Montag: Der Regen am Sonntag vertrieb vorerst die sommerliche Wärme und brachte Jackenkühle ins Land. Morgens ließ sich bereits ein erster Hauch von Herbst erahnen, vorläufig noch eher ein Gefühl denn eine Wahrnehmung, doch sehr lange dauert es nicht mehr, bis es deutlich wahrnehmbar später hell und früher dunkel wird, die Luft ein erstes herbstliches Aroma annimmt. Die Mauersegler sind bereits fort und in München wird das Oktoberfest aufgebaut.
Beim Brötchenkauf am Abend nahm ich einen Gesprächsschnipsel zwischen zwei jungen Männern wahr, deren einer also sprach: „Ich muss meine Agenda vorantreiben“. Ich berichte das, weil das Gesagte in erfrischendem Widerspruch stand zu der Form, wie es gesagt wurde: Während der Satz sich in bestem Businesskasperdialekt liest, bediente sich der Sprecher reinster Kanakensprache, Verzeihung: Kanaksprak.
Dienstag: Ein weiteres Kennzeichen des nahenden Herbstes ist alljährlich die absurde Empörung über Dominosteine in den Supermärkten im Spätsommer, als gäbe es eine Kaufverpflichtung. WDR 4 fragte morgens gar seine Hörer nach ihrer völlig unmaßgeblichen Meinung dazu. Vielleicht sollte man Marzipankartoffeln, Spekulatius und Dominosteine einfach ganzjährig anbieten, dann hätte sich diese unsinnige Diskussion erledigt. Käufer fänden sich bestimmt.
Auf dem Fußweg zurück vom Werk ging ich einer dunkel dräuenden Wolkenfront entgegen, die laut Wetter-App nördlich vorüber ziehen würde. Leider fühlte sich die Front nicht an die Vorhersage gebunden, vielmehr trieb sie mich mit Wind und dicken Tropfen in eine Gaststätte. Was soll man machen.
Noch in sicherer Entfernung
Im Feuilleton der Tageszeitung ein Gedicht von Ernst Jandl: „das stück, darin / ich keine Rolle spiele / ist meines.“ Ich fühle mich seltsam angesprochen.
Mittwoch: Heute gingen Anzugwetter und Anzugtragelaune eine günstige Konstellation ein, was meine Bekleidungsauswahl am Morgen entsprechend beeinflusste. Manchmal muss es sein, auch wenn ich auf der Etage anscheinend der Letzte bin, der daran noch Freude hat. Deshalb erst recht.
Warum halten es manche für intellektuell schick*, „wishlist“ sagen zu müssen, wenn sie Wunschzettel meinen? Oder „out of office“, wenn sie keine Lust haben, ins Büro zu kommen?
*vor einiger Zeit gelesen bei Frau Anje, für gut befunden und notiert. Mit herzlichem Gruß nach Greven oder Borkum.
Vielen Dank an den Schweizer Tagesanzeiger für das erhellende Lesebeispiel:
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Vormittags kehrte der Liebste wohlbehalten von der Geschäftsreise aus Amerika zurück. Meine leise Befürchtung, sie könnten ihn dort behalten oder gar nicht erst reinlassen, weil sie im Blog seines Gatten, also hier, antipräsidiale Lästereien ausgemacht haben, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Man muss ja mittlerweile auf alles gefasst sein.
Donnerstag: Morgens gehe ich regelmäßig an der recht neuen Filiale der großen amerikanischen Cafékette am Marktplatz vorbei. Sie wirkt sehr einladend. Vermutlich würde ich sie gelegentlich aufsuchen, wenn es nicht die große amerikanische Kette wäre.
Am Rheinufer kläffte mich morgens ein Dackel an. Da mir Dackel grundsätzlich sympathisch sind, verzichtete ich auf eine Unmutsäußerung gegen das Tier und bemerkte in Richtung der Halterin: „Der hat ja eine große Klappe.“ Daraufhin erwiderte sie: „Ja, der ist total bekloppt.“ Das fand ich auch sehr sympathisch.
Vergangene Woche äußerte ich mich lästerlich gegen Klappfahrräder und deren Nutzer. Völlig unklar ist mir hingegen der Sinn dieser Fahrradmonster mit Walzenreifen dick wie Feuerwehrschläuche, deren grobstolliges Profil ein bedrohlich klingendes Singen erzeugt, wodurch ihr Herannahen schon aus der Ferne zu vernehmen ist. Ungefähr so sympathisch wie sogenannte Sportwagen mit knallfurzendem Auspuff.
Auf dem Rückweg sah ich einen Jugendlichen, der die meisten Klischees erfüllte: Trinkflasche in der Hand, Ohrstöpsel, und vor jedem vierten Fenster blieb er stehen, um sich in dessen Spiegelung die Alpakalocken zurecht zu wuscheln, die danach genauso lagen wie vorher. Auch irgendwie sympathisch.
Gelesen unter einem Blogartikel: „Dieser Beitrag erschien zuerst am 31. Mai 2018 und wurde leicht geändert, aber nicht gegendert.“ Wie mögen die drei letzten Wörter zu verstehen sein: als Trotzreaktion oder als Entschuldigung?
Gedanke: Kann es sein, dass bei Kolleg*innen, Kund*innen und Expert*innen jeweils männliche Personen ausgeschlossen werden, bei Lehrer*innen, Radfahrer*innen und Stahlträger*innen hingegen nicht?
Freitag: Was schön war: Die für heute angekündigten Schauer mit Starkregen und Gewitter fielen zumindest hier aus, so dass ich weitgehend unberegnet zum Werk und nicht allzu spät zurück radeln konnte; auf dem Rückweg fielen nur wenige Tropfen, die nicht weiter störten. Auch sonst bot dieser letzte Arbeitstag der Woche keinen Grund zum Unmut. Man muss sich auch über kleine Dinge freuen können, ganz wichtig.
Samstag: Nachdem wie berichtet vor zwei Wochen der Pride Bonn stattfand, schloss sich heute Beethovens Bunte an, gleichsam der Bonner CSD. Warum es innerhalb so kurzer Zeit zwei derartige Veranstaltungen mit identischem Anliegen gibt, weiß ich nicht, aber es schadet ja nicht. Vor zwei Wochen äußerte ich mich erleichtert darüber, dass es keine Störungen durch sogenannte Rechte* gab. Das war heute anders: Am Rande des Münsterplatzes hatte sich mittags ein Grüppchen dunkel gekleideter junger – nun ja: Männer mit einem Banner platziert; ein pickelgesichtiger Jüngling plärrte etwas unbeholfen akustisch schwer verständliche, mutmaßlich homophobe Parolen in ein Megafon. Sie waren zu siebt, laut Zeitung waren sechzig angemeldet. Den sieben Zwergen ohne Schneewittchen stand eine wesentlich größere Gruppe linker Aktivisten gegenüber, die deren verbale Absonderungen lautstark übertönten. Was genau sie erwiderten, war ebenfalls akustisch schwer zu verstehen, doch fand ich ihre Überzahl beruhigend, auch wenn ich mit den Zielen und Aussagen linker Aktivisten nicht immer vorbehaltlos übereinstimme.
*Es fällt mir weiterhin schwer, sie so zu nennen, steckt dasselbe Wort doch auch in Menschenrechte, Gerechtigkeit und Rechtsprechung.
Als ich nachmittags im Rahmen des Leergutentsorgungsgangs nochmals den Münsterplatz aufsuchte, waren sowohl die rechten als auch die linken Schreihälse verschwunden, man hatte sich wohl gegenseitig heiser geschrieen. Stattdessen fand das CSD-Fest im gewohnt friedlichen Rahmen statt mit Bühnenprogramm, Informationsständen und einem Getränkestand, wo ich zum Zeichen der Verbundenheit zwei Kölsch trank und das regenbogenbunte Treiben betrachtete. Hoffentlich ist das noch lange ungestört möglich. Heute waren es nur sieben.
Anfang September 1999 gab es diese Veranstaltung unter der Bezeichnung „Schwul-lesbisches Sommerfest“ zum ersten Mal in Bonn. Damals war ich mitten dabei und bekam doch nicht viel davon mit, weil ich selbst in der Getränkebude stand, wo viel zu tun war. Sechsundzwanzig Jahre ist das her, wie die Zeit vergeht.
Das bringt mich zur nächsten Frage. Nr. 26 lautet: „Warst du ein glückliches Kind?“ Ja, das war ich, auch wenn ich auf Schulsport und den zu häufig gehörten Satz „Du musst mehr essen, damit du was auf die Rippen bekommst“ gerne verzichtet hätte. Doch das Gute überwog bei weitem, es hat mir an nichts gefehlt, dafür bin ich sehr dankbar.
Aus einem Zeitungsartikel über unterschiedliche Serienkuckgewohnheiten von Männern und Frauen: „… 44 Prozent der weiblichen Zuschauenden, aber nur 38 Prozent der männlichen …“
Sonntag: Neununddreißigtausend Rolltreppen, amtlich „Fahrtreppen“ gibt es in Deutschland, steht in der Sonntagszeitung. Außerdem ist heute nationaler Senftag, weiß der kleine kalender. Somit wissen Sie das nun auch, falls Sie mal danach gefragt werden sollten oder auf einer Party sind, wo die Gespräche zu versiegen drohen.
Beim Spaziergang sah ich einen, der mit einer Hand einen Kinderwagen schob, in der anderen hielt er – nein, kein Datengerät, sondern eine Bierflasche. Vielleicht sollte man auch für Elternschaft eine Art Führerschein einführen.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche.
Hier der zweite Teil meiner persönlichen Rückschau auf die Jahrzehnte. Nach den Siebzigern folgen die
Achtzigerjahre
Auch in den Achtzigern, vor allem der ersten Hälfte, galten wesentliche Teile meines Interesses der Eisenbahn. Die Bahnstrecke am Haus meiner Großeltern wurde bereits 1980 stillgelegt, wenig später die Gleise zwischen Göttingen und Dransfeld abgebaut. Aber es gab noch genug andere Strecken, nicht weit von meinem Elternhaus die Nebenbahn von Bielefeld nach Lemgo, der nun meine Aufmerksamkeit galt. Mein Freund U., genauso bahnverrückt, und ich lernten den Bundesbahner S. kennen, der im nahen Bahnhof Hillegossen als Fahrdienstleiter Dienst tat. Mit der Zeit freundeten wir uns mit ihm an, wir verbrachten oft ganze Nachmittage dort, duften in den Dienstraum, der dem niedrigen Bahnhofsgebäude vorgebaut war, was Bahnfremden normalerweise nicht gestattet war. Mehr als einmal erhielt S. deswegen einen Rüffel seines Chefs, wenn der aus Bielefeld zur regelmäßigen Dienstkontrolle erschien und wir nicht mehr rechtzeitig den Raum verlassen konnten.
Bahnhof Hillegossen, Blickrichtung Bielefeld
Wir durften sogar über die großen Hebel die Weichen und Signale bedienen, was für S. vermutlich ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen hätte, wenn der Chef es mitbekommen hätte. Viel passieren konnte dabei nicht, durch uns wären wohl keine Züge entgleist oder zusammengestoßen, die alte Sicherungstechnik war sehr zu zuverlässig, außerdem achtete er darauf, dass wir alles richtig machten.
U. und ich bereisten viele Bahnstrecken, die von Bielefeld ausgehenden Nebenbahnen nach Lemgo, Osnabrück, Paderborn und Münster, aber auch Strecken weiter weg, vor allem wenn sie kurz vor der Stilllegung standen, einige auch am letzten Betriebstag vor der Betriebseinstellung; die Deutsche Bundesbahn legte in den Achtzigern sehr viele Strecken still. In den Sommerferien kauften wir uns ein Tramper-Monatsticket, mit dem man einen Monat lang innerhalb Deutschlands beliebig viel und weit mit der Bahn fahren konnte. Dabei bereisten wir so manche Strecke, die heute längst von der Karte verschwunden ist und deren Trasse allenfalls noch mit dem Fahrrad befahren werden kann.
Auch die Modelleisenbahn blieb eine meiner liebsten Beschäftigungen: In unserem Garten wuchs die L.G.B.-Bahn mit jedem Meter Gleis, den ich von meinem Taschengeld kaufen konnte, bis sie den Garten ganz umrundete, auch die Zahl der Loks und Wagen wuchs mit jedem Geburtstag und Weihnachten. Als mir mein Patenonkel zur Konfirmation den ersehnten Schienenbus schenkte, war alles andere um mich herum vergessen. Auf unserem Dachboden baute ich an einer großen HO-Bahn, die nach Fahrplan und Fahrdienstvorschrift der Bundesbahn fuhr, so wie wir es in Hillegossen gelernt hatten. Während des Bastelns lief im Radio auf WDR 2 die Sendung „Unterhaltung am Wochenende“, deren Höhepunkt stets die „Kleine Dachkammermusik“ von und mit Hermann Hoffmann war, der sämtliche Rollen – er selbst, seine Frau, Otto de Fries, Pankratius Schräuble, Herr Schlotterbeck und einige andere – sprach.
Schließlich wurde ich Mitglied im Verein Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth, der bei Gütersloh eine schmalspurige Museumseisenbahn mit richtigen Dampfloks betrieb (und heute noch betreibt). Dort verbrachte ich jahrelang die meisten Wochenenden, arbeitete mich hoch vom Schaffner bis zum Lokführer. Selten war ich mehr mit Stolz erfüllt als an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal eigenverantwortlich eine Dampflok fahren durfte, auch wenn die Dampfkleinbahn nicht viel mehr war als ein großer Schienenkreis um eine Gaststätte, vergleichbar meiner L.G.B.-Bahn, nur im Maßstab 1 : 1.
Der stolze Junglokführer auf seinem Stahlross
Bei aller Bahnbegeisterung entging mir nicht, dass es auch außerhalb des Schienenkreises Interessantes zu erleben und entdecken gab, zum Beispiel im körperlich-zwischenmenschlichen Sektor. So brach langsam die Stimme um eine Oktave nach unten, wie bei den anderen Jungs auch, außer dem bedauernswerten J., der bis zum Abitur kindlich piepste.
Zudem begannen an diversen Stellen Haare zu wachsen, zunächst nur spärlich und im Vergleich zu manchem Mitschüler spät, wie eigene Recherchen in Form diskreter Seitenblicke in der Umkleide vor und nach dem Sport und Schwimmunterricht ergaben. Ich hasste den Schulsport mit zunehmendem Alter immer mehr, vor allem Mannschaftssportarten, insbesondere dann, wenn zur Unterscheidung meine Mannschaft mit freiem Oberkörper spielte. Wiesen andere Jungs bereits beachtliche Muskeln und breite Schultern auf, blieb bei mir zunächst alles schmal und mager. Im zwölften Schuljahr lag die Sportstunde gar im Nachmittag, das hieß, nur für Volley- oder Basketball musste ich nachmittags nochmal los. Absurderweise konnte man – im Gegensatz zu Mathe, Deutsch und Englisch – Sport erst nach dem ersten Halbjahr des dreizehnten Schuljahres abwählen. Zu meiner letzten Sportstunde brachte ich Sekt mit und überreichte dem Sportlehrer, der eigentlich ganz in Ordnung war, einen selbstgeschriebenen Antisporttext:
(Entstanden 1986)
Als ich an dem Tag die Sporthalle verließ, schwor ich mir, nie wieder freiwillig eine zu betreten. (Erst Ende der Neunziger begann ich wieder freiwillig mit Sport, Laufen. Ohne Bälle und Sieg, dafür im Sommer manchmal mit freiem Oberkörper.)
Auch in meinem Gesicht wuchsen zunehmend Haare, die irgendwann so zottig abstanden, dass regelmäßige Rasuren unvermeidbar wurden. Nur den Flaum über der Oberlippe verschonte ich aus unerfindlichen Gründen lange Zeit. Wenn schon keine Bizeps, dann wenigstens einen Bart.
Erstmals entwickelte ich so etwas wie Eitelkeit, jedenfalls meine Frisur betreffend. Bis ungefähr sechzehn war sie mir egal, ich ließ es wachsen, und wenn ich mal zum Friseur ging, sagte ich „nicht so kurz“. So ging es nicht weiter: Ich ließ die Haare kürzer schneiden und versuchte, sie in eine Form zu bringen, wie ich es bei anderen bewunderte, leider zumeist ohne Erfolg, da sie aufgrund einer natürlichen Welle einen schwer zu brechenden eigenen Willen aufwiesen. Auch diverse Produkte wie Gel und Brisk führten nur selten zum gewünschten Ergebnis. Erste sehr viel später wuchs sich dieses Problem aus.
VorherNachher
Ein weiteres körperliches Dauerhadern galt meinen Füßen, die aufgrund familiärer Vererbung sehr krumm und hässlich geraten waren, daher zeigte ich sie höchst ungern öffentlich, etwa in Schwimmbädern. Dass mein Bruder und die meisten Cousins und Cousinen ähnlich ausgestattet waren, tröstete mich nicht, wenn ich auf die makellosen Laufwerke meiner Mitschüler schaute. Zudem rochen sie sehr streng, was wohl daran lag, dass auch in den Achtzigern das tägliche Brausebad in unserem Haushalt noch unüblich war.
Weitere Möglichkeiten, die der eigene Körper bietet, kannte ich zunächst nur aus den begeisterten Berichten von Mitschüler F., mit dem ich kurz zuvor noch Fallgruben im Sandkasten gegraben hatte, und es dauerte noch etwas, bis auch ich selbst verstand, was er meinte. Er hatte nicht zu viel versprochen. Den erhöhten Verbrauch an Papiertaschentüchern versuchte ich so gut es ging vor den Eltern zu verbergen, ich weiß nicht, inwieweit es gelang.
Ab und zu kam es zu gegenseitigen Fummeleien mit anderen Jungs, was laut den Lebensberatungsseiten diverser Zeitschriften (Oma las die Freizeit-, Papa die Neue Revue; zur BRAVO hatte ich nur selten Zugang) in dem Alter ganz normal war und nichts zu bedeuten hatte bezüglich eventueller Präferenzen.
Auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht hatte sich seit der Grundschulzeit gewandelt. Mehrere Jungs (einschließlich F.) hatten auf einmal eine Freundin, und auf den Feten tanzten sie mit den Mädchen, wenige Jahre zuvor noch gleichsam andere Wesen, Klammerblues zu El Lute von Boney M. Auch in mir erwachte gewisses Interesse, vielleicht nur halbherzig, mindestens die andere Hälfte schlug immer noch für die Bahn, und das war nicht gerade etwas, womit man zarte Bande knüpfen konnte, nahm ich an. Außerdem, welches Mädchen wollte schon mit so einem mageren Hänfling wie mir etwas anfangen. Es gab durchaus ein paar Mädchen, derer näherer Bekanntschaft ich nicht abgeneigt gewesen wäre – A., die Tochter des Pfarrers unserer Gemeinde, später S. von meiner Schule und ein paar andere, auch wenn ich im Ernstfall nicht gewusst hätte, wie ich Bahn und Beziehung hätte vereinbaren können.
Daher trank ich auf den Feten lieber Alkohol, und das nicht zu knapp. Ab der Oberstufe feierte an fast jedem Wochenende irgendwer, ein wesentlicher Inhalt dieser Feten war es, möglichst viel Bier, Apfelkorn und andere fruchthaltige Spirituosen aus dem Hause Berentzen zu verzehren. Oder wir trafen uns zu viert bei R., der schon eine eigene Wohnung im Haus seiner Eltern hatte, wo wir uns mit Fünfliter-Partyfässern und Sekt die Zeit vertrieben. Mehr als einmal konnte ich mich am nächsten Tag nicht mehr an alle Details erinnern, vor allem wie ich nach Hause gekommen bin, während ich mich im Halbstundentakt bis in den Nachmittag hinein erbrach. „Geysirtag“ nannte ich diese Tage, an denen ich mir fest vornahm, künftig weniger zu trinken. Bis zum nächsten Wochenende. Gerne waren wir auch zu Gast beim Griechen kurz vor Oldentrup, wo wir fast in die Familie integriert waren und wo es selten bei nur einem Bier und einem Ouzo blieb.
Mit siebzehn begann ich mit dem Rauchen. Allerdings nicht Zigaretten, sondern Zigarillos. Das erschien mir zum einen etwas extravaganter, zum anderen glaubte ich, da man sie nicht inhalierte, wären sie weniger gesundheitsschädlich. (Erst mit vierzig stieg ich auf Zigaretten um, dazu kommen wir in den Zweitausendern.) In den Achtzigern war es selbstverständlich, auch in Gaststätten und Restaurants zu rauchen, wobei meine Zigarillos die Luft erheblich verpesteten.
Ein eher dunkles Kapitel war die Tanzschule, zu der ich von meinen Eltern gedrängt wurde, weil fast alle Freunde auch dorthin gingen. Jeden Samstag. Ich hasste es aus tiefstem Herzen, hatte weder Lust, ein Mädchen zum Tanzen auffordern, noch konnte und wollte ich die zu erlernenden Tanzschritte und Bewegungsabfolgen verinnerlichen. Das muss ziemlich komisch ausgesehen haben. Nach dem Grundkurs war damit Schluss für mich, die Freunde machten noch weiter. Am Abend des Abschlussballs beschloss ich, nie wieder eine Tanzschule zu betreten, wenige Wochen später trat ich dem Dampfkleinbahnverein bei, der mich fortan samstags gut beschäftigte.
Und dann war da noch dieser gewisse Punkt, der immer wieder aufleuchtete, anfangs nur schwach. Etwas heller strahlte er, wenn ich in der Schule P. sah, zwei Jahrgangsstufen unter mir, von dem etwas ausging, das mich in seltsamer Weise faszinierte und nicht sein konnte, nicht sein durfte. Auch nachmittags nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien ging er mir nicht aus dem Kopf. Was mochte er jetzt gerade tun? Hatte er eine Freundin? Welch unschöner Gedanke. Ich erhöhte meine Aktivität bei der Dampfkleinbahn.
Erst Jahre später, 1989, kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Beziehung zum anderen Geschlecht allenfalls auf freundschaftlicher Basis fußen konnte, was weder Eltern noch Kollegen erfahren durften, am wenigsten mein Vater. Und noch viel später hatte ich zum ersten Mal einen Freund, das erzähle ich Ihnen in den Neunzigern.
Ich begann, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, bis heute. Zur Vermeidung unerwünschter Mitleser brachte ich mir selbst die deutsche Schreib- oder Sütterlinschrift bei, mit Hilfe des Mathebuchs. Es gab dort im Kapitel Vektorrechnung eine Gegenüberstellung aller Buchstaben in deutscher und arabischer Schreibweise, weil Vektoren mit deutschen Buchstaben bezeichnet werden. Schon damals hatte ich keine Ahnung, wozu man Vektorrechnung braucht, aber das galt ja für das meiste, was man auf dem Gymnasium lernen musste.
Neben dem Tagebuch schrieb ich auch andere kürzere Texte, siehe oben den Sporttext, inspiriert durch die Lektüre von Ephraim Kishon. Zunächst schrieb ich sie mit der Hand vor, dann tippte ich sie mit der Schreibmaschine ab. Da es noch kein Internet und Blog gab, machte ich damit nichts weiter und gab die Schreiberei bald wieder für längere Zeit auf.
Auch in modischer Hinsicht vollzog ich Mitte der Achtziger einen Wandel: Statt Jeans nur noch Baumwollhosen mit Bundfalte, bevorzugt in schwarz oder grau, dazu überwiegend schwarze Jacken und weiße Turnschuhe. Später wurde die Oberbekleidung zeittypisch bunter: Die Fernsehserie „Miami Vice“ inspirierte uns, nun Jacket mit Schulterpolstern zu tragen, gerne auch in bunt kariert. Erst viel später kaufte ich mir erstmals wieder Jeans.
Mit siebzehn begann ich, das Führen eines Kraftfahrzeuges zu erlernen. Dabei legte ich kein großes Geschick an den Tag, auf dem Fahrersitz fühlte ich mich nicht besonders wohl, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Die Nachricht vom Tod meines ersten Fahrlehrers kam überraschend, wobei ich jeden mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Fahrstunde, die wenige Stunden vor seinem Ableben stattgefunden hatte, ausschließe. Immerhin bestand ich die Führerscheinprüfung auf Anhieb, konnte mich jedoch nicht erinnern, jemals zuvor derart nervös gewesen zu sein wie am Tag der praktischen Prüfung. Und derart erleichtert, als mir der freundliche Herr vom TÜV den grauen Führerschein aushändigte, damals zurecht als „Lappen“ bezeichnet.
Führerscheinfoto
Die erste Praxis erfuhr ich mit dem Auto meiner Eltern, einem roten VW-Derby, der mit seinen sechzig PS ganz gut beschleunigte. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn alleine ohne väter- oder brüderliche Begleitung fahren durfte, von da an fuhr ich ihn sogar recht gerne. Ich mochte den Wagen sehr und es tat mir leid, als wir uns Jahre später trennten, weil er erheblich in die Jahre gekommen war und sein Motor nur noch widerwillig ansprang.
Mein roter Blitz
Nach dem Abitur, das ich ohne größere Anstrengung einigermaßen hinbekam, fiel ich in ein soziales Loch: Die Wege trennten sich, viele meiner Mitschüler und Freunde gingen zur Bundeswehr (die mir aufgrund glücklicher Umstände erspart blieb), machten Zivildienst oder verließen Bielefeld zum Studium oder zur Berufsausbildung. Und ich sah P. nicht mehr täglich, schlimmer: gar nicht mehr. Ab und zu, immer seltener gab noch mal einer eine Fete, wo man sich sah, aber das war nicht mehr dasselbe wie früher, weil die meisten über ihre Bundeswehrerlebnisse berichteten.
Im September nach dem Abitur begann ich die Ausbildung bei der Post. Mein Berufswunsch aufgrund eines schon frühen Sicherheitsbestrebens war Beamter, daher hatte ich mich zuvor bei mehreren Behörden beworben. Mein Wunsch-Arbeitgeber, die Bundesbahn, war leider nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, daher freute ich mich sehr über die Zusage des anderen Staatsunternehmens, wenn auch zunächst nur in der mittleren Beamtenlaufbahn, durch mein Abitur hätte ich eigentlich Zugang zum gehobenen Dienst gehabt. Aber egal – ich fühlte mich bei der Post gut aufgehoben und identifizierte mich sehr mit dem Unternehmen: Die Dienstkleidung mit dem gelben Horn auf dem Ärmel trug ich gerne, und wenn ich irgendwo im kleinsten Dorf das gelbe, rot umrandete Behördenschild mit dem Bundesadler und dem Wort POST darunter sah, erfüllte es mich mit gewissem Stolz. Daran änderte sich nach bestandener Laufbahnprüfung nichts, trotz recht kargem Gehalt blieb ich Postler mit Leib und Seele.
Nicht nur in meiner kleinen, auch in der großen Welt fanden die Achtziger statt:
Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und blieb es für sehr lange Zeit. So bestimmte er nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern nahm im Laufe der Jahre an Körpervolumen erheblich zu, was ihm den despektierlichen Beinamen „Birne“ einbrachte. Auch sonst versorgte er viele Kabarettisten zuverlässig mit Material für ihre Bühnenprogramme.
Ende April 1986 explodierte in Tschernobyl ein Atomreaktor. Mit Wind und Wolken erreichte die Katastrophe bald auch uns: Vor dem Verzehr von Wild und Pilzen wurde abgeraten, und sobald ein paar Regentropfen fielen, suchten wir schnell einen Unterstand als Schutz vor der Gefahr, die wir weder sehen noch riechen konnten.
Atomare Gefahr drohte auch in Form von Raketen und Bomben, mit denen sich USA und UdSSR gegenseitig ihre militärische Stärke versicherten, die allgemeine Angst vor dem alles auslöschenden Atomkrieg wuchs. Zur gleichen Zeit starben durch sauren Regen aufgrund zunehmender Umweltverschmutzung immer mehr Bäume, das Wort „Waldsterben“ wurde zu einem der großen Themen der Zeit. Hieraus entstand eine breite Friedens- und Umweltbewegung mit zum Teil skurrilen Erscheinungsformen. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis kleideten sich Männer plötzlich in farbigen Latzhosen und ließen sich Haare und Bärte lang wachsen. Und die Partei „Die Grünen“ zog in den Bundestag ein.
Kurz vor Ende der Achtziger lösten sich die DDR und der Ostblock auf, im November 1989 fiel die Berliner Mauer und kurz darauf die innerdeutsche Grenze. Noch heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich die Fernsehbilder vom Abend der Maueröffnung sehe, die unfassbare Freude in den Gesichtern der Menschen, die von einem Tag auf den anderen frei waren und reisen durften, wann und wohin sie wollten. Dass diese Wende nicht nur die von Helmut Kohl in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“, sondern auch zahlreiche Verlierer vor allem im Osten mit sich brachte, wurde erst später deutlich.
Ein Rückblick auf die Achtziger erfordert zwingend eine Betrachtung der damaligen Musik, von der Neuen Deutschen Welle bis Modern Talking. Zahlreiche Musikkassetten wurden gefüllt während verschiedener Hitparaden im Radio, immer mit der Hand am Aufnahmeknopf des Kassettenrekorders, bis der blöde Moderator ins Lied reinquatschte. Hier eine unvollständige Aufzählung der für mich bedeutendsten Interpreten, deren Musik ich heute noch gerne höre: Electric Light Orchestra, Pet Shop Boys, Nik Kershaw, Tears For Fears, Wham, Madonna, Duran Duran, A-ha, Traveling Wilburys.
Weiterhin ein kurzer Rückblick auf das Fernsehprogramm: Neben dem schon erwähnten Miami Vice schauten wir Dallas, Falcon Crest, Denver Clan, Der Fahnder (meine erste Begegnung mit Altoids-Pfefferminzbonbons), Alf, und Formel Eins, wo erstmals Musikvideos zu sehen waren.
Zum Schluss sei noch ein Gegenstand besungen, der wohl wie kaum etwas anderes als Symbol für die Achtziger steht: Rubiks Cube, der Zauberwürfel. Jeder musste ihn haben, deshalb war das Original bald ausverkauft. Für manchen war er eher ein Zauderwürfel, weil er ohne Anleitung kaum zu ordnen war, ohne ihn zu zerlegen und nach Farben wieder zusammenzusetzen. Nachdem der SPIEGEL eine Anleitung veröffentlicht hatte, konnte auch ich ihn lösen, bald auch ohne Anleitung. Ob ich das heute auch noch kann, muss ich mal ausprobieren, er liegt noch hinter mir im Regal.