühstück gibt es bis zwölf Uhr.

Nach einem für meine Verhältnisse umfangreichen Frühstück unternahm ich die erste Wanderung: über den Deich nördlich bis Hedwigenkoog, von da durch die Marsch über Westerdeichstrich zurück nach Büsum. Die Wanderung endete am Büsumer Hafen, wo ich für morgen eine Schiffsfahrkarte nach Helgoland erstand, anschließend suchte ich eine nahe Gaststätte auf für das Belohnungsbier, dazu statt Currywurst eine Krabbensuppe.

Zwischen Hedwigenkoog und Westerdeichstrich ging ich an zahlreichen Windrädern vorbei. Gewiss, eine Zierde für das Landschaftsbild sind sie nicht, aber es hilft ja nix – Wir wollen Bahnfahren, künstliche Inkompetenz nutzen und Pornofilme striemen, gleichzeitig das Klima schützen; irgendwoher muss der Strom ja kommen, und wo wenn nicht hier sollte man die Dinger hinbauen. Und wer weiß, vielleicht wird man sie dereinst, wenn dieses Blog und sein Schreiber längst verstummt sind, mit ähnlich romantischen Gefühlen betrachten wie heute die Windmühle von Westerdeichstrich, vielleicht stellt man die letzten Exemplare unter Denkmalschutz und sagt einander: Stell dir vor, so wurde früher Strom erzeugt.

Erstmals kam ich den Windrädern richtig nahe, sonst sieht man sie ja immer nur beim Vorbeifahren mit dem Auto oder der Bahn. Dabei interessierte mich, welche Geräusche sie machen, die ja häufig, neben der Optik, als Argument gegen das Aufstellen genannt werden. Ja, man hört sie schon, ein gleichförmiges Flap – flap – flap im Takte der Rotorblätter. Andererseits nicht lauter als das Rauschen von Blättern bei Wind oder Meeresgetöse. Warum deshalb ein Mindestabstand zu Wohngebäuden einzuhalten ist, erschließt sich mir nicht.

Der Prototyp solcher Anlagen mit dem schönen Namen „Growian“ (für „Große Windenergieanlage“) stand übrigens in den Achtzigern gar nicht weit von hier im Kaiser-Wilhelm-Koog; Näheres dazu ist bei Interesse hier nachzulesen. Witzig: Mit dem Growian sollte vor allem der Beweis erbracht werden, dass die Windenergieerzeugung mit so großen Anlagen nicht funktioniert.

Wie stets auf Wanderungen, so auch hier: Sobald man eine gewisse Siedlungsdichte hinter sich gelassen hat, grüßt man einander bei der Begegnung, egal ob zu Rad oder zu Fuß. Hier mit dem üblichen „Moin“ zu jeder Tageszeit, was mir sehr sympathisch ist.

Das Wetter zeigte sich auch heute angenehm: Die Sonne schien, dazu ein anhaltender Wind, in der leichten Daunenjacke gut auszuhalten, zeitweise fast schon etwas zu warm.

Hotelblick, frühmorgens
Man sieht es auf dem Foto nicht direkt, aber ich meine, es neigt sich etwas in Richtung Meer. Eine Schönheit ist es nicht, gehört aber zum Büsumer Erscheinungsbild umbedingt dazu.
Wattenmeer
Das Verb „mähen“ hat zwei Bedeutungen. Hier treffen sie aufeinander.
..
Dithmarscher Kohl
Idyll in Hedwigenkoog
Flap – flap
Immerhin schon künstlerisch verarbeitet
Bei Hedwigenkoog
Die Margaretenmühle in Westerdeichstrich
Ein Wort mit hoher Punktzahl bei Scrabble
Kurz vor Büsum
Die SC 34 gibt es auch noch. Auf ihr fuhren mein Vater und ich in den Achtzigern bei der Büsumer Kutterregatta mit. Sie wurde etwas modernisiert, unter anderem erhielt sie ein neues Ruderhaus. Schön, dass sie noch immer fährt.
Dieses Ding, eine Seemine aus dem zweiten Weltkrieg, steht dort im Beet am Hafenbecken 1 schon mindestens so lange wie ich nach Büsum fahre, also ziemlich lange. Immerhin erfüllt sie mittlerweile eine friedliche Funktion als Liebesschlosshalter.
Abend wird es wieder

Dienstag: Etwa eine Stunde vor dem Wecker wachte ich auf und schlief nicht mehr ein. Ob das wieder diese seltsame Unruhe vor Reisen war oder andere Gründe hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls stand ich um kurz nach sieben gut gelaunt und ausgeschlafen auf. Nach dem Frühstück und Zeitungslektüre begab ich mich gemütlich zum Hafen, wo um halb zehn die Funny Girl nach Helgoland ablegte. Da der Wind kühl blies, verzogen sich die meisten Fahrgäste ins Innere, ich hingegen blieb mit wenigen anderen, unter anderem einem augenscheinlich extremverliebten jungen Paar*, das vermutlich schon aufgrund innerer Wallungen keine Kälte spürte, auf dem Außendeck und genoss die Fahrt. Erst als das Büsumer Hochhaus hinter der Erdkrümmung verschwunden war, immerhin anderthalb Stunden nach dem Ablegen, wärmte auch ich mich im Unterdeck etwas auf. Dort las ich im SPIEGEL den Titelartikel über das Erstarken der Christextremisten in Amerika mit Unterstützung ihres (nicht ganz so christlichen) Präsidenten und gruselte mich angemessen. Wenn sich das, wie so vieles aus Amerika, auch bei uns irgendwann ausbreitet, dann gute Nacht.

*Ich weigere mich, hierfür das Wort „Pärchen“ zu benutzen. Ein Paar besteht aus genau zwei Personen, nicht eine mehr oder weniger. Was soll ein Pärchen sein? Eineinhalb, eindreiviertel?

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt erreichten wir Helgoland. Das letzte Mal war ich dort vor über vierzig Jahren. Damals mussten die Schiffe noch vor dem Hafen festmachen, die Fahrgäste wurden ausgebootet. Dazu mussten sie umsteigen in kleine schaukelnde Motorboote, die sie an Land brachten und zur Rückfahrt wieder zurück zum Schiff. Das ging so bis zur Corona-Zeit, wie ich heute erfuhr. Dann konnten in den Booten die Abstandsregeln nicht eingehalten werden, plötzlich konnten die Schiffe am Kai anlegen und ganz normal über eine Gangway verlassen werden. Die Bootsbetreiber mussten sich was anderes einfallen lassen, um die Touristen auszubooten.

Ohne besonderen Plan ließ ich mich treiben, spazierte durch die untere und obere Siedlung sowie über den Klippenweg, was man als Helgoland-Tagestourist so macht, das war sehr angenehm. Der kühle Wind ließ nach, zwischendurch zeigte sich die Sonne und es wurde warm. Die Insel erscheint wie in eine andere Welt, allein schon durch die fast völlige Abwesenheit von Bäumen. Ob ich dort länger als einen Tag verweilen wollte, weiß ich nicht, ganz ausschließen möchte ich es nicht; auf einen Versuch käme es an.

Nach zwei Stunden Treibenlassens verspürte ich jähen Heißhunger auf ein Fischbrötchen, die dort an mehreren Verkaufsstellen angeboten werden. Nachdem das Brötchen verzehrt war, blieb noch eine gute Stunde Zeit bis zur Rückfahrt. Diese verbrachte ich überwiegend untätig sitzend, während am Horizont große Frachtschiffe unseren Konsum und Wohlstand durch die Gegend fuhren, was überhaupt nicht langweilig war. Das nennt man wohl inzwischen Rawdogging, wie ich neulich las; ich beherrsche es gut.

Auch die Rückfahrt verbrachte ich zunächst auf dem Außendeck und sah Helgoland beim Kleinerwerden zu. Nach einer Stunde ging ich rein und wärmte mich äußerlich wie innerlich, letzteres mit einem Pharisäer, eine friesische Spezialität aus Kaffee, Sahne und einem kleinen Schuss. (Jägermeister und andere Spirituosen laufen in der Bord-Karte übrigens unter „Miniaturen“.) Am frühen Abend erreichten wir wieder Büsum, wo ich sogleich ein Restaurant am Hafen aufsuchte. Wieder ein richtig schöner Tag.

Morgens in Büsum
Büsum, Seesicht
Auf hoher See mit Bohrinsel im Hintergrund
Fußgängerzone im unteren Ortsteil von Helgoland
Blick vom oberen Ortsteil mit Düne im Hintergrund
Klippenblick
Die berühmte Lange Anna, gleichsam die Mona Lisa von Helgoland
Noch mehr Klippen
Unterland
Architektur im Oberland
Das Interesse der Fotografen galt einem kleinen Vogel, nicht viel größer als ein Sperling, der auf einer Wiese herumhüpfte. Es liegt mir fern, darüber zu spotten; oft genug war ich selbst Teil einer solchen Gruppe. Nur dass wir nicht einen Vogel fotografierten, sondern eine Lokomotive.
Tschüss, Helgoland!
Büsum backbord

Mittwoch: Auch heute war ich schon gegen sieben Uhr hellwach, obwohl keine Reise oder sonstige Termine anstanden. Vielleicht ist das diese präsenile Bettflucht, das Alter hätte ich langsam. Nach einem wieder ausführlichen Frühstück wanderte ich, und zwar zunächst durch den Hafen, dann über die mehr oder weniger zugewachsenen Gleise der Hafenbahn bis zum alten Deich. Diesen erklomm ich, dann weiter über Deichhausen bis zum Vogelschutzgebiet Wöhrdener Loch. Dort verließ ich die (von Schafen vollgekackte) Deichkrone, kratzte mit einem Stöckchen die Schafsch… aus den Schuhsohlen und ging hinter dem Deich zurück bis Warwerort, dann durch die Felder zurück nach Büsum.

Eines der Dinge, die ich mir für diesen Urlaub vorgenommen hatte, war eine Wattwanderung, oder wenigstens ein Wattspaziergang, wie es sich gehört barfuß. Das erledigte ich direkt im Anschluss. Die Flut hatte schon wieder begonnen, doch es stand noch genug frei begehbare Fläche zur Verfügung. So ging ich bis zur Wasserlinie und war überrascht, wie warm die Nordsee noch ist. Nachdem ich wieder an Land war und die Füße an einer der Fußbrausen gereinigt hatte – vorsorglich hatte ich morgens ein Handtuch eingepackt – ging ich in die Stadt und kaufte Postkarten, die ich umgehend bei einem Nachmittagsgetränk in einer Gaststätte beschriftete und noch am Abend in den Briefkasten einwarf. Dass ich voraussichtlich früher in Bonn zurück bin als die Karten bei den Empfängern nehme ich in Kauf, sie freuen sich hoffentlich trotzdem darüber.

Abendessen beim Griechen. Am Nebentisch ein Paar, sie redete ununterbrochen. Vielleicht erwägt er auch, demnächst mal alleine Urlaub zu machen. Eine Anmerkung zum Alleinreisen: Mehrere, denen ich vor dem Urlaub davon erzählte, fragen: „Alleine? S. (der Liebste) kommt nicht mit?“ – Warum denn nicht allein? In einer Partnerschaft zu lebten bedeutet nicht, alles gemeinsam tun zu müssen. Zumindest für uns gehört es dazu, dem anderen seine Freizeiten und -heiten zu erlauben. Und ich weiß von mindestens drei Frauen – interessanterweise alles Frauen – die regelmäßig ohne den Gatten verreisen und ohne, meines Wissens jedenfalls, dass eine Beziehungskrise vorliegt. Letztlich gibt es auch hier, wie in so vielen Dingen, kein Richtig oder Falsch. Die einen können keine zwei Stunden ohne Partner sein, die anderen genießen vorübergehende Alleinzeit sehr.

Kutter im Hafenbecken 2
Ein bisschen kitschig ist es ja, aber es ergab sich gerade.
Womit bewiesen ist: Der Krabbencocktail kommt aus Büsum
Hafenbahn
Büsumer Deichhausen
Ebbe in der Meldorfer Bucht
Hinten Büsum
Wöhrdener Loch mit Dithmarscher Wasserbüffeln
Ferienhäuser in Warwerort
Ein Dithmarscher Hof bei Warwerort
Noch mehr Kohl
Im Watt. Ich bleibe dabei – das Ding steht schief
Mein Zimmer (Pfeil)
Gute Nacht

Donnerstag: Am letzten Urlaubstag (morgen zählt nicht, dann ist Abreise) schlief ich länger. Als möglicher Programmpunkt stand noch eine Bahnfahrt nach Neumünster auf der Liste. Die Nebenbahn von Heide nach Neumünster bereiste ich in den Achtzigern mehrfach, weil dort noch die alten roten Schienenbusse fuhren, jede Station war mit Bahnpersonal besetzt, dazu die damals schon historische, mechanische Stellwerks- und Sicherungstechnik, somit toll für Eisenbahnfreunde wie mich, ansonsten ohne Zukunft. Ein sicheres Zeichen für die baldige Stilllegung. Doch es kam anders: Die Strecke wurde umfassend modernisiert, heute fahren, batterieelektrisch, mehr Züge als je zuvor. Hier wollte ich gerne nochmal fahren.

Stattdessen entschied ich mich für einen planlosen Schreib- und Drömmeltag mit lange im Bett bleiben und ausgiebigem Frühstück. („Ausgiebig“ ist auch so ein seltsames Wort. Man gibt ja nichts aus, im Gegenteil, man nimmt ein. Egal.) Nach dem Frühstück ging ich gemütlich auf dem Deich bis zur Hafenmole, dann am Strand entlang in die andere Richtung bis zur Perlebucht, ein künstlich angelegter Sandstrand unterhalb des Hochhauses. Überhaupt ging ich wieder sehr viel in den zurückliegenden Tagen. Auf der Liste der Fertigkeiten, deren Ausfall meine Lebensqualität am stärksten beeinträchtigen würde, steht Gehen sehr weit oben, gleich nach Sehen.

Dort, in der Perlebucht, wollte ich mir eine freie Bank suchen und was schreiben. Die fand ich auch, allerdings blies mich heftiger Wind von der Seite an. Daher versuchte ich, einen Strandkorb zu mieten, ein paar standen da noch. Elf Euro Tagesmiete fand ich nicht zu viel, selbst wenn ich ihn nur drei Stunden genutzt hätte. Doch leider waren sie nicht mehr zu mieten, da sie heute abgeholt würden, wurde mir beschieden. Ich fand dann doch noch ein angenehmes Pläzchen zum Schreiben, erst auf einer Bank, dann in einer Außengastronomie, wo noch ein Tisch frei war. Während ich saß und schrieb, griffen mehrere Möwen den Nebentisch an, wo gerade Pommes gegessen wurden, mit Geschrei von beiden Seiten.

Nachdem ich genug geschrieben hatte, unter anderem dieses, trat ich den Rückweg an, und zwar, weil es gestern so schön gewesen war, nochmals barfuß durch das Watt. Beim Queren eines Priels und Durchschreiten der Wasserlinie wunderte ich mich erneut, wie warm mir das Wasser vorkam.

Zum Abendessen bestellte ich Fisch, wieder versuchte ich mir wider besseren Wissens einzureden, frisch aus der Region. Es schmeckte jedenfalls passabel, somit scheint es funktioniert zu haben. Danach mit Wehmut eine letzte Runde durch den Ort, schließlich im Hotel den Koffer gepackt.

Büsum ist auch zu dieser Jahreszeit gut besucht. Der Altersschnitt ist gehoben, die Dichte an Rollatoren und Klapp-Telefonhüllen recht hoch. Ab einem gewissen Alter tragen einige Herren eine Mütze, die aussieht wie eine Baseballkappe, nur flacher und ohne Schirm, scheint was Regionaltypisches zu sein wie früher das Finkenwerder Fischerhemd, das ich zum Erstaunen in keinem Laden mehr gesehen habe. Vielleicht hätte ich mir nochmal eins gekauft.

Auch die Mitbloggerin Kaltmamsell ist weiterhin auf Reisen. Dabei notiert sie kluge Gedanken:

FOMO (fear of missing out, also Angst, etwas zu verpassen) kenne ich ja nicht. Meine Motivation ist oft fear of regret, also Angst, dass ich mich später darüber ärgere, etwas nicht gemacht zu haben. Oder überhaupt die Befürchtung, mich rückblickend zu ärgern. Das führt zum Beispiel zu sorgfältiger Planung von fast allem, denn ich möchte mich nicht ärgern, weil ich etwas vergessen oder übersehen habe.

So frage ich mich auch nie, was ich eigentlich gerade will (woher soll ich das wissen?!). Statt dessen versuche ich mir vorzustellen, die Erinnerung woran, die Rückschau worüber mir Freude bereiten wird. Ich behaupte mal, dass ich damit vielleicht nicht die Mehrheit, aber sicher nicht allein bin.

Nein, ist sie nicht.

Hier ist an alles gedacht
Perlebucht I
Perlebucht II
Noch etwas Kitsch
Watt mutt dat mutt

Freitag: Am Abreisetag wachte ich eine Stunde vor dem Wecker auf, den ich mit reichlich Zeitpuffer eingestellt hatte, ich kann da nicht aus meiner Haut. Ich schlummerte dann doch nochmal ein. Im Vergleich zu den Vortagen war der Frühstücksappetit gering, was auch an der frühen Stunde gelegen haben mag. Nach einem letzten Blick vom Balkon über den Deich bezahlte ich das Zimmer und ging langsam zum Bahnhof, von leichtem Abschiedsschmerz begleitet. So hat ein jeder sein Köfferchen zu rollen.

Aufgrund des Zeitpuffers verließ ich Büsum eine Stunde früher als notwendig. Das war nicht schlimm, in Heide fand ich auf dem Bahnsteig ein sonniges, windgeschütztes Plätzchen, wo ich die Zeit mit Blogs Lesen verbrachte. Neben mich setzte sich eine Dame mit Koffer, Rucksack und großer Tasche und begann umgehend, intensiv darin zu kramen. Mich machen solche Leute immer wahnsinnig.

Der Intercity fuhr pünktlich in Heide ab und kam mit gerade mal fünf Minuten Verspätung in Köln an, da gab es nichts zu klagen. Durch den Wagen ging ein kleiner Junge und sagte „Blablablablabla …“. Wenn er mal groß ist und vielleicht in einem großen Unternehmen arbeitet, wird er andere Worte gebrauchen, um sinngemäß das gleiche zu sagen.

Bei Ankunft in Bonn wehte kühler Wind, der Himmel war trüb und ein paar Regentropfen fielen. Für die Küste wird morgen Sturm erwartet. Eine Fahrt nach Helgoland dürfte interessant werden.

Nach fünf Tagen Alleinzeit ist es wieder schön, daheim bei den Lieben zu sein. Abends gingen wir ins Wirtshaus, wo ich, um die norddeutsche Woche abzurunden, Fisch und Jever-Pils bestellte. Dithmarscher Dunkel gibt es hier leider nicht.

Einfahrt des IC nach Köln in Heide. Auch nach über 50 Jahren ist die gute alte 218 noch unentbehrlich.

Samstag: Der Tag begann mit heftigem Regen. Ein Trost, wenn auch nur ein äußerst schwacher: In Büsum regnete es auch. Nachmittags lockte mich die Sonne zu einem Spaziergang an den Rhein. Ein Tag ohne Gehen ist wie ein … ohne … – ach denken Sie sich einfach irgendwas aus.

Mindestens eine der am Mittwochabend eingeworfenen Postkarten kam heute an, wie mir dankend mitgeteilt wurde. Da behaupte niemand, die Post sei langsam.

Laut Zeitungsbericht traf sich kürzlich in Bonn auf einer Wiese eine größere Gruppe junger Leute, um Pudding zu essen, und zwar mit einer Gabel. Warum tun die das, vor allem: Warum berichtet die Zeitung darüber?

Der Rhein

Sonntag: Tief Detlev bläst seit gestern durch das Land, für die Küste besteht Sturmflutwarnung. Auch in Büsum ist die Nordsee deutlich aufgewühlt, wie über die örtliche Webcam zu beobachten ist. Einerseits freue ich mich über das Glück, das ich dort mit dem Wetter hatte, andererseits wäre ich gerne noch dort, es ist bestimmt beeindruckend, das Tosen aus der Nähe zu erleben.

Ansonsten verbrachte ich wesentliche Teile des Tages auf dem Sofa, unterbrochen durch den üblichen und notwendigen Spaziergang am Nachmittag. Hier und da ist noch Außengastronomie geöffnet, doch vermochte sie mich nicht zum Verweilen zu locken.

***

Danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben. Für die nächsten Rückblicke ist wieder die gewohnte Kürze angestrebt. Kommen Sie gut durch die Woche.

17:00

Die Achtziger – Stürme der Jugend

Hier der zweite Teil meiner persönlichen Rückschau auf die Jahrzehnte. Nach den Siebzigern folgen die

Achtzigerjahre

Auch in den Achtzigern, vor allem der ersten Hälfte, galten wesentliche Teile meines Interesses der Eisenbahn. Die Bahnstrecke am Haus meiner Großeltern wurde bereits 1980 stillgelegt, wenig später die Gleise zwischen Göttingen und Dransfeld abgebaut. Aber es gab noch genug andere Strecken, nicht weit von meinem Elternhaus die Nebenbahn von Bielefeld nach Lemgo, der nun meine Aufmerksamkeit galt. Mein Freund U., genauso bahnverrückt, und ich lernten den Bundesbahner S. kennen, der im nahen Bahnhof Hillegossen als Fahrdienstleiter Dienst tat. Mit der Zeit freundeten wir uns mit ihm an, wir verbrachten oft ganze Nachmittage dort, duften in den Dienstraum, der dem niedrigen Bahnhofsgebäude vorgebaut war, was Bahnfremden normalerweise nicht gestattet war. Mehr als einmal erhielt S. deswegen einen Rüffel seines Chefs, wenn der aus Bielefeld zur regelmäßigen Dienstkontrolle erschien und wir nicht mehr rechtzeitig den Raum verlassen konnten.

Bahnhof Hillegossen, Blickrichtung Bielefeld

Wir durften sogar über die großen Hebel die Weichen und Signale bedienen, was für S. vermutlich ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen hätte, wenn der Chef es mitbekommen hätte. Viel passieren konnte dabei nicht, durch uns wären wohl keine Züge entgleist oder zusammengestoßen, die alte Sicherungstechnik war sehr zu zuverlässig, außerdem achtete er darauf, dass wir alles richtig machten.

U. und ich bereisten viele Bahnstrecken, die von Bielefeld ausgehenden Nebenbahnen nach Lemgo, Osnabrück, Paderborn und Münster, aber auch Strecken weiter weg, vor allem wenn sie kurz vor der Stilllegung standen, einige auch am letzten Betriebstag vor der Betriebseinstellung; die Deutsche Bundesbahn legte in den Achtzigern sehr viele Strecken still. In den Sommerferien kauften wir uns ein Tramper-Monatsticket, mit dem man einen Monat lang innerhalb Deutschlands beliebig viel und weit mit der Bahn fahren konnte. Dabei bereisten wir so manche Strecke, die heute längst von der Karte verschwunden ist und deren Trasse allenfalls noch mit dem Fahrrad befahren werden kann.

Auch die Modelleisenbahn blieb eine meiner liebsten Beschäftigungen: In unserem Garten wuchs die L.G.B.-Bahn mit jedem Meter Gleis, den ich von meinem Taschengeld kaufen konnte, bis sie den Garten ganz umrundete, auch die Zahl der Loks und Wagen wuchs mit jedem Geburtstag und Weihnachten. Als mir mein Patenonkel zur Konfirmation den ersehnten Schienenbus schenkte, war alles andere um mich herum vergessen. Auf unserem Dachboden baute ich an einer großen HO-Bahn, die nach Fahrplan und Fahrdienstvorschrift der Bundesbahn fuhr, so wie wir es in Hillegossen gelernt hatten. Während des Bastelns lief im Radio auf WDR 2 die Sendung „Unterhaltung am Wochenende“, deren Höhepunkt stets die „Kleine Dachkammermusik“ von und mit Hermann Hoffmann war, der sämtliche Rollen – er selbst, seine Frau, Otto de Fries, Pankratius Schräuble, Herr Schlotterbeck und einige andere – sprach.

Schließlich wurde ich Mitglied im Verein Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth, der bei Gütersloh eine schmalspurige Museumseisenbahn mit richtigen Dampfloks betrieb (und heute noch betreibt). Dort verbrachte ich jahrelang die meisten Wochenenden, arbeitete mich hoch vom Schaffner bis zum Lokführer. Selten war ich mehr mit Stolz erfüllt als an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal eigenverantwortlich eine Dampflok fahren durfte, auch wenn die Dampfkleinbahn nicht viel mehr war als ein großer Schienenkreis um eine Gaststätte, vergleichbar meiner L.G.B.-Bahn, nur im Maßstab 1 : 1.

Der stolze Junglokführer auf seinem Stahlross

Bei aller Bahnbegeisterung entging mir nicht, dass es auch außerhalb des Schienenkreises Interessantes zu erleben und entdecken gab, zum Beispiel im körperlich-zwischenmenschlichen Sektor. So brach langsam die Stimme um eine Oktave nach unten, wie bei den anderen Jungs auch, außer dem bedauernswerten J., der bis zum Abitur kindlich piepste.

Zudem begannen an diversen Stellen Haare zu wachsen, zunächst nur spärlich und im Vergleich zu manchem Mitschüler spät, wie eigene Recherchen in Form diskreter Seitenblicke in der Umkleide vor und nach dem Sport und Schwimmunterricht ergaben. Ich hasste den Schulsport mit zunehmendem Alter immer mehr, vor allem Mannschaftssportarten, insbesondere dann, wenn zur Unterscheidung meine Mannschaft mit freiem Oberkörper spielte. Wiesen andere Jungs bereits beachtliche Muskeln und breite Schultern auf, blieb bei mir zunächst alles schmal und mager. Im zwölften Schuljahr lag die Sportstunde gar im Nachmittag, das hieß, nur für Volley- oder Basketball musste ich nachmittags nochmal los. Absurderweise konnte man – im Gegensatz zu Mathe, Deutsch und Englisch – Sport erst nach dem ersten Halbjahr des dreizehnten Schuljahres abwählen. Zu meiner letzten Sportstunde brachte ich Sekt mit und überreichte dem Sportlehrer, der eigentlich ganz in Ordnung war, einen selbstgeschriebenen Antisporttext:

(Entstanden 1986)

Als ich an dem Tag die Sporthalle verließ, schwor ich mir, nie wieder freiwillig eine zu betreten. (Erst Ende der Neunziger begann ich wieder freiwillig mit Sport, Laufen. Ohne Bälle und Sieg, dafür im Sommer manchmal mit freiem Oberkörper.)

Auch in meinem Gesicht wuchsen zunehmend Haare, die irgendwann so zottig abstanden, dass regelmäßige Rasuren unvermeidbar wurden. Nur den Flaum über der Oberlippe verschonte ich aus unerfindlichen Gründen lange Zeit. Wenn schon keine Bizeps, dann wenigstens einen Bart.

Erstmals entwickelte ich so etwas wie Eitelkeit, jedenfalls meine Frisur betreffend. Bis ungefähr sechzehn war sie mir egal, ich ließ es wachsen, und wenn ich mal zum Friseur ging, sagte ich „nicht so kurz“. So ging es nicht weiter: Ich ließ die Haare kürzer schneiden und versuchte, sie in eine Form zu bringen, wie ich es bei anderen bewunderte, leider zumeist ohne Erfolg, da sie aufgrund einer natürlichen Welle einen schwer zu brechenden eigenen Willen aufwiesen. Auch diverse Produkte wie Gel und Brisk führten nur selten zum gewünschten Ergebnis. Erste sehr viel später wuchs sich dieses Problem aus.

Vorher
Nachher

Ein weiteres körperliches Dauerhadern galt meinen Füßen, die aufgrund familiärer Vererbung sehr krumm und hässlich geraten waren, daher zeigte ich sie höchst ungern öffentlich, etwa in Schwimmbädern. Dass mein Bruder und die meisten Cousins und Cousinen ähnlich ausgestattet waren, tröstete mich nicht, wenn ich auf die makellosen Laufwerke meiner Mitschüler schaute. Zudem rochen sie sehr streng, was wohl daran lag, dass auch in den Achtzigern das tägliche Brausebad in unserem Haushalt noch unüblich war.

Weitere Möglichkeiten, die der eigene Körper bietet, kannte ich zunächst nur aus den begeisterten Berichten von Mitschüler F., mit dem ich kurz zuvor noch Fallgruben im Sandkasten gegraben hatte, und es dauerte noch etwas, bis auch ich selbst verstand, was er meinte. Er hatte nicht zu viel versprochen. Den erhöhten Verbrauch an Papiertaschentüchern versuchte ich so gut es ging vor den Eltern zu verbergen, ich weiß nicht, inwieweit es gelang.

Ab und zu kam es zu gegenseitigen Fummeleien mit anderen Jungs, was laut den Lebensberatungsseiten diverser Zeitschriften (Oma las die Freizeit-, Papa die Neue Revue; zur BRAVO hatte ich nur selten Zugang) in dem Alter ganz normal war und nichts zu bedeuten hatte bezüglich eventueller Präferenzen.

Auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht hatte sich seit der Grundschulzeit gewandelt. Mehrere Jungs (einschließlich F.) hatten auf einmal eine Freundin, und auf den Feten tanzten sie mit den Mädchen, wenige Jahre zuvor noch gleichsam andere Wesen, Klammerblues zu El Lute von Boney M. Auch in mir erwachte gewisses Interesse, vielleicht nur halbherzig, mindestens die andere Hälfte schlug immer noch für die Bahn, und das war nicht gerade etwas, womit man zarte Bande knüpfen konnte, nahm ich an. Außerdem, welches Mädchen wollte schon mit so einem mageren Hänfling wie mir etwas anfangen. Es gab durchaus ein paar Mädchen, derer näherer Bekanntschaft ich nicht abgeneigt gewesen wäre – A., die Tochter des Pfarrers unserer Gemeinde, später S. von meiner Schule und ein paar andere, auch wenn ich im Ernstfall nicht gewusst hätte, wie ich Bahn und Beziehung hätte vereinbaren können.

Daher trank ich auf den Feten lieber Alkohol, und das nicht zu knapp. Ab der Oberstufe feierte an fast jedem Wochenende irgendwer, ein wesentlicher Inhalt dieser Feten war es, möglichst viel Bier, Apfelkorn und andere fruchthaltige Spirituosen aus dem Hause Berentzen zu verzehren. Oder wir trafen uns zu viert bei R., der schon eine eigene Wohnung im Haus seiner Eltern hatte, wo wir uns mit Fünfliter-Partyfässern und Sekt die Zeit vertrieben. Mehr als einmal konnte ich mich am nächsten Tag nicht mehr an alle Details erinnern, vor allem wie ich nach Hause gekommen bin, während ich mich im Halbstundentakt bis in den Nachmittag hinein erbrach. „Geysirtag“ nannte ich diese Tage, an denen ich mir fest vornahm, künftig weniger zu trinken. Bis zum nächsten Wochenende. Gerne waren wir auch zu Gast beim Griechen kurz vor Oldentrup, wo wir fast in die Familie integriert waren und wo es selten bei nur einem Bier und einem Ouzo blieb.

Mit siebzehn begann ich mit dem Rauchen. Allerdings nicht Zigaretten, sondern Zigarillos. Das erschien mir zum einen etwas extravaganter, zum anderen glaubte ich, da man sie nicht inhalierte, wären sie weniger gesundheitsschädlich. (Erst mit vierzig stieg ich auf Zigaretten um, dazu kommen wir in den Zweitausendern.) In den Achtzigern war es selbstverständlich, auch in Gaststätten und Restaurants zu rauchen, wobei meine Zigarillos die Luft erheblich verpesteten.

Ein eher dunkles Kapitel war die Tanzschule, zu der ich von meinen Eltern gedrängt wurde, weil fast alle Freunde auch dorthin gingen. Jeden Samstag. Ich hasste es aus tiefstem Herzen, hatte weder Lust, ein Mädchen zum Tanzen auffordern, noch konnte und wollte ich die zu erlernenden Tanzschritte und Bewegungsabfolgen verinnerlichen. Das muss ziemlich komisch ausgesehen haben. Nach dem Grundkurs war damit Schluss für mich, die Freunde machten noch weiter. Am Abend des Abschlussballs beschloss ich, nie wieder eine Tanzschule zu betreten, wenige Wochen später trat ich dem Dampfkleinbahnverein bei, der mich fortan samstags gut beschäftigte.

Und dann war da noch dieser gewisse Punkt, der immer wieder aufleuchtete, anfangs nur schwach. Etwas heller strahlte er, wenn ich in der Schule P. sah, zwei Jahrgangsstufen unter mir, von dem etwas ausging, das mich in seltsamer Weise faszinierte und nicht sein konnte, nicht sein durfte. Auch nachmittags nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien ging er mir nicht aus dem Kopf. Was mochte er jetzt gerade tun? Hatte er eine Freundin? Welch unschöner Gedanke. Ich erhöhte meine Aktivität bei der Dampfkleinbahn.

Erst Jahre später, 1989, kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Beziehung zum anderen Geschlecht allenfalls auf freundschaftlicher Basis fußen konnte, was weder Eltern noch Kollegen erfahren durften, am wenigsten mein Vater. Und noch viel später hatte ich zum ersten Mal einen Freund, das erzähle ich Ihnen in den Neunzigern.

Ich begann, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, bis heute. Zur Vermeidung unerwünschter Mitleser brachte ich mir selbst die deutsche Schreib- oder Sütterlinschrift bei, mit Hilfe des Mathebuchs. Es gab dort im Kapitel Vektorrechnung eine Gegenüberstellung aller Buchstaben in deutscher und arabischer Schreibweise, weil Vektoren mit deutschen Buchstaben bezeichnet werden. Schon damals hatte ich keine Ahnung, wozu man Vektorrechnung braucht, aber das galt ja für das meiste, was man auf dem Gymnasium lernen musste.

Neben dem Tagebuch schrieb ich auch andere kürzere Texte, siehe oben den Sporttext, inspiriert durch die Lektüre von Ephraim Kishon. Zunächst schrieb ich sie mit der Hand vor, dann tippte ich sie mit der Schreibmaschine ab. Da es noch kein Internet und Blog gab, machte ich damit nichts weiter und gab die Schreiberei bald wieder für längere Zeit auf.

Auch in modischer Hinsicht vollzog ich Mitte der Achtziger einen Wandel: Statt Jeans nur noch Baumwollhosen mit Bundfalte, bevorzugt in schwarz oder grau, dazu überwiegend schwarze Jacken und weiße Turnschuhe. Später wurde die Oberbekleidung zeittypisch bunter: Die Fernsehserie „Miami Vice“ inspirierte uns, nun Jacket mit Schulterpolstern zu tragen, gerne auch in bunt kariert. Erst viel später kaufte ich mir erstmals wieder Jeans.

Mit siebzehn begann ich, das Führen eines Kraftfahrzeuges zu erlernen. Dabei legte ich kein großes Geschick an den Tag, auf dem Fahrersitz fühlte ich mich nicht besonders wohl, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Die Nachricht vom Tod meines ersten Fahrlehrers kam überraschend, wobei ich jeden mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Fahrstunde, die wenige Stunden vor seinem Ableben stattgefunden hatte, ausschließe. Immerhin bestand ich die Führerscheinprüfung auf Anhieb, konnte mich jedoch nicht erinnern, jemals zuvor derart nervös gewesen zu sein wie am Tag der praktischen Prüfung. Und derart erleichtert, als mir der freundliche Herr vom TÜV den grauen Führerschein aushändigte, damals zurecht als „Lappen“ bezeichnet.

Führerscheinfoto

Die erste Praxis erfuhr ich mit dem Auto meiner Eltern, einem roten VW-Derby, der mit seinen sechzig PS ganz gut beschleunigte. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn alleine ohne väter- oder brüderliche Begleitung fahren durfte, von da an fuhr ich ihn sogar recht gerne. Ich mochte den Wagen sehr und es tat mir leid, als wir uns Jahre später trennten, weil er erheblich in die Jahre gekommen war und sein Motor nur noch widerwillig ansprang.

Mein roter Blitz

Nach dem Abitur, das ich ohne größere Anstrengung einigermaßen hinbekam, fiel ich in ein soziales Loch: Die Wege trennten sich, viele meiner Mitschüler und Freunde gingen zur Bundeswehr (die mir aufgrund glücklicher Umstände erspart blieb), machten Zivildienst oder verließen Bielefeld zum Studium oder zur Berufsausbildung. Und ich sah P. nicht mehr täglich, schlimmer: gar nicht mehr. Ab und zu, immer seltener gab noch mal einer eine Fete, wo man sich sah, aber das war nicht mehr dasselbe wie früher, weil die meisten über ihre Bundeswehrerlebnisse berichteten.

Im September nach dem Abitur begann ich die Ausbildung bei der Post. Mein Berufswunsch aufgrund eines schon frühen Sicherheitsbestrebens war Beamter, daher hatte ich mich zuvor bei mehreren Behörden beworben. Mein Wunsch-Arbeitgeber, die Bundesbahn, war leider nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, daher freute ich mich sehr über die Zusage des anderen Staatsunternehmens, wenn auch zunächst nur in der mittleren Beamtenlaufbahn, durch mein Abitur hätte ich eigentlich Zugang zum gehobenen Dienst gehabt. Aber egal – ich fühlte mich bei der Post gut aufgehoben und identifizierte mich sehr mit dem Unternehmen: Die Dienstkleidung mit dem gelben Horn auf dem Ärmel trug ich gerne, und wenn ich irgendwo im kleinsten Dorf das gelbe, rot umrandete Behördenschild mit dem Bundesadler und dem Wort POST darunter sah, erfüllte es mich mit gewissem Stolz. Daran änderte sich nach bestandener Laufbahnprüfung nichts, trotz recht kargem Gehalt blieb ich Postler mit Leib und Seele.

Nicht nur in meiner kleinen, auch in der großen Welt fanden die Achtziger statt:

Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und blieb es für sehr lange Zeit. So bestimmte er nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern nahm im Laufe der Jahre an Körpervolumen erheblich zu, was ihm den despektierlichen Beinamen „Birne“ einbrachte. Auch sonst versorgte er viele Kabarettisten zuverlässig mit Material für ihre Bühnenprogramme.

Ende April 1986 explodierte in Tschernobyl ein Atomreaktor. Mit Wind und Wolken erreichte die Katastrophe bald auch uns: Vor dem Verzehr von Wild und Pilzen wurde abgeraten, und sobald ein paar Regentropfen fielen, suchten wir schnell einen Unterstand als Schutz vor der Gefahr, die wir weder sehen noch riechen konnten.

Atomare Gefahr drohte auch in Form von Raketen und Bomben, mit denen sich USA und UdSSR gegenseitig ihre militärische Stärke versicherten, die allgemeine Angst vor dem alles auslöschenden Atomkrieg wuchs. Zur gleichen Zeit starben durch sauren Regen aufgrund zunehmender Umweltverschmutzung immer mehr Bäume, das Wort „Waldsterben“ wurde zu einem der großen Themen der Zeit. Hieraus entstand eine breite Friedens- und Umweltbewegung mit zum Teil skurrilen Erscheinungsformen. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis kleideten sich Männer plötzlich in farbigen Latzhosen und ließen sich Haare und Bärte lang wachsen. Und die Partei „Die Grünen“ zog in den Bundestag ein.

Kurz vor Ende der Achtziger lösten sich die DDR und der Ostblock auf, im November 1989 fiel die Berliner Mauer und kurz darauf die innerdeutsche Grenze. Noch heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich die Fernsehbilder vom Abend der Maueröffnung sehe, die unfassbare Freude in den Gesichtern der Menschen, die von einem Tag auf den anderen frei waren und reisen durften, wann und wohin sie wollten. Dass diese Wende nicht nur die von Helmut Kohl in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“, sondern auch zahlreiche Verlierer vor allem im Osten mit sich brachte, wurde erst später deutlich.

Ein Rückblick auf die Achtziger erfordert zwingend eine Betrachtung der damaligen Musik, von der Neuen Deutschen Welle bis Modern Talking. Zahlreiche Musikkassetten wurden gefüllt während verschiedener Hitparaden im Radio, immer mit der Hand am Aufnahmeknopf des Kassettenrekorders, bis der blöde Moderator ins Lied reinquatschte. Hier eine unvollständige Aufzählung der für mich bedeutendsten Interpreten, deren Musik ich heute noch gerne höre: Electric Light Orchestra, Pet Shop Boys, Nik Kershaw, Tears For Fears, Wham, Madonna, Duran Duran, A-ha, Traveling Wilburys.

Weiterhin ein kurzer Rückblick auf das Fernsehprogramm: Neben dem schon erwähnten Miami Vice schauten wir Dallas, Falcon Crest, Denver Clan, Der Fahnder (meine erste Begegnung mit Altoids-Pfefferminzbonbons), Alf, und Formel Eins, wo erstmals Musikvideos zu sehen waren.

Zum Schluss sei noch ein Gegenstand besungen, der wohl wie kaum etwas anderes als Symbol für die Achtziger steht: Rubiks Cube, der Zauberwürfel. Jeder musste ihn haben, deshalb war das Original bald ausverkauft. Für manchen war er eher ein Zauderwürfel, weil er ohne Anleitung kaum zu ordnen war, ohne ihn zu zerlegen und nach Farben wieder zusammenzusetzen. Nachdem der SPIEGEL eine Anleitung veröffentlicht hatte, konnte auch ich ihn lösen, bald auch ohne Anleitung. Ob ich das heute auch noch kann, muss ich mal ausprobieren, er liegt noch hinter mir im Regal.