Zwischenbilanz, Folge 9 – B wie Büsum

Meine älteste frühkindliche Erinnerung reicht zurück ins Alter von drei Jahren: unsere erste Urlaubsreise nach Büsum* an der Nordsee. Die Reise dorthin ging mit dem Zug, mein ständiger Begleiter war ein kleiner Koffer aus Pappe, in dem ich meine Spielsachen transportierte. In Büsum wohnten wir in Frau Spreizers Pension, die nach heutigen Maßstäben als eher einfach zu bezeichnen war (also die Pension, nicht Frau Spreizer): Unsere Räumlichkeiten bestanden aus einem größeren Zimmer, das im Wesentlichen von einem Ehebett ausgefüllt war; zu beiden Seiten des Zimmers gingen, jeweils durch Vorhänge abgetrennt, zwei nischenartige Seitenräume ab, in denen jeweils ein weiteres Bett stand, wo mein Bruder und ich schliefen. Toilette und Bad befanden sich außerhalb der Räume über den Flur, diese wurden vom gesamten Haus genutzt. Gefrühstückt wurde in einer sehr gemütlichen Glasveranda, die sich im Vorgarten des Hauses befand. Trotz des eher niedrigen Standards fühlten wir uns dort sehr wohl, so wohl, dass wir in den folgenden Jahren immer wieder bei Frau Spreizer wohnten. Ja, in den folgenden Jahren verbrachte unsere Familie den Sommerurlaub immer in Büsum, darüber gab es gar keine Diskussion. Erst später kam das > Allgäu als Urlaubsziel hinzu.

Hauptgrund, Urlaub in Büsum zu machen, war natürlich das Meer, die Nordsee. Die war allerdings oft nicht da, sondern hatte sich dem Tidehub folgend bis an den Horizont zurückgezogen und dadurch das Watt freigelegt, das nannte man Ebbe, wie mir erklärt wurde. In dieser zurückgezogenen Form war mir die Nordsee viel lieber als bei Flut, wenn das Wasser bis ans Ufer reichte: Darin zu baden war kein Vergnügen, es war furchtbar kalt, salzig, um die Füße krabbelte irgendwelches Getier, welches einen in den Zeh zwickten, und man musste auf Feuerquallen achten, die einem mit ihren langen Tentakeln heftige Schmerzen zufügen konnten. Dennoch fand ich Gefallen an Quallen, jedenfalls an den feuerlosen Sorten: die größeren Exemplare landeten in meinem Sandeimerchen, das dann eher einem Topf Tapetenkleister ähnelte; die ganz kleinen hingegen spießte ich schaschlikartig auf einen großen Federkiel auf.

Nach kürzester Zeit im Wasser begann ich zu frieren und wollte raus. Dann kam das Schlimmste: Ich wurde unter eine Süßwasserdusche gestellt, die noch kälter als das Meerwasser war, um das Salz abzuspülen. Grauenhaft. Danach wurde ich in Handtücher gehüllt und in den Strandkorb gesetzt, wo es so richtig langweilig wurde, denn im Gegensatz zu anderen Stränden gab es keinen Sand, mit dem ich mich Sandburgen bauend hätte beschäftigen können; der Büsumer Strand besteht im Wesentlichen aus der Seeseite des Deiches, also ungefähr fünf Millionen Strandkörbe im Gras.

Ein Höhepunkt des Büsumer Kulturlebens war der Auftritt der Wattenkapelle. Bei Ebbe marschierte sie mit zünftigen Klängen und von einer größeren Anzahl Touristen begleitet durch das Watt, bei Flut spielte sie auf einer überdachten Bühne an der Strandpromenade. Am meisten faszinierte mich die große Trommel, die einer der Musikanten vor seinem Bauch trug, um mit einem hammerartigen Schlägel im Takt darauf einzudreschen. Ich habe sogar noch eine Schallplatte dieser lustigen Truppe!

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Eine Erwähnung wert sind auch die Büsumer Krabben, die die gleichnamigen Fischer mit ihren Kuttern aus der Nordsee holen. Am besten schmecken sie direkt vom Kutter im Hafen gekauft und selbst gepult. Das bedarf zunächst ein wenig Übung, ist aber im Grunde genommen ganz einfach: beide Enden kurz gegeneinander verdrehen, den hinteren Panzer abziehen, schon kann man das schmackhafte Fleisch heraus zupfen.

Apropos Krabbenfischer: ich musste auch ein original Finkenwerder Fischerhemd haben, das ich nur noch ungern ablegte. Es war mir ein Bedürfnis, mich bekleidungsmäßig den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen (siehe auch >Allgäu).

Irgendwie war es schön, und ich freute mich immer auf den nächsten Urlaub in Büsum, trotz des kalten Wassers und der Langeweile im Strandkorb. Meine Eltern fahren noch heute jedes Jahr mindestens einmal dorthin (allerdings nicht mehr zu Frau Spreizer, das Haus gibt es schon lange nicht mehr). Vor ein paar Jahren habe ich sie dort für ein paar Tage besucht; trotz vieler baulicher Veränderungen war es im Wesentlichen noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Und mir war rätselhaft, was mir hier früher so gefallen hatte.

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* Entgegen einer anscheinend weit verbreiteten Annahme macht man übrigens Urlaub in und nicht auf Büsum. Auch wenn es ähnlich klingt wie Borkum oder Baltrum, handelt es sich nicht um eine Insel, zumal Borkum und Baltrum zu Ostfriesland gehören, Büsum hingegen in Dithmarschen, kurz vor Nordfriesland liegt. Ein Blick in die Karte hilft manchmal.

Zwischenbilanz, Folge 8 – B wie Bundeswehr

Die Bundeswehr und ihr oberster Soldat, Herr von und zu Dings, Sie wissen schon, der mit der Frisur, stehen ja dieser Tage ganz hoch im öffentlichen Interesse. Dieser Tatsache ist der folgende Beitrag gewidmet.

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1980 rief Firma Ypsilon meinen großen Bruder nach Goslar in den Harz. Dort unterhielt die Luftwaffe einen so genannten Fliegerhorst. Warum, weiß ich nicht, denn es gab hier weder einen Flughafen noch Flugzeuge; und ob überdurchschnittlich viele Goslarer Horst heißen, entzieht sich auch meiner Kenntnis. Wie auch immer, offenbar gefiel es meinem Bruder dort sehr gut, denn er verpflichtete sich für zwölf Jahre bei den Fliegern ohne Flügel, zudem wohnt er noch heute in Goslar.

Meine Bundeswehr-Karriere war kürzer, oder besser gesagt, es gab gar keine. Im Frühjahr 1986 wurde ich gemustert (T3, irgendwas mit dem Rücken), im Herbst desselben Jahres trat ich meine erste Ausbildung an. Dann rief das Vaterland nach mir. Diesem Ruf brauchte ich wegen meiner Ausbildung freundlicherweise jedoch zunächst nicht zu folgen. 1990 folgte der zweite Ruf. Leider kam mir auch dieser sehr ungelegen, da ich mich mittlerweile erneut in Ausbildung befand. Zähneknirschend und nach längerem Schriftwechsel zwischen meinem Arbeitgeber und dem Kreiswehrersatzamt (welch wunderbares Wort) wurde mir zugestanden, das Erlernen der Kriegskunst bis nach Beendigung der zweiten Ausbildung aufzuschieben. Danach verlor man offenbar das Interesse an mir.

Ohnehin fand ich die Bundeswehrgeschichten meiner Altersgenossen nach dem Abitur sterbenslangweilig, ich vermute daher, dass ich nichts Wesentliches verpasst habe.

Zwischenbilanz, Folge 7 – B wie Bonn

Im Jahre 1998 verschlug es mich, dem Ruf meines Arbeitgebers folgend, nach Bonn. Ich liebe diese Stadt, und es war Liebe auf den ersten Blick: die wunderschöne Bausubstanz insbesondere der Bonner Südstadt (wo ich auch zeitweise wohnte, wenn auch nicht ganz so wunderschön), der Rhein und das Klima: Es ist fast immer ein paar Grad wärmer als im heimatlichen Ostwestfalen, was mir sehr entgegen kommt.

Ich wurde häufig gefragt, ob in Bonn überhaupt noch was los sei, jetzt, da die große Politik in Berlin gemacht wird. Ja, hier ist immer noch genug los, sicherlich nicht weniger als vorher, als die Damen und Herren Politiker noch hier ihrem Tagwerk nachgingen, dafür sorgen die Ministerien beziehungsweise deren Außenstellen, die noch heute in Bonn ansässig sind, zahlreiche Bundesbehörden, und vor allem große bekannte Firmen, unter anderem die mit den Gummibärchen, die gelbe und die mit dem „T“, die ihren Sitz in Bonn haben.

Bonn muss sich einen gewissen provinziellen Ruf gefallen lassen. Ich kann das nicht bestätigen (wie auch, wenn man aus Bielefeld kommt), im Gegenteil, ich empfinde es nicht als Nachteil, dass man sehr viel zu Fuß erreichen kann. Ansonsten, wem es hier zu langweilig ist, für den ist Köln ja nicht weit.

Es mag übertrieben klingen und es gibt ja auch nur mein persönlich-subjektives Empfinden wieder, aber zurzeit kann ich mir keinen schöneren Ort zum Leben vorstellen als Bonn, habe allerdings großes Verständnis dafür, wenn andere genau das auch von i h r e r Stadt behaupten. Gut, vielleicht nicht gerade bei Bielefeld

Zwischenbilanz, Folge 6 – B wie Bielefeld

Böse Zungen sowie ganze Internet-Foren behaupten, Bielefeld gäbe es überhaupt nicht. Gut, die Welt wäre insgesamt nicht unbedingt ärmer, wenn das stimmte, dennoch muss ich dieser Behauptung vehement widersprechen: Es gibt Bielefeld, ich bin dort geboren, aufgewachsen und habe dort bis zu meinem zweiunddreißigsten Lebensjahr gelebt. Wem das als Beweis nicht genügt, dem sei eine Reise in die ostwestfälische Metropole empfohlen. Es gibt zwar zweifellos interessantere und schönere Städte, aber andererseits aus wesentlich hässlichere. Lassen Sie sich vom ersten Eindruck nicht täuschen, sondern gehen sie hinauf zur Sparrenburg, von wo aus man einen schönen Blick auf die Stadt hat. Und seh´n wir uns nicht in dieser Welt, so seh´n wir uns in Bielefeld.

Zu der Schönheit von Bielefeld-Stieghorst, meiner Heimat, äußerte ich mich ja schon.

Zwischenbilanz, Folge 5 – B wie Beatles

Im Februar 1967 erblickte ich das Licht der Welt im St. Franziskus-Hospital zu > Bielefeld, welches im Allgemeinen auch Klösterchen genannt wird (das Hospital, nicht Bielefeld). Es liegt in der Natur der Sache, dass meine persönlichen Erinnerungen an dieses Ereignis nicht nennenswert sind; dem Vernehmen nach soll es, kurz bevor für mich das Licht anging, noch zu einer dramatischen Wendung gekommen sein: Ich weiß nicht mehr genau, was meine wahren Beweggründe waren, kurz vor dem freudigen Ereignis drehte ich mich im Mutterleib, was dazu führte, dass ich per Kaiserschnitt ins Diesseits geholt werden musste. Ich möchte betonen, dass derartige Renitenz grundsätzlich nicht meiner Natur entspricht und dass ich auf Sonderbehandlungen aller Art normalerweise keinen gesteigerten Wert lege. Jedenfalls hatte ich gleich zu Beginn einen dramatischen Auftritt. Ob ich ein hübsches Kind war, mögen andere beurteilen, ich kam mit schwarzen Haaren auf meinem zerknautschten Babyköpfchen ans Licht, was den behandelnden Arzt zu der Aussage „jetzt kommen sogar schon Beatles zur Welt“ bewegt haben soll.

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Wie ich später erfuhr, handelte es sich bei den Beatles um eine recht erfolgreiche Band, die sich ungefähr zum Zeitpunkt meiner Geburt in Auflösung begriff. Einen direkten oder indirekten Zusammenhang weise ich weit von mir. (Wäre ich tatsächlich, wie der Arzt gesagt hatte, ein Beatle geworden, dann wäre diese Geschichte längst geschrieben und millionenfach verkauft worden.)

Zwischenbilanz, Folge 4 – A wie Anke

Anke B. war die Nachbarstochter und die Antwort auf die von irgendwelchen Onkeln, Tanten und sonstigen Verwandten und Bekannten so häufig in dümmlichem Ton vorgetragene Frage „Na, hast du denn schon eine kleine Freundin?“, welche ich dann stets in meiner frühkindlichen Naivität mit ja beantwortete. Rückblickend war Anke vermutlich überhaupt meine einzige Freundin. Na gut, vielleicht noch Mechthild, Nachbarstochter 2. Grades. Aber so ab dem sechsten Lebensjahr fing dann auch ich an, wie die meisten meiner Altersgenossen Mädchen grundsätzlich doof zu finden. Daran hat sich prinzipiell dann nicht mehr viel geändert.

Das folgende Bild zeigt Anke und mich in frühester Jugend auf dem Rasen unseres Reihenhausgartens sitzend. Ich bin übrigens das Mädchen mit dem Ball links.
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Zwischenbilanz, Folge 3 – A wie Altoids

Sie kennen Altoids* nicht? Das sind wohlschmeckende Pfefferminzbonbons aus Groß Brittannien in einer äußerst eleganten Blechschachtel in rot-weißem Design. Der erste mir bekannte Mensch, der sie in größeren Mengen verzehrte, war der Fahnder Faber, den Klaus Wennemann in den > Achtziger Jahren in der gleichnamigen Vorabendserie verkörperte. Irgendwie fand ich es cool (eigentlich lehne ich dieses Wort ab, aber in diesem Falle passt es hundertprozentig), dass er bei jeder Gelegenheit, selbst wenn er gerade mit seinem giftgrünen Ford einen Schurken verfolgte, die Schachtel aus der Jackentasche zog, anstatt sich eine Zigarette anzuzünden, wie es wohl die meisten seiner Kollegen taten. In dieser Hinsicht war der Fahnder also ein echtes Vorbild für die Jugend. Da ich die Bonbons nur aus dieser Fernsehserie kannte, glaubte ich, die gäbe es gar nicht zu kaufen, vielmehr hätte man sie extra für den Fahnder kreiert. Bestärkt wurde ich in dieser Vermutung dadurch, dass es die Bonbons in der rot-weißen Blechschachtel nirgendwo zu kaufen gab. Da ich jedoch genau so cool (um das Wort noch ein letztes Mal zu gebrauchen, wie gesagt, hier passt es) sein wollte wie Faber, der Fahnder, griff ich auf die bekannten Fisherman´s Friends zurück, für die es ebenfalls eine Blechschachtel gab, die ich fortan bei jeder Gelegenheit c… nein, lässig aus meiner Jackentasche zog, um meinen Atem aufzufrischen.

Dann geschah das unfassbare: In einem Laden auf dem Frankfurter Flughafen entdeckte ich die bekannte rot-weiße Blechschachtel, die ich natürlich sofort erstand. Es gab sie also doch! Man musste nur etwas länger suchen, es gibt sie eben nicht in jeder Süßwarenabteilung. Inzwischen habe ich jedoch eine verlässliche Bezugsquelle gefunden und immer einen angemessenen Vorrat im Haus.

In den 1990er-Jahren machte der Hersteller einen wie ich finde großen Fehler: Das Design der Blechschachtel wurde geändert vom zugegeben etwas altbackenem rot-weiß in ein modernes Alu. Ich empfand die neue Verpackung als in höchstem Maße unästhetisch und machte mir fortan die Mühe, die Bonbons in die alte Schachtel umzupacken. Vor ein paar Jahren hat man den Fehler jedoch offenbar erkannt und weitgehend rückgängig gemacht, jetzt ist die Schachtel wieder rot-weiß. Alles wird gut.

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* Selbstverständlich liegt es mir fern, in irgendeiner Weise Produktwerbung zu betreiben. Daher weise ich darauf hin, dass vergleichbare Produkte (zum Beispiel die erwähnten Fisherman´s Friends oder die bekannten Tic Tac) sicherlich genau so cool sind.

Zwischenbilanz, Folge 2 – A wie Allgäu

Allgäu

Nachdem das sommerliche Urlaubsziel meiner Familie jahrelang Büsum an der Nordsee gewesen war (dazu komme ich später noch, wenn B dran ist), erfolgte Mitte der 1970er Jahre die große Abwechslung in Form eines neuen Urlaubszieles: Martinszell im Allgäu. Dabei ist der Begriff Abwechslung durchaus wörtlich zu nehmen, denn fortan hieß unser Urlaubsort im festen jährlichen Wechsel Büsum, Martinszell, Büsum, Martinszell, und so weiter. Dort, also in Martinszell, Ortsteil Oberdorf, war es durchaus nicht schlecht. Wir wohnten stets auf einem Bauernhof am Ortsrand, wobei wir sehr schnell Anschluss an die den Hof mit Fremdenzimmer betreibende Familie fanden, wirklich überaus nette Leute: Der Altbauer mit seiner Frau, der Bauer und seine Frau (welche die Tochter des Altbauern und seiner Frau war), sowie die kleine Tochter des Bauernpaares, welcher im Laufe der Jahre noch zwei Schwestern und zwei Brüder folgten; die Fruchtbarkeit dieses Hauses fand ihren Niederschlag offenbar nicht nur darin, dass der Dorfbulle zur Belegschaft des Stalles gehörte, siehe auch unten Bild 2.

Hinzu kam der Bruder des Altbauern, der meinem Bruder und mir von Anfang an sehr unheimlich war. Auf dem Hof nahm er die Funktion eines Knechtes wahr (darf man das schreiben, oder gibt es dafür eine offizielle Berufsbezeichnung, zum Beispiel Hilfskraft in der Landwirtschaft?) und er war, um es gelinde auszudrücken, geistig etwas zurück geblieben, möglicherweise als Folge des innerhalb einer derart kleinen Besiedlung eher bescheidenen Genpools, was dazu führte, dass er schon mal mit der Mistgabel hinter den Kindern des Dorfes her rannte, was aber meines Wissens niemals zu ernsthaften Verletzungen führte.

Bei unserer ersten Ankunft betraten wir das Haus mit einer gewissen Skepsis: Von jenseits der Türschwelle kam uns jener Duft entgegen, der im Grunde genommen für das ganze Allgäu charakteristisch ist und der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Hauptgegenstand der Allgäuer Landwirtschaft, nämlich der Rinderhaltung, steht, wodurch ich mich in kindlicher Unbekümmertheit und ungehindert von jeglicher falscher Hemmung zu der auch für unsere Bäuerin unüberhörbaren Feststellung „“Puh, hier stinkt es aber““ hinreißen ließ, was meine Mutter veranlasste, der Bäuerin einen peinlich-entschuldigenden Blick zuzuwerfen, wenngleich ich genau das gesagt hatte, was alle, meine Mutter, mein Vater und mein Bruder, dachten. Zur Ehrenrettung 1. des Allgäus im Allgemeinen und 2. unserer Unterkunft im Besonderen muss ich dazu sagen, dass dieser Geruch zum Allgäu gehört wie der Fischgeruch zum Büsumer Hafen, und dass er, vermischt mit dem Duft frisch gemachten Heues, in keiner Weise unangenehm ist. Zudem waren unsere Zimmer und überhaupt das Dachgeschoss, in welchem wir untergebracht waren, weitgehend frei davon.

Mein Bruder, von jeher etwas praktischer veranlagt als ich, war dort sofort in seinem Element. Wie er es vom Rischenkrug (kommt viel später) nicht anders gewohnt war, stürzte er sich umgehend in die landwirtschaftliche Arbeit, die ihm stets große Freude bereitete, und so war er nach kurzer Zeit voll in den familiären Betrieb integriert. Ich dagegen verbrachte, meinem zarten Alter angemessen, viel Zeit mit den Kindern der anderen Touristen, die auf unserem Hof untergekommen waren, wobei wir stets aufpassten, dass wir dem unheimlichen Altbauernbruder nicht zu nahe kamen.

Etwas Schwierigkeiten bereitete mir die Sprache der Eingeborenen. Zum einen belustigte es mich, dass sie an ungefähr jedes vierte Wort die schwäbische Nachsilbe –-le anfügten, zum anderen irritierte es mich, dass „st“ immer und ausnahmslos wie „scht“ ausgesprochen wurde. Als mich die Altbäuerin fragte „“Wie heischt du““ verstand ich nicht, was sie von mir wollte. „“Na wie du heischt““, wiederholte sie, woraufhin ich hilflos meine Mutter ansah, die übersetzte, und ich schließlich meinen Namen sagte. „“Ach Carschten!“,“ sagte sie darauf erfreut. Von da an hatte ich das Prinzip verstanden. Man muss den Eingeborenen zu Gute halten, dass sie sich sehr bemühten, mit uns hochdeutsch zu sprechen, was eine Kommunikation auch ohne größere Schwierigkeiten ermöglichte. Wenn sie jedoch untereinander sprachen, entsprach der Informationsinhalt, der bei mir ankam, ungefähr dem, wie wenn sich drei Chinesen miteinander unterhalten hätten, mit oder ohne Kontrabass.

Unser Bauer und seine Frau waren Mitglieder in der örtlichen Trachtengruppe. So kam es, dass wir dem nächsten „Heimatabend“ (das hieß wirklich so und hatte keinerlei bräunlich-bitteren Beigeschmack) beiwohnen durften, wo die landestypische Folklore, vornehmlich das Schuhplatteln, aufgeführt wurde. Hiervon war ich dermaßen beeindruckt, dass ich mich fortan auch der Region gemäß kleiden wollte. Eine kurze Lederhose (die mit dem herunterklappbaren Hosenstall und dem Plastik-Edelweiß auf der Querstrebe zwischen den beiden Hosenträgern) hatte ich schon; die hatte damals jeder Junge in meinem Alter zwischen Lindholm* und Lindau. Ein weißes Hemd war auch im Gepäck, fehlte nur noch ein grünes Hütchen, welches (aus Stroh, nicht aus Filz) mir meine Eltern in einem örtlichen Andenkenladen (dort, wo es auch in rauhen Mengen und allen denkbaren Formen Enzianschnaps, Wanderstöcke und Wetterhäuschen gab) kauften. Von da an lief ich herum wie der Seppel aus Räuber Hotzenplotz.

Mein Bruder und ich waren stets in einem Dachzimmer untergebracht, von dessen Fenster man einen wunderbaren Blick auf die nahen Berge hatte, und, was mich schon damals sehr freute, auf die Bahnstrecke Kempten – Immenstadt. Meine Begeisterung für die Eisenbahn (dazu komme ich später auch noch) war damals schon sehr ausgeprägt. Diese Begeisterung trieb mich jedes Mal, wenn aus der Ferne das tiefe Brummen einer Diesellok zu vernehmen war, an das Dachfenster, um der Zugbeobachtung zu frönen. Das musste einfach sein, selbst wenn es schon dunkel war und ich von dem Zug nur noch das Lampendreieck der Lok und das beleuchtete Fensterband der Waggons erkennen konnte.

Der letzte gemeinsame Allgäu-Urlaub (schon ohne meinen großen Bruder) war 1984, danach fühlte auch ich mich dem Alter gemeinsamer Familienurlaube entwachsen. Ich habe mich dort immer sehr wohl gefühlt, obwohl dort wirklich nix los war (außer dem Heimatabend, siehe oben). Doch wenn ich heute sagen sollte, was dort so schön war – ich wüsste es nicht. Zumindest halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich, dass mein Urlaubsziel irgendwann noch mal Martinszell im Allgäu heißen wird. Aber wer wei߅

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Bild 1 – Schon damals hatte ich Schlag bei den Frauen.

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Bild 2 – Ab und zu gab es richtig was zu sehen.

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* Lindholm, ca. 3.600 Einwohner, liegt in Schleswig-Holstein in der Nähe von Niebüll. Ich hätte natürlich auch schreiben können „zwischen Flensburg und Freilassing“.

Zwischenbilanz, Folge 1 – A wie Achtziger Jahre

Achtziger Jahre

Die achtziger Jahre waren im Grunde genommen meine Zeit, die Zeit meiner Jugend, der ersten Gefühlsverwirrungen, der ersten großen (unverstandenen) Liebe, des Abiturs, der merkwürdigen Frisuren und Bekleidung, der Entdeckung des Alkohols, des Einstiegs in das Berufsleben, der Selbstfindung… und der besten Musik aller Zeiten, und darüber wünsche ich keine Diskussion!

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(Foto: H.-U. Schwanke)

Zwischenbilanz – Das Vorwort

Vorbemerkung

Viele bedeutende Personen der Zeitgeschichte haben ihre so genannten Memoiren zu Papier gebracht und damit ihr bewegtes und bewegendes Leben einem breiten Publikum zugänglich gemacht: Boris Becker, Dieter Bohlen, um nur zwei herausragende Beispiele beim Namen zu nennen. Auch ein gewisser Daniel Küblböck soll sich schon mit dem Gedanken getragen haben; ob er es in die Tat umgesetzt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Gut, ob die genannten Personen die Chronik ihrer Lebensgeschichte wirklich immer selbst formuliert haben, mag man in dem einen oder anderen Fall vielleicht in Frage stellen, doch Tatsache ist, dass das öffentliche Interesse an solchen Offenbarungen ungebrochen hoch ist. Die Beweggründe der Schreibenden und vor allem die der Lesenden mögen dabei äußerst unterschiedlich sein, über welche zu spekulieren mir an dieser Stelle als zu weit gehend erscheint, zumal ich, wie ich zugeben muss, bislang noch keines dieser Werke gelesen habe. Aber andere tun es, und das nicht zu knapp, wie die Verkaufszahlen eindrucksvoll belegen.

Was hat das nun mit mir zu tun? Nun, irgendwann, ich glaube es war während einer längeren Zugfahrt, vielleicht auch während einer gähnend langweiligen Besprechung, sagte ich mir: Was die können, kannst du auch! Natürlich war mein zweiter Gedanke sofort: Warum sollte ich das tun, für wen, wen interessiert das? Schließlich bin ich – im Gegensatz zu den oben genannten Personen – bis zum jetzigen Zeitpunkt keine bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Interesses, jedenfalls nicht, dass ich wüsste, weder habe ich bedeutende Taten vollbracht, welche die Menschheit entscheidend weitergebracht hätten, noch ist es mir bislang gelungen (und ich habe es zugegebenermaßen auch noch nicht ernsthaft angestrebt), das Interesse der breiten Allgemeinheit auf mich zu lenken, kurz, wenn es einen gibt, der keinen triftigen Grund hat, seine persönlichen Erinnerungen in die Deckel eines Buches zu pressen, jedenfalls wenn man als Legitimation dafür eine gewisse Prominenz zu Grunde legt, dann bin ich das. Umso mehr reizte es mich, es trotzdem zu tun, also nicht direkt in Form eines papiernen Druckwerkes, sondern hier, wo es keiner liest und wo es andererseits auch nicht so schmerzt, wenn sich das Buch nicht verkauft.

Aus gutem Grund nenne ich das ganze nicht Memoiren, weil das so lebensabendlich klingt; da ich mich indes eher in der Blüte meiner Jahre sehe, nenne ich das ganze Zwischenbilanz. Einerseits erweckt dieses Wort keine allzu großen Erwartungen, zum anderen drückt sich hierin eine gewisse Hoffnung aus, dass noch was kommt.

Der Einfachheit halber erfolgt die Darstellung meiner Geschichte(n) nicht chronologisch, also etwa von meiner Geburt bis heute, sondern in annähernd alphabetischer Reihenfolge. Dies erleichtert es dem geneigten Leser, sich die Themen heraus zu suchen, die ihn wirklich interessieren; eher unbedeutende Aspekte hingegen kann er bequem ignorieren.