Montag: Der vergangene Wochenrückblick zog ungewöhnlich viele freundliche Kommentare nach sich, dabei fand ich den gar nicht so dolle. Vielen Dank dafür. Manchmal, um nicht zu schreiben öfter, ist es umgekehrt, dann denke ich: Jetzt hast du aber mal richtig einen rausgehauen, und dann kommt fast nichts. Keine Klage, nur Feststellung.
Ansonsten bot der Wochenbeginn keinen Grund zur Klage (oder es war ein ganz okayer Start, wie manche zu schreiben keine Hemmungen haben, auch das an Grässlichkeit kaum noch zu steigernde Wort okayisch hörte ich in diesem Zusammenhang schon), dafür auch wenig Berichtenswertes.
Es wird nicht passieren, aber lustig wäre es schon, wenn eine höchstpotente künstliche Intelligenz nach Abschätzung möglicher Ergebnisse beschließt, daß Krieg einfach blöd ist, und unter unautorisiertem Zugriff auf die Steuerelektronik aller Waffensysteme alles Kriegsmaterial unbrauchbar macht und so Weltfrieden herbeiführt, weil das einfach intelligenter ist, als Krieg zu führen.
Dialog des Tages: „Ich war in Sorge.“ – „Musst du nicht, ich bleibe bei dir.“ – „Das ist ja meine Sorge.“ So geht Liebe.
Dienstag: Gestern brachte ich meine Freude über zahlreiche Kommentare zum Blogbeitrag letzter Woche zum Ausdruck, heute freute ich mich sehr über einen Brief von jemandem, der meinen Ausführungen bei mehreren Lesungen lauschte. Angereichert war das Schreiben mit dem Gedicht „Wenn die Möpse Schnäpse trinken“ von James Krüss, das so endet:
Wenn an Stangen Schlangen hangen / Wenn der Biber Fiber kriegt,
Dann entsteht zwar ein Gedicht, aber sinnvoll ist es nicht.
Weiterhin beigefügt war eine Stilblüte der Kategorie Manager-Gequatsche und das Bild einer Skulptur von Asier Sanz. Lieber F., herzlichen Dank dafür! Eine angemessene briefliche Antwort folgt.
Der Schreiber bloggt übrigens auch, nämlich hier, schauen Sie mal rein, es lohnt sich.
Was Vorstandsmitglieder so sagenAsier Sanz
Gefreut habe ich mich auch über eine Mail von Epubli, wonach jemand im vergangenen Monat das Buch gekauft hat. Auch dafür herzlichen Dank, ich wünsche gute Unterhaltung damit.
Gespräch beim Abendessen, einer fragt „Wie heißt nochmal die mit der Nase?“ Zwei antworten synchron: „Barbra Streisand.“ Manchmal ist es verrückt.
Mittwoch: Als ich morgens beim ersten Kaffee auf dem Balkon saß, lag ein latenter Fäkalgeruch in der Luft. Der war auch noch deutlich zu vernehmen, während ich mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Werk durch die Innere Nordstadt fuhr. Da er sich danach auflöste und ich morgens mit der gebotenen Gründlichkeit geduscht hatte, gehe ich davon aus, dass ich nicht selbst die Quelle war.
In Köln beginnt die Computerspielemesse Gamescom, wo tausende Besucher erwartet werden. Auch so eine Welt, die keinerlei Gemeinsamkeiten mit meiner aufweist, was daran liegen mag, dass meine, in der Dinge wie Fußball, Netflix oder Amazon keine Bedeutung haben, sehr speziell ist.
Beides auch nicht in meiner Welt
Donnerstag: Diese Woche ist kleine Woche, Viertagewoche, also hätte ich heute frei gehabt, Inseltag. Konjunktiv, weil es in Werkszusammenhängen eine Veranstaltung gab, an der teilzunehmen mir wichtig war, auch das gibt es. In den vergangenen Jahren war sie stets mit vier sehr angenehmen Dienstreisen verbunden, ich berichtete; in diesem Jahr fand sie leider nur am Bildschirm per Teams statt. Dennoch hätte ich ungern auf die Teilnahme verzichtet. Nicht verzichten muss ich auf den freien Tag, der auf morgen verlegt wurde, wodurch der Insel- zu einem Halbinsel-, Landzungen-, Polder- oder Koogtag wird. Jedenfalls wird es ein langes Wochenende.
Freitag: Den freien Tag nutzte ich auch heute wieder für eine Wanderung. Diese führte von Köln-Rath-Heumar durch das Königsforst und die Wahner Heide bis Troisdorf. Beim Umstieg von der Regional- in die Stadtbahn in Köln-Deutz kamen mir zahlreiche Besucher der Gamescom-Messe entgegen, teilweise in bizarren Verkleidungen. Wie oben bereits geschrieben, eine andere Welt, was nicht ablehnend oder überheblich gemeint ist; vielleicht finden die Wandern völlig absurd, was es vielleicht auch ist.
Das Wetter war ideal zum Wandern, trocken und um die zwanzig Grad, nur kurz zeigte sich die Sonne. Wie erhofft blüht inzwischen die Heide. Nicht so flächendeckend und postkartengrell wie in nordniedersächsischen Touristenanlockungsmedien, dennoch augerfreuend. Hier und da kündigt sich schon der Herbst an mit ersten gelben Blättern. Kurz vor Troisdorf fand ich Erquickment im wunderschönen Heidekönig-Biergarten, trotz trübem Wetter war er gut besucht.
Sehen Sie:
Aggertalbahn........Herbsterwachen..........
Womit die Rubrik „Was schön war“ auch heute hinreichend bedient ist.
Samstag: Die Nacht endete früh, weil eine Bahnreise nach Bielefeld anstand, um die Mutter zu besuchen. Obwohl der Regionalexpress ab Bonn ausfiel und der Ersatzzug – immerhin gab es einen, das ist nicht selbstverständlich – knapp eine halbe Stunde Verspätung hatte; obwohl wir in Duisburg wegen eines Polizeieinsatzes, dem laut Durchsage eine „kleine Auseinandersetzung“ im vorderen Zugteil vorausgegangen war, länger standen, erreichte ich das Ziel dank üppiger Umsteigezeit in Köln mit nur geringer Verspätung.
In Köln stellte die Bahn ihre Kunden auf eine besondere Probe: Angezeigt war die Einfahrt des RE 6 nach Minden (mit dem ich fuhr), angesagt wurde und es fuhr ein der RE 26 nach Remagen. Verwirrung, man stieg erst ein, bald wieder aus, fragte einander „Ist das der Zug nach …“, die Abfahrt verzögerte sich dadurch um mehrere Minuten. Wie viele mögen, vielleicht abgelenkt durch Ohrstöpsel und Datengerät, erst in Köln-Süd bemerkt haben, dass sie in der falschen Bahn saßen, oder erst in Remagen.
Zum Mittagessen hatte die Mutter Kohlrouladen zubereitet, die schmeckten wie bei Muttern. (Kleiner Scherz.) Während sie danach ein halbes Stündchen ruhte, unternahm ich einen Spaziergang durch Bielefeld-Stieghorst, der etwas länger ausfiel als geplant, wie das so ist, wenn ich einmal so im Gehen bin. Das war nicht schlimm, rechtzeitig zu Kaffee und Kuchen (Marzipantorte von Bäckerei Kriemelmann, der Geburtstagskuchen meiner Kindheit, Gutes vergeht nicht) war ich zurück.
Während der Fahrt nahm ich auffallend viele Männer mit Blumensträußen wahr, als ob heute Tag des schlechten Gewissens wäre. (Ist es nicht, laut kleiner kalender ist Sklavenhandels-, Regensing- und Windreite-Tag. Alles ohne erkennbaren Blumenbezug.)
„Geld macht dumm – Armut auch“ las ich an eine Wand gesprüht, soweit ich mich erinnere in Düsseldorf. Ein unlösbares Problem, die allgemeine Verdummung ist nicht aufzuhalten, wie zunehmend zu bemerken ist. „Denk absurd“ war woanders zu lesen. Damit kann man sogar Präsident eines großen Staates werden, bitte denken Sie sich zutreffende Staatsoberhäupter selbst dazu.
Schlimm finde ich die künstliche Zugansagerin in den Zügen von National Express, die auch erhebliche Verspätungen mit der klebrigen Fröhlichkeit einer Reklamesprecherin verkündet. Doch verkündete sie auf der Rückfahrt, die auffallend pünktlich verlief, Gutes. Als sie sagte „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof“ erschrak ich fast ein wenig.
Ebenfalls auf der Rückfahrt telefonierte einer laut und ausdauernd. Da er das auf Französisch tat, verstärkte es die Vorfreude auf den baldigen Urlaub in der Provence.
Auch heute sah ich viele Bäume mit ersten Herbsterscheinungen. Ist der Herbst dieses Jahr früher dran als sonst?
Was sonst noch so an Wände geschrieben wird
Sonntag: In der Sonntagszeitung (FAS) Innenansichten sogenannter Latte-Macchiato-Eltern, die mit ihren kleinen Kindern gerne in Cafés gehen; konkret berichtet Sebastian Eder, ein solcher Vater:
Warum aber fühle ich mich so wohl in Cafés? Andere Eltern hassen es, wenn ihre Kinder dort an ihnen zerren, noch ein Croissant wollen, das nächste Bilderbuch anschleppen oder schon wieder das ganze Essen auf dem Boden verteilen. Bei mir stellt sich eher eine Entlastung ein: Das Kinderchaos gibt es sowieso, hier bringt mir währenddessen wenigstens jemand Kaffee und Essen, ich muss danach weder aufräumen noch spülen.
[…]
Genervte Blicke von Gästen wären mir auch egal. Wer seine Ruhe haben will, soll zu Hause bleiben.
[…]
Bei mir jedenfalls hilft mit kranken Babys nur: rausgehen und tragen, tragen, tragen – und wenn das Baby eingeschlafen ist, Kaffee trinken. Wird das Kind größer, kann es selbst etwas bestellen und ist auch mal ein paar Minuten zufrieden. Selbst wenn der bellende Husten durchs Café schallt.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie sowas lesen oder gelegentlich selbst erleben. Bei mir erzeugt derartig arrogante Rücksichtslosigkeit, die vorausgesetzte Selbstverständlichkeit, mit der Eltern ihre Bedürfnisse und die ihrer Blagen über alles stellen, stets eine gewisse Wut. Aber man darf ja nicht sagen, sonst sieht man sich schnell, gerade als Kinderloser, der Kinderfeindlichkeit bezichtigt (was so schlimm nun auch nicht ist). Dieselbe Empörung schäumt regelmäßig auf, wenn Hotels und Restaurants aus jedenfalls für mich nachvollziehbaren Gründen keine Kinder als Gäste wünschen. In Anlehnung an Herrn Eder sei entgegnet: Wer seine Kinder aushäusig toben lassen will, soll ein anderes Restaurant bzw. Hotel aufsuchen.
Gerade fällt mir auf, ich muss ja noch eine Frage beantworten.
Frage Nr. 37 lautet: „Weißt du normalerweise, wann es Zeit ist, zu gehen?“ Normalerweise ja. Heute Nachmittag war ich verabredet auf dem Bonner Weinfest, möglicherweise verweilte ich dort etwas länger als nötig, wodurch Auswirkungen auf die Schlussredaktion dieses Wochenrückblickes nicht völlig auszuschließen sind. Eventuelle Liederlichkeiten in Rechtschreibung, Satzbau und Logik bitte ich deshalb zu entschuldigen.
***
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut durch die Woche.
Die Achtzigerjahre erfreuen sich größter Beliebtheit: Radiosender spielen bevorzugt die Hits aus dieser Zeit, außerhalb von Seuchenzeiten kann man an jedem Wochenende irgendwo auf eine Achtziger-Party gehen, und immer wieder können wir uns im Fernsehen Dokumentationen über die „wilden Achtziger“ anschauen, die auch oft genauso heißen, diese zeitweise etwas langatmigen Sendungen, in denen Ausschnitte aus Musikvideos, Straßenszenen und Modeerscheinungen aus dieser Zeit gezeigt werden, die dann am Bildrand eingeblendete, mehr oder weniger bekannte, deutlich in die Jahre gekommene Personen mehr oder weniger witzig kommentieren. (Vor einiger Zeit kommentierte dort gar Wolfgang Bosbach, ohne den früher keine Talkshow stattfinden konnte.)
Warum ausgerechnet die Achtziger? Vielleicht, weil die Programmverantwortlichen diese Zeit besonders intensiv empfunden haben, da sie ihre eigene Jugend darin erlebten. Als in den späten Sechzigern auf diese Welt Gebetener kann ich das bestens nachvollziehen, auch ich würde jederzeit die Achtziger als mein Jahrzehnt bezeichnen, wenn man mich danach fragte. Daher habe ich beschlossen, die für mich wichtigsten Ereignisse, Erlebnisse und Empfindungen aus dieser Zeit hier niederzuschreiben.
„Moment“, mögen Sie vielleicht fragen, „wieso Achtziger? In der Überschrift steht Siebziger.“ Sie haben recht, etwas Geduld bitte: Wenn ich schon in Erinnerungen krame, dann kann ich gleich auch noch was über die Siebziger schreiben, ebenso die Neunziger, die Zweitausender (oder „Nuller“, wenn Ihnen das lieber ist, ich persönlich mag den Begriff nicht so), die Zehner und, warum nicht auch schon, die Zwanziger, auch wenn die gerade erst begonnen haben, aber bereits jetzt reichlich Stoff liefern, wenngleich wenig erfreulichen. Als großer Freund des Grundsatzes „Immer eins nach dem anderen“ beginne ich also mit den Siebzigerjahren; die anderen Jahrzehnte folgen danach in chronologischer Reihenfolge.
Die Siebzigerjahre
Meine früheste Erinnerung überhaupt ist die an einen kleinen Koffer aus Pappe, in den ich einige Stofftiere, Matchbox-Autos und weitere Spielsachen packte, denn wir fuhren mit dem Zug zum ersten Mal in den Urlaub nach Büsum an der Nordsee. Wir, das waren meine Eltern und mein sieben Jahre älterer Bruder Michael. In Büsum wohnten wir in einer aus heutiger Sicht sehr einfachen Pension in der Westerstraße, weiteres darüber schrieb ich bereits vor längerer Zeit hier. Doch es gefiel uns dort, deshalb blieb es für die nächsten Jahre unser Sommerurlaubsziel, in den Siebzigern waren wir noch nicht sehr anspruchsvoll.
Weitere Erinnerungen an Büsum in den Siebzigern: Oma und Opa Severin, ein altes Ehepaar, das in einem noch älteren flachen Ziegelhaus gegenüber der Pension wohnte und meinen Bruder und mich mit Tee und Gebäck versorgte, wenn wir sie besuchten. Später starb der Opa, und nach dem Tod der Oma wurde das schöne alte Haus abgerissen. – Mein erstes Softeis, am liebsten Waldmeister. – Meine erste Begegnung mit Pizza, die mein Vater, der sonst nicht gerade dazu neigte, Unbekanntes auszuprobieren, in einem Restaurant bestellte und mit der er sich wegen des harten Bodens sehr abmühte. Seine Antwort auf die Frage des Sohnes unserer Pensionswirtin am nächsten Tag, was das denn sei, Pizza: „Eine Sperrholzplatte mit Tomaten drauf.“ – Warmer Milchreis mit Zimt, den wir uns Mittags aus der Bude am Hafen holten und im Strandkorb aßen. – Deiche mit Schafen und ihren Hinterlassenschaften darauf. – Kohlfelder in der Umgebung. – Mein Drachen mit dem zehn Meter langen roten Schweif. – Krabbenkutter im Hafen. – Die viel zu kalte Nordsee mit Krebsen, Quallen und anderem Getier darin, die Eiswasserdusche danach.
Zweites Sommerurlaubsziel wurde ein paar Jahre später Martinszell im Allgäu, das wir fortan im jährlichen Wechsel mit Büsum besuchten. Auch darüber ist bereits alles Wesentliche geschrieben. Hinzufügen sind noch: Der Niedersonthofener See in der Nähe, den wir an warmen Tagen aufsuchten und der mir, ähnlich wie die Nordsee, zum Baden viel zu kalt war. (Meine Eltern konnten Niedersonthofen übrigens nicht aussprechen, sie sagten stets „Niedersandhofen“, warum auch immer. Das galt auch für die nicht weit entfernte Stadt Sonthofen.) – Der Widdumer Weiher, ein kleiner mit Seerosen bedeckter See in der Nähe, wo ich zum ersten Mal Frösche sah, die waren gar nicht grün, sondern braun, und wo wir in heftigem Regen genauso nass wurden, als wären wir in den Weiher gesprungen, bis uns unser freundlicher Bauer und Pensionswirt mit dem Auto abholte. – Das Werdensteiner Moos, dessen Wiesen und Wäldchen man auf dem Weg in das Dorf Eckarts durchwanderte – Ausflüge ins nahe Immenstadt, wo ich zum ersten Mal mit einem Sessellift auf einen Berg fuhr. Das war toll, dieses fast lautlose Schweben über Wiesen, Felsen, Bäche und hellbraune, glockenbehängte Kühe hinweg. Nur das Ein- und Aussteigen in das beziehungsweise aus dem fahrenden Schwebemöbel an den Endstationen war etwas aufregend. – Spezi mit Eis und Zitronenscheibe, das ich ausschließlich im Allgäu trank. Später, in den Achtzigern, auch bayrisches Doppelbock-Bier.
Mit vier Jahren kam ich in den Kindergarten. Anfangs fremdelte ich ein wenig, freundete mich aber bald sowohl mit der Situation als auch anderen Kindern an, was gegenseitige Besuche und Einladungen zu Kindergeburtstagen mit Topfschlagen und Eierlaufen nach sich zog. Später schwatzte ich der Leitung eine historische Eisenbahnerlaterne ab, die nur sinnlos in einer Ecke herumstand und nie leuchtete. Ich weiß gar nicht, wo die heute abgeblieben ist. Mittags war schon Feierabend, dann holte mich mein Opa ab.
Opa und Oma väterlicherseits wohnten oben in unserem Reihenhaus in Bielefeld-Stieghorst, wobei „wohnen“ bedeutete: Sie bewohnten ein kombiniertes Wohn-/Koch-/Esszimmer und ein kleineres Schlafzimmer mit einem riesigen Ehebett. Vom Architekten waren die beiden Räume wohl als Kinderzimmer geplant gewesen. Da sie die Großeltern beherbergten, schliefen mein Bruder und ich in einem für uns hergerichteten Kellerraum in Doppelstockbetten (ich oben), in dem wir uns außerhalb der üblichen Nachtzeiten mangels Tageslicht nur selten aufhielten, vielmehr fand das Leben, wenn nicht draußen, überwiegend im Esszimmer statt, das durch eine Glaswand von der Küche abgetrennt war, oder im Wohnzimmer, wo ich mich auf dem Teppich stundenlang mit Lego und Playmobil beschäftigen konnte. Abends waren wir oft zum Fernsehen oben bei Oma und Opa; Oma bot uns Butterbrote „mit guter Butter“ an, die wir, da wir schon gegessen hatten, ablehnten, woraufhin Oma eingeschnappt war („Dann bekommst du auch nix zu Weihnachten“), Opa saß schweigend in seinem Sessel und rauchte Handelsgold-Zigarren.
Der Fernseher, in den ersten Jahren schwarz-weiß, kannte nur drei Programme, wobei das Dritte meistens von äußerst verschneiter Wiedergabequalität war. Auch Fernbedienungen waren nicht gebräuchlich. Dafür war der Apparat einfach zu bedienen: an-aus, laut-leise, Programmauswahl, hell-dunkel, Kontrasteinstellung. Nach dem Einschalten musste man ein paar Minuten warten, bis Bildschirm und Ton langsam erwachten, schon lief das Ding. (Nicht wie heute, wo in einer App und auf mindestens drei Fernbedienungen diverse Knöpfe in bestimmter Reihenfolge zu drücken sind, bis wenigstens ein rätselhaftes Auswahlmenü angezeigt wird.) Später bekamen wir Farbfernseher, immer noch große schwere Kästen, jetzt auf einem separaten Standfuß, immerhin schon mit Fernbedienung, die beim Betätigen einen eigentümlichen, hochfrequenten Ton erzeugte. Wir schauten samstags nach dem Baden „Am laufenden Band“ mit Rudi Carell, außerdem, an anderen Tagen, „Was bin ich“, „Väter der Klamotte“, „Schweinchen Dick“ und einiges anderes.
Meine Großmutter Grete wirkte oft etwas schlechtlaunig und maulte ihren Alois (klang wie „Alwis“) an. Der verließ dann gerne das Haus, machte mit mir lange Spaziergänge, in den nahen Park auf den Spielplatz und zum Enten Füttern, durch die Felder, wo er mir die verschiedenen Getreidesorten erklärte, und in das Ehlentruper Wäldchen, wo in ehemaligen Bombentrichtern jede Menge entsorgter Hausrat des Kindes Interesse weckte. Oder wir schauten zu, wie ein weiterer Bauernhof abgerissen wurde, um Platz zu schaffen für neue Wohnhäuser. Stieghorst hat sich in der Zeit stark verändert, aus der ehedem ländlich geprägten Ansiedlung wurde durch Bebauung von Wiesen und Feldern eine wenig pittoreske Vorstadt, das Einkaufszentrum in brauner Waschbetonästhetik zeugt noch heute davon. Dennoch fühlten wir uns dort wohl.
Ich liebte meinen Opa sehr, niemals entfuhr ihm ein böses Wort, sosehr seine Grete auch grantelte. Umso mehr traf mich sein Tod nach kurzem Krankenhausaufenthalt, er wurde nicht mal siebzig. Meine Oma lebte einige Jahre länger, in denen sich ihre Laune nicht wesentlich besserte. Immerhin: Danach bekam ich endlich ein richtiges Zimmer mit Tageslicht.
Wir verbrachten viel Zeit draußen, zumeist ohne erwachsene Aufsicht und selbstverständlich ohne mobile Erreichbarkeit. Wir spielten auf der Rasenfläche vor dem Haus, aber auch im nahen Ehlentruper Wäldchen, von wo wir oft erst nach Stunden zurückkehrten, bevor es dunkel wurde. Auf dem Gehweg vor dem Haus lernte ich Fahrradfahren mit dem Klapprad ohne Gangschaltung, und Rollschuhlaufen auf Rollen, die an einer längenverstellbaren Schiene mit Riemen unter die normalen Straßenschuhe geschnallt wurden. Im Winter, wenn Schnee lag, in den Siebzigern lag viel Schnee, bauten wir auf der Rasenfläche Schneemänner und Iglus, und wir gingen mit unseren Schlitten in den Park, wo es einen kleinen Hang gab, der schon nach kurzer Zeit eher braun als weiß war.
Mein anderes Großelternpaar, die Eltern meiner Mutter, wohnten in der Nähe von Göttingen am Rischenkrug, weshalb sie den Titel „Oma und Opa Rischenkrug“ trugen, wohingegen die anderen beiden anderen unbetitelt blieben; „Oma/Opa Obergeschoß“ (mit ß, da lange vor der Rechtschreibreform), darauf wäre niemand gekommen. Über den Rischenkrug habe ich im Übrigen hier bereits alles Wesentliche vermerkt.
Am Rischenkrug wurde meine Begeisterung für die Eisenbahn geboren, da das Haus meiner Großeltern direkt an einem Bahnübergang stand. Manchmal kam hier eine der letzten Dampflokomotiven in freier Wildbahn durch, deren dumpfes Heulen auch bei uns zu Hause ganz selten noch zu hören war, wenn eine die unbeschrankten Bahnübergänge bei Oldentrup passierte. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte meine Bahnbegeisterung mit dem Erwerb des ersten L.G.B.-Zuges, der fortan in unserem Garten seine Runden drehte. Jahrelang hatte ich mir eine L.G.B.-Bahn herbeigesehnt, lange darauf gespart. An dem Tag, als ich das erste Mal auf dem Teppich im Esszimmer das Gleisoval zusammengesteckt hatte, sich die Lok mit den beiden Wagen sanft in Bewegung setzte, da war ich wohl der glücklichste Junge zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. – Auch darüber ist hier und da das meiste bereits aufgeschrieben.
Nicht nur Dampflokomotiven, auch Dampfmaschinen vermochten mich zu begeistern, die früher als normales Kinderspielzeug galten und als solches bei Quelle bestellbar waren. (Liebe Kinder, Quelle war so etwas ähnliches wie Amazon, lange bevor es das Internet gab. Stadt auf der Amazon-Seite suchte man im Quelle-Katalog, einem dicken Buch, das der Postbote zweimal jährlich brachte. Meine Mutter war sogar Quelle-Sammelbestellerin, das heißt sie nahm Bestellungen aus der Nachbarschaft entgegen und bestellte dann für alle; die Waren wurden ein paar Tage später in blauen Kartons geliefert. Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Quelle den Kampf gegen den Onlinehandel endgültig verloren. Der Mitbewerber Neckermann hielt sich etwas länger, musste aber auch aufgeben. Nur der Otto-Versand hat bis heute überlebt; den dicken gedruckten Katalog gibt es allerdings auch hier schon lange nicht mehr.) Zum ersten Mal erlebte ich eine Dampfmaschine, genauer: Dampfwalze im Betrieb bei Arno T., dem Nachbarssohn, ein paar Jahre älter als ich. Sofort war ich fasziniert: Man füllte Wasser in den Kessel, legte Esbit-Trockenbrennstoff, der an Würfelzucker erinnerte, in den Brennschieber, zündete es an und schob den Brenner unter den Kessel. Dann verteilte man an verschiedenen Stellen ein paar Tropfen Öl und wartete. Nach ein paar Minuten war das Rauschen des siedenden Wassers zu hören, weitere Minuten später begann das Sicherheitsventil zu blasen, dann konnte es losgehen: Ein kleines Hebelchen umlegen, mit der Hand am Schwungrad drehen, dann schnurrte die Maschine los, Öl- und Wassertropfen um sich spritzend. Mit einem weiteren Hebel wurde das Zahnrad eingerastet, dann fuhr die Walze los, gelenkt über ein kleines Steuerrad am Führerhaus. So lange, bis das Esbit abgebrannt, längstens bis das Wasser im Kessel fast aufgebraucht war. Darauf musste man achten: Niemals Feuer unter dem Kessel, wenn im Schauglas kein Wasser mehr sichtbar war, das hätte die Maschine zerstört.
Ich selbst bekam eine Dampfmaschine zum Geburtstag, allerdings keine Walze, die über den Teppich fuhr, sondern eine stationäre Maschine, an die man über Treibriemen weitere Maschinchen anschließen konnte, wie Hammerwerk, Betonmischer, Dynamo und andere, es gab ein buntes Sortiment an Zubehör. Ein paar Jahre später kaufte ich Arno seine Dampfwalze ab, er hatte inzwischen das Interesse daran verloren.
Die Firma Wilesco und ihr Sortiment gibt es bis heute, allerdings bezweifle ich, dass Eltern ihren Kindern heute noch Dampfmaschinen kaufen und sie unbeaufsichtigt damit spielen lassen. Immerhin, ganz ungefährlich sind die Dinger mit offenem Feuer und heißen Flächen nicht, daher als Spielzeug für Kinder im Grundschulalter nur bedingt geeignet.
Mein Grundschulalter fiel in die Siebziger, die Schule lag gut einen Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, uns mit dem Auto dorthin zu bringen und mittags wieder abzuholen, stattdessen gingen wir zu Fuß, nur am ersten Schultag in (groß-)elterlicher Begleitung, danach zu dritt, Anke und Mechthild von nebenan und ich. Grundsätzlich war das auch aus Sicht heutiger Eltern unbedenklich, da keine verkehrsreichen Straßen zu überqueren waren, stattdessen führte der Weg durch den Park und die Engländersiedlung, wo die britischen Soldaten mit ihren Familien wohnten. Problematischer wurde es später, als wir wegen des geänderten Zugangs zum Schulgelände einen anderen Weg gehen mussten, auf dem uns die Schüler der Sonderschule begegneten. Die waren oft wenig freundlich gesinnt, einige hatten große Freude daran, uns Grundschüler regelmäßig anzurempeln, zu beschimpfen, manchmal auch zu schlagen und beklauen. Da sie zumeist etwas älter waren, hatten wir dem wenig entgegenzusetzen.
Ansonsten fühlte ich mich in der Grundschule ganz wohl. Das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen fiel mir nicht schwer, selbst die Mengenlehre verstand ich problemlos – im Gegensatz zu unseren Eltern, die regelmäßig daran verzweifelten. Sogar den Schulsport mochte ich noch einigermaßen, einschließlich der Bundesjugendspiele; der Hass darauf kam erst später auf. Was ich gar nicht mochte, war der Schwimmunterricht in der vierten Klasse, zu dem wir einmal wöchentlich mit einem Bus zum Hallenbad am Kesselbrink in der Innenstadt gefahren wurden. Als Nichtschwimmer fiel es mir sehr schwer, das Schwimmen zu erlernen, woran die Schwimmlehrerin Frau B., ein richtiger Wasserdrachen, wohl einen erheblichen Anteil hatte. Richtig gelernt habe ich es erst später am Gymnasium, und konnte endlich das Freischwimmer-Abzeichen erwerben, das ich stolz an meiner Badehose trug.
Auch die Rahmenbedingungen passten: Ich fand schnell Freunde, die Lehrer waren nett, in den Pausen spielten wir „Räuber und Gendarm“. Das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen wurde vorübergehend ein wenig distanziert, was aber ganz normal in dem Alter war. Dafür hatte ich bereits im ersten Schuljahr einen Schulhofschwarm, ein Junge aus der Vierten, der mich in gewisser Weise faszinierte, mit dem ich freilich kein Wort sprach.
Nach der Grundschule kam ich auf das Gymnasium in Heepen, das mit dem Bus zu erreichen war. Daran musste ich mich erst gewöhnen, der Schulbus morgens und mittags war gedrängt voll, man fand nur mit Glück einen Sitzplatz. Wenn er an der Haltestelle ankam und die Türen sich zischend öffneten, brach ein heftiges Drängen und Schubsen los. Zudem war er eine kleine Ewigkeit unterwegs, weil er einen Umweg über Hillegossen und Oldentrup fuhr. Das sollte ich nun in den nächsten neun Jahren jeden Tag ertragen?, fragte ich mich in den ersten Tagen. Ein paar Jahre später konnten wir den regulären Linienbus nehmen, nachdem dessen Fahrplan an die Schulzeiten angepasst worden war, der einigermaßen direkt nach Heepen fuhr und nicht so voll war wie der Schulbus. Erst ab der Oberstufe in den Achtzigern fuhren wir überwiegend mit dem Fahrrad, den Bus nahmen wir nur noch bei Regen.
Mit den täglichen Busfahrten entstand ein etwas skurriles Hobby: Busnummern sammeln. Also nicht die Linienbezeichnungen, sondern die Wagennummern, die bei den Bussen der Stadtwerke Bielefeld jeweils in den Ecken angebracht waren. Es entstand eine Art Wettbewerb, wer welchen Wagen schon gesehen und notiert hatte; besonders begehrt waren die alten Magirus und Büssing, von denen es nur noch wenige Exemplare gab. Aus der reinen Nummernjagd entstand mit der Zeit ein Interesse an Bussen generell, Hersteller, Typ, Baujahr, und ich begann, Omnibusmodelle zu sammeln. Die Sammlung besteht und wächst bis heute.
Wie schon auf der Grundschule kam ich auch auf dem Gymnasium gut zurecht, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Es gab bessere und fleißigere Schüler als mich, aber auch wesentlich schlechtere. Die Lehrerinnen und Lehrer waren, von Ausnahmen abgesehen, angenehm. Eine dieser Ausnahmen war Ferdinand K., Musiklehrer, der in einer eigenen Welt lebte und uns schrecklichste Lieder singen ließ, schlimmer noch: Immer wieder mussten wir einzeln vor der Klasse vorsingen, was für für Jungs kurz vor dem Stimmbruch kein Spaß ist und mir jede Freude am Singen für Jahre vergällte, vor jeder Musikstunde graute mir: Hoffentlich bin ich heute nicht dran.
Eine andere besonders humorlose Ausnahme war Herr B., Physik. Schon aufgrund des körperlichen Volumens eine imposante Erscheinung, verstand er es wie kein anderer, uns durch Angst zu disziplinieren, dabei konnte (oder wollte) er sich nicht einmal unsere Namen merken. Seine Spezialität war es, jemanden zur Lösung einer Aufgabe an die Tafel zu holen und ihn dann vor der Klasse fertig zu machen, wenn die Lösung nicht seinen Ansprüchen genügte. Als es eines Tages hieß, er sei überraschend gestorben, ging ein allgemeines Aufatmen durch die Schulflure, niemand, außer vielleicht seiner Frau, die ebenfalls am Heeper Gymnasium lehrte, trauerte ihm nach.
Ein ganz spezieller Vogel war Manfred S., Deutsch, Religion, Sport, von allen nur „Menne“ genannt. Er war nicht bösartig oder fies, dafür führte er gerne mal vor der Klasse einen Kopfstand aus und zeigte uns seine Kriegsverletzung am Bein. Womöglich war im Feld nicht nur das Bein getroffen worden. Immerhin, in Deutsch ließ er uns „So zärtlich war Suleyken“ und Gedichte von Eugen Roth lesen, das sei ihm zugute gehalten. Außerdem deklamierte er gerne ein Gedicht, das ich bis heute auswendig kann, das geht so: »Lang genug geschienen habend / senkt die Sonne sich am Abend. / Sie hat vollendet ihren Lauf / drum hört sie auch zu scheinen auf.«
Zunehmendes Unbehagen bereiteten mir die Sportstunden. Das lag vor allem an den Mannschaftssportarten wie Fuß- und Basketball. Mir fehlte jeder Ehrgeiz, mich dafür anzustrengen, dass ein Ball in, über oder durch ein Netz flog, daher blieb ich beim Mannschaften wählen stets als Letzter oder Vorletzter übrig. Hinzu kam ein geringes, in Richtung Minderwertigkeitskomplexe tendierendes Selbstbewusstsein. Ich war ein sehr dünnes Kind, was ich mir seit frühester Kindheit anhören musste: „Du muss mehr essen, damit du mal was auf die Rippen bekommst“ oder „Beim Duschen musst du wohl hin- und herspringen, damit dich mal ein Wasserstrahl trifft.“ Während andere Jungs schon ein paar Muskeln aufzuweisen hatten, staken meine dürren Ärmchen und Beine aus Turnhemd und -hose. Schlimmer noch war Schwimmen, wo wir die meiste Zeit bibbernd auf der Fensterbank saßen und uns die vom Lehrer trocken dargebrachten Bewegungsabläufe zeigen ließen, die wir anschließend im Becken in die Praxis umzusetzen hatten.
Damit nicht genug: Da mein Bruder beim CVJM Volleyball spielte, schickten meine Eltern auch mich dorthin, „Das tut dir gut“, jeden Freitagabend. Ich hasste es, bekam kein Gefühl für den Ball und das Spiel, schaffte es daher nie, in eine Mannschaft aufgenommen zu werden. Irgendwann hatten meine Eltern ein Einsehen und erließen mir diese Pein.
Haustiere hatte ich auch: Mehrere Landschildkröten, die in den Siebzigern ohne Rücksicht auf den Artenschutz in Zoohandlungen für wenig Geld zu kaufen waren, Wasserschildkröten, Fische und einen Wellensittich, Jacob hieß der, ich liebte ihn sehr. Der wollte zwar nicht sprechen und ließ sich nicht anfassen, war aber sonst sehr zutraulich, kam auf Finger, Schultern und Kopf und wurde ziemlich alt. Mangels Zimmer mit Tageslicht, siehe oben, stand der Käfig anfangs auf dem Regal im Esszimmer, wo der Vogel einmal fast gestoben wäre, als mein Freund Uwe und ich unsere Dampfmaschinen auf dem Küchentisch laufen ließen. Uwes Maschine qualmte besonders stark, bald war das obere Drittel des Raumes in Rauch gehüllt, also die Sphäre, in der sich Jacobs Unterkunft befand. Erst als er lautlos von der Stange fiel, bemerkten wir sein Unwohlsein, brachten den Käfig schnell in das Wohnzimmer, wo sich das arme Tier nur langsam erholte.
Nachdem meine Oma ihrem „Alwis“ gefolgt war, bekam ich endlich ein eigenes Zimmer, zunächst das kleinere, ehemals großelterliches Schlafzimmer, weil mein Bruder als der Ältere von uns Anspruch auf das größere Zimmer erhob. Das bezog er allerdings nie, weil er kurz zuvor zur Bundeswehr nach Goslar eingezogen worden war, wo es ihm so gut gefiel, dass er dort blieb, daher bekam ich es in den Achtzigern zugeteilt. Jacob zog mit um in mein Zimmer, wo er sich frei bewegen konnte, weil der Käfig die meiste Zeit offen stand. Meistens hielt er sich dennoch im Käfig auf, vielleicht weil es dort Futter gab.
Ein eher dunkles Kapitel bezüglich häuslicher Tierhaltung waren die Frösche, die ich fing und mit nach Hause nahm, wenn wir am Wochenende in der Senne waren. Anfangs hielt ich sie in einer Kaffeedose aus durchsichtigem Kunststoff und ließ sie nach ein paar Tagen im Park frei (wo sie vermutlich nicht sehr lange überlebten), später richtete ich ihnen immerhin ein relativ komfortables Terrarium ein, wo ich sie täglich mit Regenwürmern aus dem Garten fütterte. Einmal nahm ich Froschleich aus einem Tümpel mit und ließ daraus zu Hause Kaulquappen schlüpfen. Auch die wurden später in den Ententeich im Park entlassen; es ist kaum anzunehmen, dass sie dort heimisch wurden und später Froschkonzerte gaben. Hierfür bitte ich die Natur ausdrücklich um Entschuldigung.
Über Froschkonzerte komme ich zum Thema Musik, bitte verzeihen Sie diese etwas holprige Überleitung. Im Kindergarten sangen wir regelmäßig, zum Beispiel „Meister Jakob, schläfst du noch“, das Lied von der Brücke zu Avignon, sogar auf Französisch, soweit ich mich erinnere, und ein Lied über einen Cowboy namens Bill, das ich nicht mehr auf die Reihe bekomme. In der Grundschule nahmen wir „Die Moldau“ von Smetana durch, die fand ich toll und hörte sie fortan täglich zu Hause von Schallplatte in unserer Musiktruhe, einem sperrigen Möbel, das in der Stube (so hieß das Wohnzimmer) stand und Radio und Plattenspieler beherbergte. In den Plattenteller konnte man eine Art intelligenten Dorn stecken, auf dessen oberes Ende ein Stapel von Singles gesteckt wurde. Sobald die aktuelle Platte auf dem Plattenteller zu Ende gespielt und der Tonarm wieder in die Ausgangslage gefahren war, gab der Dorn über eine geheimnisvolle Mechanik die nächste Single frei, die dann auf den Plattenteller über die zuvor abgespielte Platte fiel, anschließend senkte sich der Tonarm darauf und spielte sie ab, so lange, bis der obere Stapel abgespielt war, alles ganz automatisch.
Ich lernte auch selbst Instrumente zu spielen, zuerst Blockflöte, später Trompete im Posaunenchor des CVJM, wo mein Bruder bereits einige Zeit mitspielte.
Im Übrigen waren die Siebziger musikalisch geprägt von „Hitparade“ mit Dieter-Thomas Heck und „Disco“ mit Ilja Richter im Fernsehen; erwähnenswerte Interpreten waren neben anderen Boney M, die Bee Gees, Village People, Sailor (die ich persönlich ganz besonders toll fand, weshalb ich Karneval nur noch als Seemann – nein als George Kajanus, deren Sänger ging; vielleicht war ich sogar ein ganz kleines bisschen verliebt in ihn gewesen) und natürlich ABBA, die ich erstmals 1975 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson sah und spontan begeistert war.
Das erste Telefon bekamen wir übrigens erst gegen Ende der Siebziger, den bekannten grauen Einheitsapparat mit Wählscheibe der Bundespost, sogar mit zwei Anschlussdosen im Haus, eine in der Stube und eine in Omas Schlafzimmer, wobei ich im Nachhinein nicht mehr weiß, wozu meine Oma am Bett einen Telefonanschluss benötigte. Bei nicht fest in der Wand installierten Apparaten war außerdem eine zusätzliche Glocke im Hausflur fernmeldeamtlich vorgeschrieben, die einen Höllenlärm machte und Tote wecken konnte.
Eine weitere Eigenheit der Siebziger war der Badetag einmal in der Woche, zumeist samstags, das heute selbstverständliche tägliche Brausebad war unüblich. Die Badewanne wurde eingelassen, nacheinander wurde dann gebadet, üblicherweise ohne das Wasser zwischendurch zu wechseln. Wenn ich an der Reihe war, meistens als letzter, schwammen kleine weiße Flöckchen auf der Oberfläche. Eine Dusche wurde erst viel später in der Waschküche im Keller eingebaut, der wöchentliche Badetag hielt sich jedoch noch bis in die Achtziger.
Selbstverständlich fanden die Siebziger auch außerhalb von Bielefeld-Stieghorst statt, nur bekam ich davon als Kind nicht allzu viel mit, weil mich Politik nicht interessierte. Regiert wurden wir von Willy Brandt und später Helmut Schmidt, die SPD waren gewissermaßen die Guten, die CDU die Bösen, und die FDP, die sich noch F.D.P. schrieb, irgendwas dazwischen.
Silvester 1979 verbrachten wir vermutlich wie in den Jahren zuvor: Es gab Fondue zu essen, vielleicht durfte ich schon ein Glas Wein mittrinken, meine Eltern waren da wenig streng (wie sie überhaupt wenig streng waren, körperliche Züchtigungen kamen selten und in geringen Dosen vor. Nur einmal eskalierte es ein wenig, als meinem Vater die Hand ausrutschte, den genauen Grund weiß ich nicht mehr, ich glaube mein war Bruder schuld, aber schneller als ich, weshalb ich mich mit dem Kopf in der Musiktruhe wiederfand; vermutlich erschrak mein Vater mehr darüber als ich. Bleibende Schäden trug ich meines Wissens nicht davon, aber wer weiß, was ohne dieses Ereignis für mich anders gelaufen wäre in dieser Welt, wo der Flügelschlag eines Schmetterlings angeblich einen Wirbelsturm auf der anderen Seite der Erde auszulösen vermag). Nach dem Essen wurde irgendwas im Fernsehen geschaut, um Mitternacht gingen wir dann vor das Haus, wo wir unsere Knaller zündeten, die Erwachsenen tranken dazu Sekt. Die Achtziger begannen. Darüber demnächst mehr.