Freisprech

Wenn Ihnen früher jemand sprechend auf der Straße begegnete ohne erkennbaren Gesprächspartner in seiner Nähe, so war der Sprechende mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit Inhaber eines gewissen Dachschadens; man war gut beraten, die Straßenseite zu wechseln. Heute hingegen ist er zumeist Inhaber eines Freisprechkabels.

Als ich kürzlich auf dem Weg zum Zug durch den Bahnsteigtunnel des Hauptbahnhofs ging, hörte ich hinter mir jemanden „Hallo…“ rufen. Als gelegentlich höflicher Mensch drehte ich mich um und erblickte einen jungen Mann, der irgendwas mit „… Gleis 1…“ in meine Richtung sprach. „Gleis 1?“, entgegnete ich, noch immer höflich, „das ist gleich hier vorne die erste Trepp…“
„Isch telefoniere“, unterbrach er meine Hilfsbereitschaft und eilte die Treppe hoch, welche ihm zu weisen ich kurz zuvor beabsichtigte, weiter in sein weißes Kopfhörerkabel plappernd, das ich erst jetzt bemerkte. Peinlich berührt ging ich weiter meines Weges und ärgerte mich ein klein wenig meiner Sozialisation im Wählscheibenzeitalter.

Doch möchte ich keineswegs rückwärtsgewandt erscheinen. Denn Stillstand ist Rückschritt! Rückschritt ist der Tod! So oder ähnlich klingen die allgemein anerkannten und von der herrschenden Meinung für richtig befundenen Parolen unserer freiheitlich-kapitalistisch Grundordnung. Immer nach vorne, niemals zurück; vorwärts ist gut, rückwärts nur was für Verlierer.

Und doch bewundere ich Menschen, die mit einem LKW rückwärts einen Anhänger zielgenau bugsieren können. Überhaupt bewundere ich Menschen, die rückwärts fahren können, ohne größeren Schaden anzurichten. Andererseits glaube ich, dass Menschen, die behaupten, in der Bahn nicht gegen die Fahrtrichtung sitzen zu können, weil ihnen davon angeblich schlecht wird, sich ein bisschen anstellen.

Übrigens gibt es auch Freisprechkabelbesitzer mit Dachschaden, und das nicht wenige.

Ein Gedanke zu “Freisprech

  1. Anje Oktober 13, 2015 / 22:43

    „Gelegentlich höflich “
    Wie schön.
    Ich habe auch einen Westfalen zu Hause, ich weiß, was Sie meinen.
    Immer, wenn er seine Umgebung aktiv wahrnimmt, ist er wirklich höflich. Aber nur dann oder eben gelegentlich 🙂

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