Montag: Reisen machen mich nervös, sogar wenn andere sie tun. Morgens reiste der Liebste in die USA nach Atlanta, wo er bis nächste Woche beruflich zu tun hat. Was mich daran nervös machte war nicht die Angst vor einem Flugzeugunglück (obwohl er mit einer Boeing-Maschine flog), sondern die Anreise zum Flughafen Frankfurt, erst mit der Stadtbahn nach Siegburg, dann weiter mit dem ICE. Aufgrund persönlicher Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fand ich meine Sorge begründet, zumal er die spätest mögliche Stadtbahnverbindung wählte. Doch es lief alles zur Zufriedenheit, er kam gut und pünktlich an.
Der erste Arbeitstag im Mutterhaus nach viereinhalb Jahren Auslagerung verlief zufriedenstellend und weitgehend ohne Montäglichkeit. Auch das Gewusel auf dem Flur und in den Nebenbüros – nebenan telefonierte einer zu etwa achtzig Prozent seiner Arbeitszeit – störte mich weniger als befürchtet.
Blick aus meinem Büro über den Rheinauenpark auf das Siebengebirge
Beim Ausräumen meiner Schreibtischschubladen vergangene Woche fand ich eine noch fast volle Schachtel Altoids-Pfefferminzbonbons. Das freute mich ganz besonders, zumal mir schon vor längerer Zeit die örtlich Bezugsquelle abhanden gekommen ist. Vermutlich könnte ich sie beim großen A bestellen, doch bestelle ich dort aus grundsätzlicher Abneigung nichts; wenn es etwas nur beim großen A gibt, dann gibt es das für mich eben nicht.
Falls Sie die irgendwo sehen sollten, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar.
Am Samstag hatte ich bei einem Hersteller von Modellautos per Kontaktformular wegen Ersatzteilen angefragt, nachdem bei einem Omnibusmodell durch Unachtsamkeit ein Rückspiegel abgefallen und vermutlich im Staubsauger verschwunden war. Heute kam per Mail die Antwort: Gerne schicke man mir die gewünschten Teile, gegen Zusendung von Briefmarken im Wert von sieben Euro. Bis in die Neunzigerjahre eine durchaus gängige Zahlungsmethode, heute mutet sie ein wenig extravagant an.
Dienstag: Nach eisiger Nacht war der Rhein morgens in Nebel gehüllt, während abseits davon blauer Himmel das Auge erfreute; aus der Kranichperspektive wird das recht beeindruckend gewesen sein, sofern Kraniche auf so etwas achten. Da ein vernebelter Rhein nicht sehr oft zu sehen ist, erlaube ich mir heute eine gewisse Bildlastigkeit.
Am BrassertuferBlick auf Beuel, wenn es zu sehen wäreDas übliche Wochenbild, ohne Hintergrund..Der BundesgalgenWie man sieht beziehungsweise nicht, war auch das Mutterhaus dicht umhüllt
Auf dem Rückweg stillte ich im Rheinpavillon spontane Lust auf ein Arbeitsendegetränk, wobei diese schon morgens auf dem Hinweg erwachte, als die Gaststätte noch geschlossen war. Zudem wäre es bedenklich, bereits vor acht Uhr Bier zu trinken. Währenddessen fuhr auf dem Rhein ein kleines Segelboot mit erheblicher Schräglage vorüber, mal neigte es sich nach Back-, mal nach Steuerbord, stets ausgeglichen durch die beiden Insassen, die sich auf der jeweils anderen Bordseite weit nach außen lehnten. Für mich wäre das nichts, schon gar nicht bei der derzeit herrschenden Kälte.
Luv oder LeeSpäter kam eine alte Bekannte durch: Die Alisa, mit der wir im vergangenen Jahr auf dem Rhein kreuzfuhren
In der Fußgängerzone sah ich einen, der Passanten einen angeknitterten Pappbecher entgegen hielt und um Kleingeld anhielt. Kurz darauf begegnete mir ein anderer, ebenfalls mit einem Pappbecher in der Hand, nicht so knitterig wie der erste, gefüllt mit aufgecremtem Kaffee. Ich fragte mich, wie der wohl geschaut hätte, hätte ich dort Münzen eingeworfen.
Mittwoch: Wie ich erst nachmittags bemerkte, waren die beiden Umzugskartons aus dem alten Büro längst angeliefert, nur nicht wie darauf angegeben in mein neues Büro, sondern in einen Sammelraum den Gang runter, Servicewüste Deutschland. Egal, nach dem Auspacken und dekorativer Platzierung des Inhalts im Regal kommt eine gewisse Behaglichkeit auf, im Gegensatz zu den meisten anderen Büros ohne feste Bewohner.
Abends besuchte ich recht spontan eine Lesung, nachdem ich morgens durch die Zeitung darauf aufmerksam wurde. Sie fand statt in einer Kneipe unweit unserer Wohnung, die ich seit Jahren nicht mehr besucht hatte. Beim letzten Mal hieß sie noch anders und das Publikum war ein völlig anderes; soweit ich mich erinnere, hatten Damen keinen Zutritt. In den hinteren Räumen konnte Mann sich in einer Art und Weise vergnügen, die hier detailliert zu schildern womöglich gegen die Richtlinien des Bloganbieters verstößt.
Die Lesung (beziehungsweise der Poetry Slam, das Publikum stimmte per bei Gefallen hochgehaltener Fliegenklatsche ab), war unterhaltsam.
Auch die Fliesenbeschriftung über den Urinalen hat Niveau
Einer meiner Vorsätze lautet, nie wieder um die Wette zu lesen, nachdem ich bei einem ähnlichen Anlass vor Jahren grandios den letzten Platz belegt hatte. Dennoch habe ich mir heute einen Handzettel mit den nächsten Terminen und Kontaktdaten des Veranstalters eingesteckt, man soll niemals nie sagen.
Donnerstag: Aus terminlichen Gründen ließ es sich heute nicht vermeiden, die Kantine erst gegen zwölf aufzusuchen. Um diese Zeit ist der Andrang besonders groß, an manchen Tagen findet man dann kaum noch einen freien Platz. Ich hatte Glück und fand einen unbesetzten Zweiertisch, von wo aus ich gute Aussicht auf das hungrige Treiben hatte. Erkenntnis auch heute, wie kürzlich schon bemerkt: Das Platzproblem könnte deutlich gelindert werden, wenn die Leute nach dem Essen gehen würden, anstatt noch eine Viertelstunde und länger vor leer gegessenen Tellern sitzend zu quatschen.
Kennen Sie Gunkl? Sollten Sie. Er schreibt täglich tolle Sachen. Heute dieses:
Vermutlich bin ich nicht der erste, der sich überlegt, ob ein Feiertag fürs Universum, so er einmal eingeführt werden sollte, anders – jedenfalls glamouröser – benannt werden sollte als „Alltag“.
Tolles auch im General-Anzeiger:
Hier wäre wohl zunächst ein Kurs zu richtiges Schreiben angebracht.
Freitag: Resümee nach einer Woche Mutterhaus: Trotz permanentem Gemurmel aus den Nebenbüros fühle ich mich dort wieder wohl, die Sehnsucht zurück in die behagliche Ruhe des bisherigen Gebäudes ist gering. Die Aussicht auf das Siebengebirge entschädigt für vieles. Ein wenig gewöhnen muss ich mich noch daran, dass nebenan ständig die Kollegen wechseln. Ich bin einer der wenigen mit festem Arbeitsplatz, man kann sich das aussuchen: Entweder bis zu drei Tage in der Woche Heimbüro, dafür keinen festen Schreibtisch, oder jeden Tag ins Büro kommen. Da musste ich nicht lange überlegen. Auch der zweite Platz in meinem Büro ist flexibel belegt. In dieser Woche war nur zweimal wer da, beide waren sehr verträglich. Im Übrigen gilt, wie die geschätzte Mitbloggerin Frau Novemberregen schon vor einigen Wochen schrieb: Es ist ein Arbeitsplatz, keine Tagespflege.
Samstag: Der Frühling ist zurückgekehrt mit Sonnenschein und milder Luft. Das veranlasste mich am Nachmittag zu einem längeren Spaziergang nach Bonn-Auerberg. Nicht, weil das ein besonderes schöner Stadtteil wäre, eher im Gegenteil, die Auerberger mögen mir verzeihen, sondern weil mir wieder eingefallen war, vor längerer Zeit mal im Netz recherchiert zu haben, dass der dortige Rossmann Altoids-Bonbons im Sortiment hatte, siehe Montag. Leider nur hatte, jetzt hat er nicht mehr. Dafür immerhin ein ähnliches Produkt eines anderen Herstellers, ebenfalls in einer dekorativen Blechschachtel. Somit war der Gang nach Auerberg nicht vergeblich. Wobei ein Spaziergang ohnehin nie vergeblich ist, auch nicht nach Auerberg.
..Wahlkampf
Sonntag: Nach spätem Frühstück fuhr ich mit der Bahn nach Bonn-Duisdorf, um eine Modellbahnbörse zu besuchen. Damit war ich schnell durch, es war nichts Kauflust erregendes im Angebot, das ist nicht schlimm. Zurück ging es zu Fuß durch das Messdorfer Feld, damit war der Sonntagsspaziergang auch erledigt. Mehr gibt es über den Tag nicht zu berichten, das ist auch nicht schlimm.
Hier der zweite Teil meiner persönlichen Rückschau auf die Jahrzehnte. Nach den Siebzigern folgen die
Achtzigerjahre
Auch in den Achtzigern, vor allem der ersten Hälfte, galten wesentliche Teile meines Interesses der Eisenbahn. Die Bahnstrecke am Haus meiner Großeltern wurde bereits 1980 stillgelegt, wenig später die Gleise zwischen Göttingen und Dransfeld abgebaut. Aber es gab noch genug andere Strecken, nicht weit von meinem Elternhaus die Nebenbahn von Bielefeld nach Lemgo, der nun meine Aufmerksamkeit galt. Mein Freund U., genauso bahnverrückt, und ich lernten den Bundesbahner S. kennen, der im nahen Bahnhof Hillegossen als Fahrdienstleiter Dienst tat. Mit der Zeit freundeten wir uns mit ihm an, wir verbrachten oft ganze Nachmittage dort, duften in den Dienstraum, der dem niedrigen Bahnhofsgebäude vorgebaut war, was Bahnfremden normalerweise nicht gestattet war. Mehr als einmal erhielt S. deswegen einen Rüffel seines Chefs, wenn der aus Bielefeld zur regelmäßigen Dienstkontrolle erschien und wir nicht mehr rechtzeitig den Raum verlassen konnten.
Bahnhof Hillegossen, Blickrichtung Bielefeld
Wir durften sogar über die großen Hebel die Weichen und Signale bedienen, was für S. vermutlich ein Disziplinarverfahren nach sich gezogen hätte, wenn der Chef es mitbekommen hätte. Viel passieren konnte dabei nicht, durch uns wären wohl keine Züge entgleist oder zusammengestoßen, die alte Sicherungstechnik war sehr zu zuverlässig, außerdem achtete er darauf, dass wir alles richtig machten.
U. und ich bereisten viele Bahnstrecken, die von Bielefeld ausgehenden Nebenbahnen nach Lemgo, Osnabrück, Paderborn und Münster, aber auch Strecken weiter weg, vor allem wenn sie kurz vor der Stilllegung standen, einige auch am letzten Betriebstag vor der Betriebseinstellung; die Deutsche Bundesbahn legte in den Achtzigern sehr viele Strecken still. In den Sommerferien kauften wir uns ein Tramper-Monatsticket, mit dem man einen Monat lang innerhalb Deutschlands beliebig viel und weit mit der Bahn fahren konnte. Dabei bereisten wir so manche Strecke, die heute längst von der Karte verschwunden ist und deren Trasse allenfalls noch mit dem Fahrrad befahren werden kann.
Auch die Modelleisenbahn blieb eine meiner liebsten Beschäftigungen: In unserem Garten wuchs die L.G.B.-Bahn mit jedem Meter Gleis, den ich von meinem Taschengeld kaufen konnte, bis sie den Garten ganz umrundete, auch die Zahl der Loks und Wagen wuchs mit jedem Geburtstag und Weihnachten. Als mir mein Patenonkel zur Konfirmation den ersehnten Schienenbus schenkte, war alles andere um mich herum vergessen. Auf unserem Dachboden baute ich an einer großen HO-Bahn, die nach Fahrplan und Fahrdienstvorschrift der Bundesbahn fuhr, so wie wir es in Hillegossen gelernt hatten. Während des Bastelns lief im Radio auf WDR 2 die Sendung „Unterhaltung am Wochenende“, deren Höhepunkt stets die „Kleine Dachkammermusik“ von und mit Hermann Hoffmann war, der sämtliche Rollen – er selbst, seine Frau, Otto de Fries, Pankratius Schräuble, Herr Schlotterbeck und einige andere – sprach.
Schließlich wurde ich Mitglied im Verein Dampf-Kleinbahn Mühlenstroth, der bei Gütersloh eine schmalspurige Museumseisenbahn mit richtigen Dampfloks betrieb (und heute noch betreibt). Dort verbrachte ich jahrelang die meisten Wochenenden, arbeitete mich hoch vom Schaffner bis zum Lokführer. Selten war ich mehr mit Stolz erfüllt als an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal eigenverantwortlich eine Dampflok fahren durfte, auch wenn die Dampfkleinbahn nicht viel mehr war als ein großer Schienenkreis um eine Gaststätte, vergleichbar meiner L.G.B.-Bahn, nur im Maßstab 1 : 1.
Der stolze Junglokführer auf seinem Stahlross
Bei aller Bahnbegeisterung entging mir nicht, dass es auch außerhalb des Schienenkreises Interessantes zu erleben und entdecken gab, zum Beispiel im körperlich-zwischenmenschlichen Sektor. So brach langsam die Stimme um eine Oktave nach unten, wie bei den anderen Jungs auch, außer dem bedauernswerten J., der bis zum Abitur kindlich piepste.
Zudem begannen an diversen Stellen Haare zu wachsen, zunächst nur spärlich und im Vergleich zu manchem Mitschüler spät, wie eigene Recherchen in Form diskreter Seitenblicke in der Umkleide vor und nach dem Sport und Schwimmunterricht ergaben. Ich hasste den Schulsport mit zunehmendem Alter immer mehr, vor allem Mannschaftssportarten, insbesondere dann, wenn zur Unterscheidung meine Mannschaft mit freiem Oberkörper spielte. Wiesen andere Jungs bereits beachtliche Muskeln und breite Schultern auf, blieb bei mir zunächst alles schmal und mager. Im zwölften Schuljahr lag die Sportstunde gar im Nachmittag, das hieß, nur für Volley- oder Basketball musste ich nachmittags nochmal los. Absurderweise konnte man – im Gegensatz zu Mathe, Deutsch und Englisch – Sport erst nach dem ersten Halbjahr des dreizehnten Schuljahres abwählen. Zu meiner letzten Sportstunde brachte ich Sekt mit und überreichte dem Sportlehrer, der eigentlich ganz in Ordnung war, einen selbstgeschriebenen Antisporttext:
(Entstanden 1986)
Als ich an dem Tag die Sporthalle verließ, schwor ich mir, nie wieder freiwillig eine zu betreten. (Erst Ende der Neunziger begann ich wieder freiwillig mit Sport, Laufen. Ohne Bälle und Sieg, dafür im Sommer manchmal mit freiem Oberkörper.)
Auch in meinem Gesicht wuchsen zunehmend Haare, die irgendwann so zottig abstanden, dass regelmäßige Rasuren unvermeidbar wurden. Nur den Flaum über der Oberlippe verschonte ich aus unerfindlichen Gründen lange Zeit. Wenn schon keine Bizeps, dann wenigstens einen Bart.
Erstmals entwickelte ich so etwas wie Eitelkeit, jedenfalls meine Frisur betreffend. Bis ungefähr sechzehn war sie mir egal, ich ließ es wachsen, und wenn ich mal zum Friseur ging, sagte ich „nicht so kurz“. So ging es nicht weiter: Ich ließ die Haare kürzer schneiden und versuchte, sie in eine Form zu bringen, wie ich es bei anderen bewunderte, leider zumeist ohne Erfolg, da sie aufgrund einer natürlichen Welle einen schwer zu brechenden eigenen Willen aufwiesen. Auch diverse Produkte wie Gel und Brisk führten nur selten zum gewünschten Ergebnis. Erste sehr viel später wuchs sich dieses Problem aus.
VorherNachher
Ein weiteres körperliches Dauerhadern galt meinen Füßen, die aufgrund familiärer Vererbung sehr krumm und hässlich geraten waren, daher zeigte ich sie höchst ungern öffentlich, etwa in Schwimmbädern. Dass mein Bruder und die meisten Cousins und Cousinen ähnlich ausgestattet waren, tröstete mich nicht, wenn ich auf die makellosen Laufwerke meiner Mitschüler schaute. Zudem rochen sie sehr streng, was wohl daran lag, dass auch in den Achtzigern das tägliche Brausebad in unserem Haushalt noch unüblich war.
Weitere Möglichkeiten, die der eigene Körper bietet, kannte ich zunächst nur aus den begeisterten Berichten von Mitschüler F., mit dem ich kurz zuvor noch Fallgruben im Sandkasten gegraben hatte, und es dauerte noch etwas, bis auch ich selbst verstand, was er meinte. Er hatte nicht zu viel versprochen. Den erhöhten Verbrauch an Papiertaschentüchern versuchte ich so gut es ging vor den Eltern zu verbergen, ich weiß nicht, inwieweit es gelang.
Ab und zu kam es zu gegenseitigen Fummeleien mit anderen Jungs, was laut den Lebensberatungsseiten diverser Zeitschriften (Oma las die Freizeit-, Papa die Neue Revue; zur BRAVO hatte ich nur selten Zugang) in dem Alter ganz normal war und nichts zu bedeuten hatte bezüglich eventueller Präferenzen.
Auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht hatte sich seit der Grundschulzeit gewandelt. Mehrere Jungs (einschließlich F.) hatten auf einmal eine Freundin, und auf den Feten tanzten sie mit den Mädchen, wenige Jahre zuvor noch gleichsam andere Wesen, Klammerblues zu El Lute von Boney M. Auch in mir erwachte gewisses Interesse, vielleicht nur halbherzig, mindestens die andere Hälfte schlug immer noch für die Bahn, und das war nicht gerade etwas, womit man zarte Bande knüpfen konnte, nahm ich an. Außerdem, welches Mädchen wollte schon mit so einem mageren Hänfling wie mir etwas anfangen. Es gab durchaus ein paar Mädchen, derer näherer Bekanntschaft ich nicht abgeneigt gewesen wäre – A., die Tochter des Pfarrers unserer Gemeinde, später S. von meiner Schule und ein paar andere, auch wenn ich im Ernstfall nicht gewusst hätte, wie ich Bahn und Beziehung hätte vereinbaren können.
Daher trank ich auf den Feten lieber Alkohol, und das nicht zu knapp. Ab der Oberstufe feierte an fast jedem Wochenende irgendwer, ein wesentlicher Inhalt dieser Feten war es, möglichst viel Bier, Apfelkorn und andere fruchthaltige Spirituosen aus dem Hause Berentzen zu verzehren. Oder wir trafen uns zu viert bei R., der schon eine eigene Wohnung im Haus seiner Eltern hatte, wo wir uns mit Fünfliter-Partyfässern und Sekt die Zeit vertrieben. Mehr als einmal konnte ich mich am nächsten Tag nicht mehr an alle Details erinnern, vor allem wie ich nach Hause gekommen bin, während ich mich im Halbstundentakt bis in den Nachmittag hinein erbrach. „Geysirtag“ nannte ich diese Tage, an denen ich mir fest vornahm, künftig weniger zu trinken. Bis zum nächsten Wochenende. Gerne waren wir auch zu Gast beim Griechen kurz vor Oldentrup, wo wir fast in die Familie integriert waren und wo es selten bei nur einem Bier und einem Ouzo blieb.
Mit siebzehn begann ich mit dem Rauchen. Allerdings nicht Zigaretten, sondern Zigarillos. Das erschien mir zum einen etwas extravaganter, zum anderen glaubte ich, da man sie nicht inhalierte, wären sie weniger gesundheitsschädlich. (Erst mit vierzig stieg ich auf Zigaretten um, dazu kommen wir in den Zweitausendern.) In den Achtzigern war es selbstverständlich, auch in Gaststätten und Restaurants zu rauchen, wobei meine Zigarillos die Luft erheblich verpesteten.
Ein eher dunkles Kapitel war die Tanzschule, zu der ich von meinen Eltern gedrängt wurde, weil fast alle Freunde auch dorthin gingen. Jeden Samstag. Ich hasste es aus tiefstem Herzen, hatte weder Lust, ein Mädchen zum Tanzen auffordern, noch konnte und wollte ich die zu erlernenden Tanzschritte und Bewegungsabfolgen verinnerlichen. Das muss ziemlich komisch ausgesehen haben. Nach dem Grundkurs war damit Schluss für mich, die Freunde machten noch weiter. Am Abend des Abschlussballs beschloss ich, nie wieder eine Tanzschule zu betreten, wenige Wochen später trat ich dem Dampfkleinbahnverein bei, der mich fortan samstags gut beschäftigte.
Und dann war da noch dieser gewisse Punkt, der immer wieder aufleuchtete, anfangs nur schwach. Etwas heller strahlte er, wenn ich in der Schule P. sah, zwei Jahrgangsstufen unter mir, von dem etwas ausging, das mich in seltsamer Weise faszinierte und nicht sein konnte, nicht sein durfte. Auch nachmittags nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien ging er mir nicht aus dem Kopf. Was mochte er jetzt gerade tun? Hatte er eine Freundin? Welch unschöner Gedanke. Ich erhöhte meine Aktivität bei der Dampfkleinbahn.
Erst Jahre später, 1989, kam ich zu der Erkenntnis, dass meine Beziehung zum anderen Geschlecht allenfalls auf freundschaftlicher Basis fußen konnte, was weder Eltern noch Kollegen erfahren durften, am wenigsten mein Vater. Und noch viel später hatte ich zum ersten Mal einen Freund, das erzähle ich Ihnen in den Neunzigern.
Ich begann, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, bis heute. Zur Vermeidung unerwünschter Mitleser brachte ich mir selbst die deutsche Schreib- oder Sütterlinschrift bei, mit Hilfe des Mathebuchs. Es gab dort im Kapitel Vektorrechnung eine Gegenüberstellung aller Buchstaben in deutscher und arabischer Schreibweise, weil Vektoren mit deutschen Buchstaben bezeichnet werden. Schon damals hatte ich keine Ahnung, wozu man Vektorrechnung braucht, aber das galt ja für das meiste, was man auf dem Gymnasium lernen musste.
Neben dem Tagebuch schrieb ich auch andere kürzere Texte, siehe oben den Sporttext, inspiriert durch die Lektüre von Ephraim Kishon. Zunächst schrieb ich sie mit der Hand vor, dann tippte ich sie mit der Schreibmaschine ab. Da es noch kein Internet und Blog gab, machte ich damit nichts weiter und gab die Schreiberei bald wieder für längere Zeit auf.
Auch in modischer Hinsicht vollzog ich Mitte der Achtziger einen Wandel: Statt Jeans nur noch Baumwollhosen mit Bundfalte, bevorzugt in schwarz oder grau, dazu überwiegend schwarze Jacken und weiße Turnschuhe. Später wurde die Oberbekleidung zeittypisch bunter: Die Fernsehserie „Miami Vice“ inspirierte uns, nun Jacket mit Schulterpolstern zu tragen, gerne auch in bunt kariert. Erst viel später kaufte ich mir erstmals wieder Jeans.
Mit siebzehn begann ich, das Führen eines Kraftfahrzeuges zu erlernen. Dabei legte ich kein großes Geschick an den Tag, auf dem Fahrersitz fühlte ich mich nicht besonders wohl, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Die Nachricht vom Tod meines ersten Fahrlehrers kam überraschend, wobei ich jeden mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit meiner Fahrstunde, die wenige Stunden vor seinem Ableben stattgefunden hatte, ausschließe. Immerhin bestand ich die Führerscheinprüfung auf Anhieb, konnte mich jedoch nicht erinnern, jemals zuvor derart nervös gewesen zu sein wie am Tag der praktischen Prüfung. Und derart erleichtert, als mir der freundliche Herr vom TÜV den grauen Führerschein aushändigte, damals zurecht als „Lappen“ bezeichnet.
Führerscheinfoto
Die erste Praxis erfuhr ich mit dem Auto meiner Eltern, einem roten VW-Derby, der mit seinen sechzig PS ganz gut beschleunigte. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn alleine ohne väter- oder brüderliche Begleitung fahren durfte, von da an fuhr ich ihn sogar recht gerne. Ich mochte den Wagen sehr und es tat mir leid, als wir uns Jahre später trennten, weil er erheblich in die Jahre gekommen war und sein Motor nur noch widerwillig ansprang.
Mein roter Blitz
Nach dem Abitur, das ich ohne größere Anstrengung einigermaßen hinbekam, fiel ich in ein soziales Loch: Die Wege trennten sich, viele meiner Mitschüler und Freunde gingen zur Bundeswehr (die mir aufgrund glücklicher Umstände erspart blieb), machten Zivildienst oder verließen Bielefeld zum Studium oder zur Berufsausbildung. Und ich sah P. nicht mehr täglich, schlimmer: gar nicht mehr. Ab und zu, immer seltener gab noch mal einer eine Fete, wo man sich sah, aber das war nicht mehr dasselbe wie früher, weil die meisten über ihre Bundeswehrerlebnisse berichteten.
Im September nach dem Abitur begann ich die Ausbildung bei der Post. Mein Berufswunsch aufgrund eines schon frühen Sicherheitsbestrebens war Beamter, daher hatte ich mich zuvor bei mehreren Behörden beworben. Mein Wunsch-Arbeitgeber, die Bundesbahn, war leider nicht an einer Zusammenarbeit interessiert, daher freute ich mich sehr über die Zusage des anderen Staatsunternehmens, wenn auch zunächst nur in der mittleren Beamtenlaufbahn, durch mein Abitur hätte ich eigentlich Zugang zum gehobenen Dienst gehabt. Aber egal – ich fühlte mich bei der Post gut aufgehoben und identifizierte mich sehr mit dem Unternehmen: Die Dienstkleidung mit dem gelben Horn auf dem Ärmel trug ich gerne, und wenn ich irgendwo im kleinsten Dorf das gelbe, rot umrandete Behördenschild mit dem Bundesadler und dem Wort POST darunter sah, erfüllte es mich mit gewissem Stolz. Daran änderte sich nach bestandener Laufbahnprüfung nichts, trotz recht kargem Gehalt blieb ich Postler mit Leib und Seele.
Nicht nur in meiner kleinen, auch in der großen Welt fanden die Achtziger statt:
Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und blieb es für sehr lange Zeit. So bestimmte er nicht nur die Richtlinien der Politik, sondern nahm im Laufe der Jahre an Körpervolumen erheblich zu, was ihm den despektierlichen Beinamen „Birne“ einbrachte. Auch sonst versorgte er viele Kabarettisten zuverlässig mit Material für ihre Bühnenprogramme.
Ende April 1986 explodierte in Tschernobyl ein Atomreaktor. Mit Wind und Wolken erreichte die Katastrophe bald auch uns: Vor dem Verzehr von Wild und Pilzen wurde abgeraten, und sobald ein paar Regentropfen fielen, suchten wir schnell einen Unterstand als Schutz vor der Gefahr, die wir weder sehen noch riechen konnten.
Atomare Gefahr drohte auch in Form von Raketen und Bomben, mit denen sich USA und UdSSR gegenseitig ihre militärische Stärke versicherten, die allgemeine Angst vor dem alles auslöschenden Atomkrieg wuchs. Zur gleichen Zeit starben durch sauren Regen aufgrund zunehmender Umweltverschmutzung immer mehr Bäume, das Wort „Waldsterben“ wurde zu einem der großen Themen der Zeit. Hieraus entstand eine breite Friedens- und Umweltbewegung mit zum Teil skurrilen Erscheinungsformen. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis kleideten sich Männer plötzlich in farbigen Latzhosen und ließen sich Haare und Bärte lang wachsen. Und die Partei „Die Grünen“ zog in den Bundestag ein.
Kurz vor Ende der Achtziger lösten sich die DDR und der Ostblock auf, im November 1989 fiel die Berliner Mauer und kurz darauf die innerdeutsche Grenze. Noch heute bekomme ich feuchte Augen, wenn ich die Fernsehbilder vom Abend der Maueröffnung sehe, die unfassbare Freude in den Gesichtern der Menschen, die von einem Tag auf den anderen frei waren und reisen durften, wann und wohin sie wollten. Dass diese Wende nicht nur die von Helmut Kohl in Aussicht gestellten „blühenden Landschaften“, sondern auch zahlreiche Verlierer vor allem im Osten mit sich brachte, wurde erst später deutlich.
Ein Rückblick auf die Achtziger erfordert zwingend eine Betrachtung der damaligen Musik, von der Neuen Deutschen Welle bis Modern Talking. Zahlreiche Musikkassetten wurden gefüllt während verschiedener Hitparaden im Radio, immer mit der Hand am Aufnahmeknopf des Kassettenrekorders, bis der blöde Moderator ins Lied reinquatschte. Hier eine unvollständige Aufzählung der für mich bedeutendsten Interpreten, deren Musik ich heute noch gerne höre: Electric Light Orchestra, Pet Shop Boys, Nik Kershaw, Tears For Fears, Wham, Madonna, Duran Duran, A-ha, Traveling Wilburys.
Weiterhin ein kurzer Rückblick auf das Fernsehprogramm: Neben dem schon erwähnten Miami Vice schauten wir Dallas, Falcon Crest, Denver Clan, Der Fahnder (meine erste Begegnung mit Altoids-Pfefferminzbonbons), Alf, und Formel Eins, wo erstmals Musikvideos zu sehen waren.
Zum Schluss sei noch ein Gegenstand besungen, der wohl wie kaum etwas anderes als Symbol für die Achtziger steht: Rubiks Cube, der Zauberwürfel. Jeder musste ihn haben, deshalb war das Original bald ausverkauft. Für manchen war er eher ein Zauderwürfel, weil er ohne Anleitung kaum zu ordnen war, ohne ihn zu zerlegen und nach Farben wieder zusammenzusetzen. Nachdem der SPIEGEL eine Anleitung veröffentlicht hatte, konnte auch ich ihn lösen, bald auch ohne Anleitung. Ob ich das heute auch noch kann, muss ich mal ausprobieren, er liegt noch hinter mir im Regal.