Woche 29/2024: Wenn die Muse nicht in Kusslaune ist

Montag: Abends sitze ich auf dem Balkon unter der ausgefahrenen Markise, auf die nach einem sonnig-warmen Tag Regen fällt. Rechts von mir, auf dem Balkon gegenüber, beschallt eine Amsel die Siedlung, offenbar stört sie der Regen nicht. Darüber schreien Möwen, die nach subjektivem Empfinden immer mehr und lauter werden, wie so manches in diesen Zeiten.

Während es über mir prasselt, warte ich vergeblich auf den Kuss der Blogmuse, doch die küsst heute wohl woanders, oder sie hat das montägliche Antriebslos gezogen, ich kenne das. Lassen wir es also dabei. Vielleicht morgen wieder mehr. Oder übermorgen. Oder demnächst.

Vielleicht dieses noch: Laut kleiner kalender haben heute Donald und Wladimir Namenstag. Es gibt schon erstaunliche Zufälle.

Dienstag: Wenn die Muse nicht in Kusslaune ist, bleibt immer noch und jederzeit, neben den Schlechtigkeiten der Welt, das Wetter als Thema, gerade in diesem verwässerten Sommer. So auch heute: Morgens beim Fußmarsch in die Werktätigkeit brannte die Sonne schon sehr intensiv auf die schattenlose Uferpromenade, auch ohne Jacke war es mir zu warm. Und das will schon was heißen, wenn es mir zu heiß wird.

Nachmittags zog ein Gewitter über die Stadt, das von meinem Schreibtisch im 28. Stock aus beeindruckend anzusehen war. (Kann man das so schreiben, beeindruckend anzusehen? Sie wissen schon, was ich meine.) Als ich kurz darauf zum Heimweg aufbrach, hatte es sich deutlich fast auf Jackentemperatur abgekühlt, wärmte sich jedoch bald wieder auf. Der Regen muss heftig gewesen sein, die Straßen am Rheinufer standen handbreit unter Wasser. Radfahrer wichen aus auf den Gehweg, ein Auto pflügte durch die Gischt, Fußgänger blieben zögernd stehen vor breiten Rinnsalen, die über die Promenade in den Rhein strömten. Mangels Alternative ging ich, den Elementen trotzend, weiter und prüfte, ob die Schuhe wasserdicht sind; Ergebnis: sind sie nicht.

Am Brassertufer

Daraus resultierende Fußfeuchte hielt mich nicht vom Feierabendweizen auf dem nun wieder sonnenbeschienen Marktplatz ab, wo diese Zeilen mühsam ins Datengerät getippt wurden.

Keine oder allenfalls unbezahlte Werbung. Paulaner, Erdinger oder jedes andere Weißbier hätte ich genauso fotografiert.

In einem Zeitungsartikel über Windräder und Weltkulturerbe las ich das Wort „Kulturverträglichkeitsprüfung“ und freute mich ein weiteres Mal über die wunderbaren Wortschöpfungsmöglichkeiten unserer Sprache.

(Ich glaube, sie küsst wieder.)

Mittwoch: Morgens während des Brausebades hörte ich im Radio erstmals bewusst Taylor Swift. WDR 4 berichtete über das bevorstehende Konzert der Dame in Gelsenkirchen und darüber, wie sie deswegen alle eskalieren. (So heißt das jetzt wohl.) Deswegen spielten sie, obwohl nach eigener Aussage spezialisiert auf „Achtziger und die größten Klassiker“ (was sie nicht davon abhält, ab und zu auch Max Giesinger zu spielen, der weder Achtziger noch – Gott bewahre – ein großes Klassiker ist) ein Lied von ihr. Ich fand es angenehm anhörbar, indes wüsste ich nicht, was ihre Musik abhebt von der vergleichbarer Künstlerinnen, warum ausgerechnet sie damit so viel erfolgreicher ist als andere. Das Lied kam mir nicht bekannt vor, als hätte ich es schon oft gehört, ohne zu wissen, dass es von ihr ist. Auch blieb es mir nicht nicht in Erinnerung, weder können ich den Titel nennen (irgendwas mit no heroes?) noch die Melodie summen. Vermutlich werde ich es nicht wiedererkennen und ihr zuordnen, wenn ich es das nächste Mal zufällig höre.

Was wiederum die Frage aufwirft: Wie kann es sein, dass dieser Superstar dermaßen gründlich nicht in meiner Wahrnehmung vorkommt, wo doch alle Welt von ihr angetan ist? Desinteresse? Das Alter? Selbst am Fußball, der mich kein bisschen interessiert, komme ich nicht ganz vorbei, weiß, wer Thomas Müller ist und wie der aktuell amtierende Bundestrainer heißt. Wie also kann es sein?

Aus der Zeitung: „Die Bundesstadt war und wird mit seinen Gassen und Einbahnstraßen nie eine Autostadt sein.“ Auf der Liste der Lieblingsfehler ganz weit oben.

Donnerstag: Ein freier Tag, Inseltag, Wandertag. Heute eine Runde durch die Waldville, ein Waldgebiet westlich von Bonn, bequem mit der Bahn zu erreichen; am Bonner Hauptbahnhof steigt man ein und zehn Minuten später in Alfter-Impekoven wieder aus. Spektakuläre Ausblicke wie Rhein- oder Siegsteig bietet die Tour nicht, dafür viel Strecke durch den Wald, was es auch an heißen Tagen wie heute erträglich macht.

Etwa eine halbe Stunde nach Erreichen des Waldes vernahm ich in naher Hörweite einen umstürzenden Baum, erst Knacksalven, dann den dumpfen Aufschlag auf den Boden. Da dem Umsturz kein Kettensägengetöse voranging, wird der Baum wohl eines natürlichen Todes gestorben sein. Das bringt mich zu grundsätzlichen Betrachtungen über die Natur, die mir während des Gehens in den Sinn kamen. Was ist das überhaupt, Natur? Viele denken dabei an das Ursprüngliche, vom Menschen Unberührte. Demnach gäbe es in Deutschland nur noch wenig Natur, auch die meisten Wälder wurden und werden seit Jahrhunderten bewirtschaftet. Doch ist nicht letztlich alles Natur, einschließlich Mensch, den auch die Natur hervorgebracht hat, mit all seinen Fehlern und allem, was er erschaffen hat bis hin zu Tiktok, Laubläsern und Atombomben? Warum diese natürliche Fehlentscheidung nicht längst korrigiert wurde, weiß nur die Natur. Vielleicht hat sie bereits damit begonnen, die Menschen wollen es nur nicht sehen.

Bei Buschhoven
Unendlicher Weizen bei Dünstekoven
Am Wegesrand immer wieder Tümpel, in denen Frösche wohnen. Bei Nahen des Wanderers springen sie panisch ins Wasser und verharren im Tauchgang, bis die Gefahr vorüber ist. Die Teichfrösche der Schwiegereltern waren da früher deutlich gelassener.
Der Eiserne Mann gilt als Sehenswürdigkeit der Waldville, wobei Geschichte und Zweckbestimmung des Pömpels nicht völlig geklärt sind.
Birkenbild
Entsprechende Waldgeräusche denken Sie sich bitte
Extra für Frau Lotelta: Auch in der Waldville wachsen Stechpalmen

Ungefähr im letzten Viertel verließ mich Komoot: Mitten im Wald endete plötzlich die Anzeige der geplanten Route. Nun ist die Waldville nicht der Amazonas, daher fand ich auch ohne mobile Navigation problemlos den Weg zurück, vielleicht etwas anders als ursprünglich geplant, was die Wanderlust nicht trübte.

Wenige Minuten nach Rückkehr in Impekoven kam eine Bahn und brachte mich mit lobenswerter Pünktlichkeit (wie auch bei der Hinfahrt) zurück nach Bonn, wo ich mir, mangels gastronomischer Möglichkeiten in Impekoven, das Belohnungsweizen gönnte und mich auf den nächsten Inseltag freute, von denen ich demnächst, wenn alles meinen Vorstellungen entsprechend verläuft, wesentlich mehr haben werde.

Freitag: Nachwirkungen von gestern sind nicht nur Erinnerungen an einen schönen Wandertag, sondern auch Insektenstiche in größerer Anzahl, wie ich erst heute bemerkte. Obwohl ich vorher Insektenspray aufgelegt hatte, fanden die Tierchen offenbar Gefallen an meiner Haut, insbesondere der linken Hand; im Laufe des Tages bemerkte ich an weiteren Stellen juckende Pöckchen. Auch das ist Natur.

Am Wochenende bleibt es warm. „Denkt daran, viel zu trinken!“ sagte die Kollegin am Ende der Besprechung. Das bekomme ich hin.

Aus einem Zeitungsbericht über Straßenmusiker: „Allerdings kann in Bonn nicht einfach jede Person in die Fußgängerzone gehen und auf seinem Instrument klimpern.“ Schon wieder.

Endlich Wochenende

Entgegen der Gewohnheit verbrachten wir den Abend nicht in der örtlichen Gastronomie, sondern auf dem Balkon, wo der Liebste erstmals auf dem Grill Pizza zubereitete. Hierzu wurde entsprechendes Grillzubehör (Pizzastein, Wärmehaube, Pizzaschieber) beschafft sowie Teig vorbereitet. Es bedarf noch etwas der Übung, bis das Ergebnis auch in optischer Hinsicht perfekt (oder wenigstens rund) ist, geschmacklich jedenfalls war es überzeugend. Ein wenig frage ich mich, ob sich dieser immense Aufwand lohnt, wo man doch in vielen Lokalen ausgezeichnete Pizza serviert bekommt. Eine ähnliche Frage stelle ich mir, wenn Leute selbst Brot backen. Andererseits, wenn sie Freude daran haben und es schmeckt, warum nicht.

Samstag: Heute war es sehr heiß, selbst der Gang zum Altglascontainer strengte mehr an als die Wanderung am Donnerstag, ein Zusammenhang mit dem zu Entsorgenden ist nicht auszuschließen. (Gestern Abend beim Pizzagrillen und -essen wurde der erwähnten kollegialen Rat streng befolgt.) Anstrengend auch die Menschen in der Fußgängerzone, die heute besonders langsam vor mir hergingen.

Nach Rückkehr begab ich mich auf das klimatisierte Sofa, um zu lesen, unter anderem dieses im SPIEGEL vom immer lesenswerten Jochen-Martin Gutsch über eine Schwanenfamilie: „Aber sie scheißen viel.“ Insgesamt dreimal kam das Fäkalwort in unterschiedlichen Formen in dem Text vor. Mich stört das überhaupt nicht, nur erstaunt es, dass man ihm das erlaubt.

Sonntag: Statt Spaziergang heute eine Radtour nach Bonn-Mehlem, wo administrative Vereinstätigkeiten ohne besonderen Bloggenswert (Adressieren und Frankieren von etwa siebenhundert Briefumschlägen für den Versand der nächsten Mitgliederzeitung) zu erledigen waren. Auf dem Hinweg geriet ich in einen kurzen, heftigen Regenschauer, dessen Unannehmlichkeit sich wegen vorsorglich mitgeführter Regenjacke und kurzer Hose in Grenzen hielt. Auch das ist Natur.

***

Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 19: Ohne einen Ausdruck des Bedauerns

Montag: „Wie können wir das challengen?“, fragt die Kollegin in einer Besprechung. Ich bin einfach zu müde, um sie zu fragen, was sie meint. Nicht ganz dazu passend, irgendwie aber doch, diese Fundsache:

„Ich beschließe, ihm mehrmals an diesem Vormittag lebhaft zuzustimmen und dabei einen leicht blöden Ausdruck der Bewunderung aufzusetzen, als würde er mir ungeahnt überraschende, weitgespannte Perspektiven der Weisheit eröffnen.“

Aus: Michel Houellebecq, „Ausweitung der Kampfzone“

Kurz nach Feierabend zaubern zwei Enten im Abklingbecken neben dem Werk ein Lächeln in mein Gesicht, weil ich, wahrscheinlich erwähnte ich es bereits, Enten sehr mag, zum einen wegen ihres sympathischen Wesens, zum anderen in kulinarischer Hinsicht.

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Noch eine Fundsache, die Aufnahme fände in die Liste der besonders gelungenen Sätze, so ich denn eine führte, erst heute Abend gelesen bei Herrn Buddenbohm:

„Man muss aber doch unbedingt sicher sein, wo diese hübsche Sinnlosigkeit am meisten Sinn hat, das ist im Garten nicht anders als im restlichen Leben auch.“

Vielleicht sollte ich eine solche Liste mal anlegen.

Dienstag: Auf der Fahrt mit der Bahn nach Bad Neuenahr sehe ich im Bahnhof Remagen einige Bauarbeiter in grellen Warnwesten. Während einer mit einer Schaufel schaufelt, stehen mindestens vier andere – möglicherweise besser bezahlte – drumherum und schauen ihm beim Schaufeln zu oder auf ihr Telefon. Also wie so oft im Leben.

Mittwoch: Es behagt mir nicht, mit eingeschaltetem dienstlichen Mobiltelefon im Zimmer zu übernachten, etwa so, wie nachts durch einen Park zu gehen – besteht doch in beiden Fällen latent die Gefahr einer unerwünschten Belästigung. Ersterem kann man durch Aktivierung des Flugmodus begegnen, und durch einen dunklen Park sollte man ohnehin nicht laufen.

Die Hoffnung auf einen durch Knopfdruck angeforderten besonderen Zimmerservice in Form eines attraktiven Hotelmitarbeites, der beim Waschen des Rückens behilflich ist, erfüllte sich leider nicht.

Donnerstag: Ein neues Wort gelernt: Ein „Canophop“ ist ein Hundehasser. Ich mag Hunde – im Gegensatz zu Enten – nicht besonders, „hassen“ wäre indes übertrieben, zumeist können die Tiere ja nichts für ihre bekloppten Herr- oder Frauchen. Gibt es auch ein Wort für Hundehalterkomischfinder?

Freitag: Ich nahm an einer „Operation Finance Challenge“ teil, fragen Sie bitten nicht, was das ist. Gegen Ende schauten sechs gut bezahlte Leute zu, wie der Projektleiter, an die Leinwand projiziert, eine Mail an die Teilnehmer verfasste. Gut, es gibt wesentlich härtere Bedingungen, um sein Gehalt zu verdienen.

In einer anderen Mail teilt der Arbeitgeber mit, dass das Werk am Wochenende wegen Wartungsarbeiten nicht betreten werden kann. Und jetzt?

Noch ein Hinweis an die Bahnnutzer, die ohne Not mit ihrem Scheißtelefon im Türbereich stehen, obwohl es in der Bahn genug Platz gibt: Falls euch jemand beim Aussteigen scheinbar versehentlich anrempelt ohne einen Ausdruck des Bedauerns, dann könnte ich das sein.

Samstag: Hier ein lesenswerter Artikel von Thomas über das antiquierte, gleichwohl noch nicht ausgestorbene Kommunikationsmedium Telefax. (Ich weiß, man sagt heute nur noch Fax, nicht Telefax. Egal – soviel Zeit muss sein.)

Am Abend Weinprobe. Zu fortgerückter Stunde mit etwas Alkohol im System widerstehe ich nur ganz knapp der Versuchung, meine Lieben um eine Zigarette zu bitten. Aber ich widerstehe, worauf ich ein ganz kleines bisschen stolz bin. Es geht also, das Nichtrauchen.

Sonntag: Der Sonntagsspaziergang führt mich an den Rand eines Landschaftsschutzgebietes im Bonner Norden, wobei die schützenswerte Landschaft nicht unmittelbar ins Auge springt.

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Trotz der darüber brausenden Autobahn erklingt hier ein erstaunlich vielstimmiges Vogelgezwitscher, anscheinend stören sich die Tiere nicht am menschlichen Fortbewegungsdrang. Ein bemerkenswerter Kontrast zu der Meldung vom Wochenbeginn, dass eine Million Arten vor dem Aussterben stehen (was bitte keineswegs als „alles halb so schlimm“ verstanden werden soll).

Bemerkenswert nicht weit davon entfernt auch das Händchen eines Kleingartenbesitzers für die naturnahe Gestaltung seiner Parzelle (passend zum Buddenbohm-Satz von Montag):

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Ein künstlerisches Händchen beweist der Schöpfer eines Straßenkunstobjekts in der Inneren Nordstadt, zugleich eine erfreuliche Alternative zu den sonst hier vorherrschenden Graffiti-Schmierereien:

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