Ein Inseltag

Vor zwei Wochen kam mir die spontane Idee, einen Tag frei zu nehmen, einfach so, ohne besonderen Zweck und Anlass; morgens im Bett zu bleiben, während die anderen arbeiten müssen. Das freut auch den Arbeitgeber, der mit sanftem Druck dazu motiviert, den Jahresurlaub noch in diesem Jahr komplett abzubauen, aus irgendwelchen bilanztechnischen Gründen, die ich nicht verstehe und die mir zudem vollkommen schnuppe sind. Dieser Tag war heute.

Gegen sieben in der Frühe weckte mich der Blasenwecker zur gewohnten Zeit, seinem Drang Folge leistend stand ich kurz auf, doch statt mich danach den üblichen morgendlichen Körperpflegeprozessen zu unterziehen, vergrub ich mich wieder in das noch nachtwarme Tuch, welch herrlicher Moment… Bald darauf erwachte der Wecker des Liebsten, ein sehr angenehmes Gerät, reißt er einen doch nicht mit einem nervschneidenden Piepton oder den größten Hits der Achtziger, Neunziger und dem Besten von heute aus den Träumen, sondern auf sehr schonende Art: Erst glimmt er kaum vernehmlich, dann wird er langsam heller, bis sein Licht das Dunkel der Nacht aus dem Schlafzimmer treibt, schließlich ertönt Singvogelgezwitscher. Ein Riesenfortschritt gegenüber dem mechanischen Glockenwecker, der nicht nur die ganze Zeit tickte, sondern zur Weckzeit einen gesundheitsgefährdenden Höllenlärm machte. Vermutlich sind diese Dinger heute verboten, weil sie Herzinfarkte und schlimmeres verursachen können. Heute wird ja alles verboten, was irgendwas verursachen könnte. Gut so. Bevor heute morgen jedoch die Vöglein ihr Lied anstimmen konnten, verließ der Liebste die Bettstatt, so etwas wie „Du hast es gut“ murmelnd, während ich dem nächsten Traum entgegen schlummerte.

Um neun Uhr war auch ich wach und bereit, das Bett zu verlassen. Da nichts mehr zu frühstücken im Kühlschrank war und ich ohnehin Lust dazu verspürte, suchte ich zum Frühstück ein Café auf. Nach kurzer Irritation, weil außer mir noch kein Gast zugegen war, wählte ich einen schönen Platz am Fenster, wo ich wunderbar die Menschen beim ihrem Tagwerk entgegen hetzen beobachten konnte. Das heißt, so richtige Hetze war nicht auszumachen, zumal es inzwischen schon halb elf war. Haben die Leute eigentlich nichts zu tun, dass sie an einem Donnerstagvormittag durch die Stadt bummeln können?

Da mir die vorgegeben Frühstücksvariationen in Cafés („Classic“, „Paris“, „Genießer“, „Rustikal“, „New York“ und wie sie alle heißen) meistens viel zu reichhaltig sind, alleine die Brötchen reichen oft für zwei bis drei Personen, und Lebensmittelvergeudung bekanntlich großes Unbehagen in mir auslöst, entschied ich mich für das „Frühstück Individuell“, wo ich selbst wähle, was und vor allem wie viel ich auf den Tisch bekomme (auch wenn das am Ende viel teurer ist als eine der oben genannten Zusammenstellungen): Brot – ja, ich bevorzuge frisches Brot gegenüber Brötchen -, Konfitüre und „Genussbelag“ nach Wahl. Genussbelag, was für eine Wortblähung für gewöhnlichen Aufschnitt. In meinem Fall Räucherlachs, wenn schon, dann richtig. Dazu eine Tasse Kaffee (einfach nur Kaffee – kein Cappuccino, Milchkaffe oder Latte Wasweißich – da bin und bleibe ich Spießer) und ein Glas Orangensaft.

Zu einem guten Frühstück gehört die Tageszeitung, die auch ich seit einiger Zeit nicht mehr aus Papier beziehe, sondern als Datei auf dem Tablet, was die Lektüre während des Essens doch sehr erleichtert. Man muss sich nur konsequent daran halten, mit rechts zu essen und links zu blättern, möchte man unschöne Schmierungen auf dem Display vermeiden: Südafrikanische Jägerverbände versuchen, nach dem bedauerlichen Tod des Löwen Cecil, erschossen durch einen amerikanischen Zahnarzt, die professionelle Großwildjagd wieder in einem positiven Licht erscheinen zu lassen, immerhin bringt diese perverse Passion einiger durchgeknallter Millionäre jährlich umgerechnet siebzig Millionen Euro ins Land. Die Ermordung eines Nashorns kostet siebzigtausend, ein Gemetzelsortiment (Löwe, Leopard, Büffel, Nashorn) bis zu hunderfünfundsiebzigtausend Euro, inklusive Unterbringung im Luxuscamp und Pirschfahrt im Geländewagen. Geradezu ein Schnäppchen ist dagegen die Impala-Antilope, welche für nur dreihundertfünfzig Euro abgeknallt werden darf. – Mehrere Apps ermöglichen es modernen Eltern von heute, ihre Brut online auf Schritt und Tritt zu überwachen: Ortung, Überwachung sozialer Netzwerke, Sperren unerwünschter Kontakte; dank des „Unsichtbar-Modus“ bemerkt das Kind die Kontrolle nicht. Ein anderer Anbieter wirbt für seine GPS-Kinderuhr: Ein „Geo-Zaun“ überwacht das kindliche Bewegungsfeld. Sobald das Kind einen bestimmten Radius überschreitet, erhalten die besorgten Eltern eine Meldung darüber. Dank eines eingebauten Sensors außerdem, wenn das Kind die Uhr ablegt. Schöne neue Welt, und der kleine Artikel 10 des Grundgesetzes möchte gerne aus der Klapsmühle abgeholt werden.

Nach dem Frühstück mit ausgiebiger Zeitungslektüre machte ich noch ein paar Besorgungen in der Stadt, bevor ich satt und rundum zufrieden nach Hause ging, wo ein paar kleinere häusliche Tätigkeiten auf mich warteten. Nach deren musikalisch begleiteter Erledigung setzte ich mich an den Schreibtisch und begann endlich meinen lang prokrastinierten Weltbestseller, der mir in einigen Jahren Ruhm und Reichtum bringen wird. Ich habe zwar noch keinen Plan, geschweige denn eine schlüssige Geschichte, aber das wird kommen, Sie werden noch von mir lesen, wenn sich die führenden Feuilletons vor Lob überschlagen.

Die Türklingel unterbrach meinen Schreibfluss, der Paketzusteller brachte zwei Pakete für die Nachbarn. Meine Frage, wie er mit der neuen Handscanner-Software klarkomme, beantwortete er leicht irritiert mit „Gut, gut, man kann damit arbeiten“. Na also.

Der Schreibfluss stockte nun, dafür kam der Appetit auf ein nachmittägliches Stück Kuchen. Also nochmal raus in des Nachmittages Milde, zum Bäcker, wo mich ein saftiges Stück Obstkuchen aus der Auslage geradezu anlächelte. Da nach dessen Verzehr der Schreibfluss immer noch auf sich warten ließ, entschied ich mich, in der Hoffnung auf Inspiration, zu laufen, dank guter Tagesform heute die große Runde über die Südbrücke. Es begann schon wieder zu dämmern, dennoch leuchtete das herbstliche Laub auf der rechten Rheinseite in wunderbaren Farben, vielleicht sollte ich am Sonntag eine kleine Radtour und Fotos machen, sofern es das Wetter und der Kater zulassen.

Ein Lauf wird erst richtig rund durch die Dusche danach, man fühlt sich zwar etwas erschöpft, aber glücklich und sauber. Zum krönenden Abschluss des Tages eine Flasche Bier, ein Kloster-Spezial aus Zwiefalten, Württemberg, köstlich. Die Mischung aus Laufen, Dusche und Klosterbier brachte schließlich auch den Schreibfluss zurück, zwar nicht an meinem Roman, aber immerhin hier.

Fazit des Tages: So ein Inseltag ist fast wie ein kleiner, komprimierter Urlaub. Sollte ich viel öfter machen.

Der CEO ist not amused

Die Lage ist ernst: Die Zahlen sind nicht zufriedenstellend. Das EBIT bleibt trotz wachsender Absätze hinter den Erwartungen zurück. Die Kosten explodieren. Die Märkte sind nervös. Der Wettbewerb schläft nicht. Der Aktienkurs enttäuscht die Stakeholder. Die Qualität sinkt. Wir müssen sparen, koste es, was es wolle. Der CEO ist not amused, so ist zu hören. Früher war das ein Privileg der Queen, etwa wenn ihr Enkel mal wieder über die Stränge schlug – heute wird das auch dem Manager zugestanden. Was nur wenig verwundert: C[beliebiger Buchstabe]O’s vor allem in großen Unternehmen wähnen sich unfehlbar, so wie der Papst, die Queen allemal, nahezu göttergleich. Deshalb wagt auch niemand, ihnen zu widersprechen, gar Kritik zu üben an ihren über jeden Zweifel erhabenen Entscheidungen – das käme einer Gotteslästerung gleich mit unabsehbaren Folgen für den Skeptiker. Dabei sind sie außerhalb ihres Unternehmens so bedeutend wie Monopoly-Geld an der Supermarktkasse.

Die C[X]O’s breiten sich aus wie die Schweinepest, für jeden Scheiß gibt es mittlerweile einen ‚Chief Wasweißich Officer‘. Wofür ich durchaus Verständnis aufbringe, „Bereichsleiter“ klingt dagegen bürokratisch-blutleer. Nur Vice Presidents gibt es noch mehr, nachdem zu recht erkannt wurde, dass „Abteilungsleiter“ so sexy klingt wie ein verstaubter Aktenordner. Aus nachvollziehbaren Gründen ist noch nicht ausreichend erforscht, wie viele junge Führungskräfte, die es geschafft haben, von einer namhaften Unternehmensberatung als Vice President in ein Unternehmen zu wechseln, welches von ebendieser Unternehmensberatung durchzogen ist wie ein gegen jedes Mittel resistenter Schimmelpilz, abends ob dieses Titels auf ihre Visitenkarte onanieren. Karrierewichser.

Ein Titel ist Schmuck und Imponierinstrument wie Pfauenfedern und Hirschgeweih: Hausmeister heißen heute Facility Manager. Wer denkt da noch an den knurrigen Typen, der uns damals zu Schulzeiten graublau bekittelt in den Pausen Milch verkaufte und ansonsten mit der ihm gegebenen Unfreundlichkeit begegnete. Warum auch nicht, sein Gehalt war ihm sicher, Kundenzufriedenheitsbefragungen gab es nicht, zumal der ‚interne Kunde‘ noch gar nicht erfunden war. In welch strahlendem Licht erscheint dagegen der Facility Manager: Statt murrend mit wehendem Kittel durch die Flure zu ziehen, wo defekte Leuchtstoffröhren ihrem Austausch entgegen flackern, sitzt er vor einer Wand voller Bildschirme, jeder widerrechtlich fallengelassene Kaffee-zum-Gehen-Becher, jede an unzulässiger Stelle entzündete Zigarette erzeugt einen blinkenden Punkt auf einem Monitor; heiser haucht er „Zugriff in Sektor 23B“ in ein Mikrofon, kurz darauf knüppelt eine Gruppe glatzköpfiger, dunkel bekleideter Herren mit Übergewicht und einem spiraligen Kopfhörerkabel am Hinterkopf auf den bedauernswerten Deliquenten ein.

Ja, VW hat Scheiße gebaut. Doch bin ich mir sicher, nicht nur VW. Und nicht nur Hersteller von Kraftfahrzeugen. VW hat einfach nur Pech gehabt, erwischt worden zu sein.

Freisprech

Wenn Ihnen früher jemand sprechend auf der Straße begegnete ohne erkennbaren Gesprächspartner in seiner Nähe, so war der Sprechende mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit Inhaber eines gewissen Dachschadens; man war gut beraten, die Straßenseite zu wechseln. Heute hingegen ist er zumeist Inhaber eines Freisprechkabels.

Als ich kürzlich auf dem Weg zum Zug durch den Bahnsteigtunnel des Hauptbahnhofs ging, hörte ich hinter mir jemanden „Hallo…“ rufen. Als gelegentlich höflicher Mensch drehte ich mich um und erblickte einen jungen Mann, der irgendwas mit „… Gleis 1…“ in meine Richtung sprach. „Gleis 1?“, entgegnete ich, noch immer höflich, „das ist gleich hier vorne die erste Trepp…“
„Isch telefoniere“, unterbrach er meine Hilfsbereitschaft und eilte die Treppe hoch, welche ihm zu weisen ich kurz zuvor beabsichtigte, weiter in sein weißes Kopfhörerkabel plappernd, das ich erst jetzt bemerkte. Peinlich berührt ging ich weiter meines Weges und ärgerte mich ein klein wenig meiner Sozialisation im Wählscheibenzeitalter.

Doch möchte ich keineswegs rückwärtsgewandt erscheinen. Denn Stillstand ist Rückschritt! Rückschritt ist der Tod! So oder ähnlich klingen die allgemein anerkannten und von der herrschenden Meinung für richtig befundenen Parolen unserer freiheitlich-kapitalistisch Grundordnung. Immer nach vorne, niemals zurück; vorwärts ist gut, rückwärts nur was für Verlierer.

Und doch bewundere ich Menschen, die mit einem LKW rückwärts einen Anhänger zielgenau bugsieren können. Überhaupt bewundere ich Menschen, die rückwärts fahren können, ohne größeren Schaden anzurichten. Andererseits glaube ich, dass Menschen, die behaupten, in der Bahn nicht gegen die Fahrtrichtung sitzen zu können, weil ihnen davon angeblich schlecht wird, sich ein bisschen anstellen.

Übrigens gibt es auch Freisprechkabelbesitzer mit Dachschaden, und das nicht wenige.