Woche 31/2023: Der Dunst des Desinteresses

Montag: Die Kantinenwoche begann mit Currywurst und ich hatte mich morgens für ein weißes Hemd entschieden. Gutgegangen, oder: unbefleckte Ernährung.

Den anschließenden Spaziergang durch den Park kürzte ich ab, da in der Ferne am Wegesrand eine Schwanenfamilie rastete. Schwäne können während der Elternschaft sehr ungemütlich werden, das weiß ich aus meiner Kindheit in Bielefeld-Stieghorst, wenn wir im Park den erziehungsberechtigten Schwänen zu nahe kamen und sie sich mit ausgebreiteten Flügeln flatternd und fauchend auf uns stürzten. Ich nehme an, dass sie das heute auch noch tun, nicht nur in Bielefeld-Stieghorst.

Dienstag: In der Nacht hatte es zeitweise heftig geregnet, kurzzeitig begleitet von Donnergrollen. Morgens hatte es aufgehört, was den planmäßigen Fußmarsch ins Werk ermöglichte. Dabei sah ich wie jeden Morgen fleißige Leute, die Straßen und Plätze kehrten, Müll abholten, Stühle vor die Cafés stellten, Marktstände aufbauten. Vermutlich arbeiteten manche von ihnen immer noch, als ich mich nachmittags bereits wieder auf dem Rückweg befand und mich fragte, was ich heute geleistet habe, wobei sie wesentlich weniger Gehalt bekommen. Die Welt ist nicht gerecht. Ich kann es doch auch nicht ändern.

Das gilt auch für die radelnden Essensausfahrer (ich möchte sie nicht schon wieder Speisesklaven nennen) mit den riesigen orangen Tornistern. Einige von ihnen hüllen seit einiger Zeit ihr Gesicht vom Hals bis kurz unter die Augen in einen schwarzen Stoffschlauch, ein wenig erinnern sie damit an die Banditen in früheren Cowboyfilmen, die ihre Gesichter ebenfalls mit einem Tuch verhüllten, bevor sie einen Zug überfielen. Warum tun sie das? Jedenfalls nicht, um Züge zu überfallen; der Zug würde wegen Personen im Gleis gar nicht erst losfahren. Wahrscheinlich wollen sie unerkannt bleiben, wenn sie durch die Fußgängerzone rasen und rote Ampeln missachten.

Auf dem Rückweg sah ich einen Mietelektroroller auf der Seite liegen, sein Rücklicht blinkte abwechselnd dreimal lang und zweimal kurz, gemäß Morsealphabet, ich habe das mal nachgeschaut, „I – O“ oder „O – I“. Was will er uns sagen?

Mittwoch: Auch dieser Tag begann herbstlich kühl mit Nieselregen am Morgen und setzte sich fort mit immer wieder teils heftigen Regenschauern. Trotz allem war es nachmittags, als ich zwischen zwei Schauern nach Hause radelte, erstaunlich warm geworden.

Abends lief ich eine Runde am Rhein entlang, dabei passierte ich den Abfluss der Kläranlage im Norden kurz vor dem Hafen, wo das gereinigte Wasser in den Rhein geleitet wird. So richtig geklärt scheint es nicht zu sein, weißer Schaum begleitet das austretende Wasser in Fließrichtung. Das hielt zwei Angler nicht davon ab, wenige Meter unterhalb des Abflusses ihre Rute in die Gischt zu halten. Ich wünschte Petri Heil und guten Appetit.

Donnerstag: »Liebe KollegInnen, vielen Dank für deine E-Mail«, steht in einer Abwesenheitsnachricht.

Bonn-Beuel, morgens

Die Stadt Bonn hat laut Zeitungsbericht im vergangenen Jahr 13,4 Millionen Euro an Bußgeldern für Park- und Tempoverstöße eingenommenen. Damit kann gut ein Drittel der jährlichen Kosten der Bonner Oper abgedeckt werden. Ich höre sie schon wieder schreien: Abzocke! Melkkuh der Nation!

Wie weiterhin berichtet wird, verzögert sich der Abriss des alten Schlachthofes, weil zuvor ein Eidechsenschutzzaun in Richtung Bahngleise errichtet werden muss, damit die dort lebenden Kleinreptilien nicht während der Abbrucharbeiten das Gelände aufsuchen und zu Schaden kommen. (Wegen der vom Bahnverkehr ausgehenden Gefahren für die Echsen hat man offenbar weniger Bedenken.) Das ist zu loben und bemerkenswert: Gebäude, in denen jahrzehntelang massenhaft Tiere getötet wurden, können nun aus Tierschutzgründen nicht abgerissen werden.

Gedanke: Wenn Außerirdische zu uns kämen, warum sollten sie mit uns kommunizieren wollen? Wenn Menschen Wälder roden, um Acker- und Weideflächen zu schaffen, diskutieren sie auch nicht vorher mit den Tieren. Außer vielleicht in Deutschland, siehe oben.

Spruch zum Abend: Das letzte Schaf hat kein Fell mehr. Fragen Sie nicht.

Freitag: Manches, was mich früher irritierte oder gar nervte, nehme ich heute amüsiert zur Kenntnis. Zum Beispiel Leute, die mich mal duzen, mal siezen. Wie die Dame am Empfang des von mir regelmäßig und auch heute aufgesuchten Frisiersalons. Vor einiger Zeit, ich berichtete, war sie nach jahrelanger Distanzanrede ohne erkennbaren Anlass, etwa einer gemeinsamen Ballonfahrt, nach der, wie ich mal hörte, das Duzen obligatorisch ist, zum Du übergegangen; nach interessierter, keineswegs verärgerter Frage meinerseits, was sie dazu veranlasst hätte, vereinbarten wir die Beibehaltung der vertrauten Ansprache und praktizierten sie bei meinen folgenden Besuchen. Heute nun siezte sie mich wieder wie früher; ich verkniff mir die Frage, ob wir wieder beim Sie seien und warum. Diesbezüglich bin ich flexibel, situativ wird zurückgeduzt oder -siezt, beides völlig in Ordnung. Wobei mit zunehmendem Alter meine Vorliebe für das Sie wächst. Auch bei sympathischen Leuten wie der Dame am Empfang.

Gelesen bei Frau Kaltmamsell und sofort eine Spur von Seelenverwandtschaft ausgemacht:

“Entsetzen und Schockstarre” waren die ersten Wörter der 20-Uhr-Tagesschau, ich erschrak heftig – UND DANN GING’S UM SCHEISS FUSSBALL?!

Ich schrieb es schon mal: Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum Sport, insbesondere Fußball, in den regulären Nachrichten neben Kriegen, Katastrophen, Klimawandel, Kirchenskandalen und Kindergrundsicherung einen so breiten Raum einnimmt. ZDF-heute leistet sich dafür gar einen separaten Sprecher. Sobald er spricht, oder schlimmer noch einer dieser unerträglich überdrehten Sportreporter im Radio, legt sich der Dunst des Desinteresses über meine Wahrnehmung. Die Worte nehme ich noch als Geräusch wahr, wie Hundebellen, ihr Inhalt dringt indes nicht bis zu mir vor.

Samstag: Todesanzeigen enthalten unterhalb des Namens des Gestorbenen häufig Zusätze wie „Oberregierungsrat a. D.“ oder „Bäckermeister“. In der Zeitung von heute steht in einer Anzeige: „Finanzangestellter und Sänger“. Bei mir könnte mal „Bundesbeamter und Kleinblogger“ stehen.

Im Zoo von Hannover erhielten drei Junglöwen ihre Namen, die Zeitung nennt es Löwentaufe: Zuri, Alani und Tayo. »Die Namen klingen alle sehr schön und unterscheiden sich gut voneinander. Das hilft uns, wenn wir die Jungtiere einzeln ansprechen und rufen möchten«, so ein Zoo-Mitarbeiter. Vielleicht bei Ansprachen wie „Alani, hatten wir nicht vereinbart, dass du nicht den Tierpfleger frisst? Böse Löwin.“

Sonntag: Durch die Sonntagszeitung wurde ich aufmerksam auf die Beobachtungsstelle für Anomalien, die systematisch Kuriositäten im öffentlichen Raum sammelt und dokumentiert. Über ein Meldeformular kann man eigene Beobachtungen zur Anzeige bringen.

Anormal für Anfang August ist weiterhin das kühle Wetter mit Regen und Wind. Hierdurch fiel der Sonntagsspaziergang kürzer, immerhin nicht ganz aus. Ich mag es, wenn beim Gehen Regentropfen auf den Schirm klopfen und an der Rheinpromenade nur wenige Fußgänger, zumeist mit Hund, um die riesigen Pfützen auf dem Gehweg flanieren, in denen die fallenden Tropfen Kreise bilden. Auf die in letzter Zeit liebgewonnene Einkehr in einer Außengastronomie verzichtete ich. Das ist nicht schlimm und wird nachgeholt.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche.

Aufgewärmt: Von einem anderen Stern

Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir, einen älteren Aufsatz behutsam aufzuwärmen und ihn Ihnen erneut zur Lektüre zu geben. Ich bitte um Verständnis.

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KW49 - 1 (2)

Bald feiern wir wieder das Fest des Kindes. Der Legende nach wurde es vor etwa zweitausend Jahren in Bethlehem geboren, nachdem es auf rätselhafte Weise in den Bauch einer gewissen Maria geraten war. Mit Vaterschaftstests und Unterhaltsklagen waren sie damals noch nicht so weit, daher kam Josef mit seiner War-ich-nicht-Nummer nicht durch, stattdessen musste er die Dame auf ihrem Weg durch Nacht und Kälte begleiten. In Bethlehem hatten sie Pech: Wegen einer Verbrauchermesse waren alle Hotels und Pensionen belegt oder überteuert, daher rasteten sie in einem zugigen Stall, wo das Kind schließlich unter den desinteressierten Blicken eines Ochsen und eines Esels zur Welt kam.

Drei Messeteilnehmer aus dem Morgenland waren spät dran, weil sie sich uneins waren über den Weg nach Bethlehem, bis einer von ihnen das Laserlicht entdeckte, das seit Tagen von der Messehalle aus in die Wolken strahlte. Als sie endlich ankamen, entdeckten sie den Stall, irrtümlich hielten sie das ganze für die sehr gelungene Warenpräsentation eines innovativen Leuchtmittelherstellers, dessen Produkte offenbar ganz ohne Flamme auskamen, die Kopfbeleuchtung des Babys strahlte besonders hell. Daher überreichten sie ihre Karten und einigen Kram von geringem Gebrauchswert, den sie in ihren Jackentaschen gefunden hatten. Josefs Frage nach einem wärmenden Schluck beschieden sie hingegen abschlägig, da ihre Cognacvorräte auf der langen Anreise schon draufgegangen waren.

Aus dieser mündlich überlieferten Begebenheit sind schließlich Weihnachten, Lichterketten und Glühweinbuden entstanden. Seitdem hat sich viel getan. Heute glauben die Kinder nicht mehr an drei nette Herren aus dem Osten, sondern an einen dicken Mann in rotem Gewand mit weißem Rauschebart und das Christkind, die unter Absingen von ‚“Last Christmas“‘ die Geschenke bringen, bevor sie wieder durch den Schornstein verschwinden – im Zeitalter der feinstauboptimierten Zentralheizung schon schwer vorstellbar, selbst für das gutgläubigste Kind. Apropos kindlicher Glaube: Früher, so mit vier oder fünf, glaubte ich, es hieße ‚Kristkind‘, weil es, während es die Geschenke verteilt, sagt: „Du krist (= ostwestfälisch für ‚kriegst‘) dieses Geschenk, du krist das und du das.“

Längst vorbei sind auch die Zeiten, da Neugeborene in Windeln gewickelt in einer Futterstelle für Nutztiere aufbewahrt werden, außer vielleicht in besonders ökoideologisch-traditionellen Haushalten. Dafür gibt es heute technologisch hochentwickelte Tragegefäße, welche sich mit wenigen Handgriffen in eine Babybox für Brust-, Auto- oder Fahrradbefestigung verwandeln lassen, um den Nachwuchs zum Geschenkeempfang oder zur Niedlichfindeaufforderung in die Verwandtschaft oder die Firma zu verbringen. Vielleicht wissen Sie, was ich meine: Des Kollegen Frau liegt in freudiger Erwartung. Wenige Tage später hört man auf dem Büroflur das hochfrequente Juchzen der Kolleginnen, mindestens eine Oktave über ihrer üblichen Sprechstimme. Ein vorsichtiger Blick aus der Bürotür verrät den Grund: Der junge Vater steht mit dem Tragekörbchen auf dem Flur, umringt von vor Entzückung entrückten Menschen.

Ein paar Minuten später steht der vaterstolze Kollege dann mit seinem Ableger in meiner Bürotür und sagt so etwas wie „“Sieh mal, Paul-Luca, und das ist Carsten,… sag mal hallo zu Carsten!““ Während ich mich mit gequältem Lächeln von meinem Platz erhebe und mir ein „Ganz der Papa““ abringe, sagt Paul-Luca weder Hallo, noch nimmt er überhaupt Notiz von mir. Das Desinteresse ist beiderseitiger Natur, mit Hunden und neu erworbenen Autos geht mir das übrigens genau so.

Ich gebe zu: meine Begeisterung für Neugeborene, Kinder generell, ist begrenzt, für mich sind sie so etwas wie Wesen von einem anderen Stern, mit denen ich nicht so recht etwas anzufangen weiß. Das war schon immer so, auch als ich selbst noch ein Kind war. Wenn in der Verwandt- oder Nachbarschaft ein neuer Mensch die Bühne betrat, hielt ich mich stets in sicherer Entfernung, und das Gewese, welches um diesen Neuankömmling gemacht wurde, fand ich unangemessen, schließlich hatte er bislang noch nichts geleistet außer schreien und kacken. Na ja, viel mehr konnte ich auch nicht vorweisen.

Meine Kinderlosigkeit empfand und empfinde ich eher als Segen denn als Mangel, ich vermisse diesbezüglich absolut nichts. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht habe ich Angst, meine Kinder könnten so werden wie ich. Wobei, die Geschichte mit dem Töpfchen, der A-A und der mit der Zahnbürste braun angemalten Tapete haben sich meine Eltern bestimmt nur ausgedacht, um mich gelegentlich in schlechtes Licht zu rücken. Oder um von der Nichtexistenz des Weihnachtsmannes abzulenken.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Liebe Kinder, ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest mit vielen pädagogisch wertvollen Geschenken! Und wie das Kind in Marias Bauch kam, fragt euren Papa.

KW49 - 1 (3)

(Ursprünglich veröffentlicht hier.)

Woche 30: Kraft und Inspiration

kw30 - 1

Montag: Es ist so, ich kann es nicht ändern: Mit Fußball, Kindern, Hunden/Katzen und schnellen Autos kann ich absolut nichts anfangen. Jedes Mal, wenn eines dieser Themen Gegenstand des Gesprächs wird, zerquirlen die Worte des Gegenübers zu einem mir unverständlichen Brei, und lautes Rauschen des Desinteresses legt sich darüber.

Dienstag: Man mag es mir als Altersdiskriminierung zur Last legen, aber meiner Meinung nach sollte ein Mann spätestens ab fünfundvierzig auf Ohrringe und Flanking verzichten. Nasenpiercings sind indes unabhängig von Alter und Geschlecht scheiße.

Mittwoch: In Mali ist ein Bundeswehr-Hubschrauber abgestürzt. Ich möchte keinesfalls zynisch oder gehässig erscheinen, aber: Was hat ein Bundeswehr- Hubschrauber in Mali verloren?

Donnerstag: Manche Menschen müssen, wo immer sie sind, Dinge tun, die den Anschein geschäftiger Tätigkeit erwecken.

Freitag: Nach einem dreiviertelstündigen Fußmarsch ins Büro erscheint mir mein Tag- und somit Wochenwerk im Grunde genommen getan.

Samstag: Aus gegebenem Anlass bitte nochmals höflich aber bestimmt darum, davon Abstand zu nehmen, mir unaufgefordert Handyfotos unter die Nase zu halten, insbesondere wenn sie Katzen, Speisen oder Enkelchen zeigen.

Sonntag: „Querencia“ ist spanisch und bezeichnet einen Ort, an dem man sich sicher fühlt, aus dem man Kraft und Inspiration zieht. So wie mein Bett und unser Balkon. (aus: Einzigartige Wörter von David Tripolina)