Woche 44/2025: Kein Ausstieg in der Abstellung

Montag: Der erste Tag der Woche, nunmehr wieder in Mitteleuropäischer („Winter“-)Zeit, war gefüllt mit üblichen Müd- und Geschäftigkeiten und vollherbstlich-handkaltem Wetter, indes ohne berichtenswerte Vorkommnisse. Vormittags war ich dankbar, in einer zweistündigen Informationsveranstaltung, die erfreulicherweise nicht den albernen Titel Townhall trug, einfach nur sitzen und zuhören zu können. Anschließend tauschte ich mich beim Mittagessen, aufgrund ungünstiger Umstände während der Hauptverzehrzeit, mit einer lieben Kollegin über die Provence aus. Zum Abendessen gab es passend dazu Rosé, somit endete auch dieser Tag erfreulich.

Dienstag: Erfreulich auch der heutige Fußweg ins Werk ohne Regen. Regen hingegen nachmittags, so dass das Deutschlandticket mal wieder genutzt wurde, jedenfalls theoretisch, sehen wollte es in der Bahn niemand.

Morgens, deutlich heller, vgl. vergangene Woche

Erfreulich auch, jedenfalls für Veganer und -innen, ein vorläufiger Sieg der Vernunft, nachdem kürzlich noch darüber debattiert wurde, ob Wurst zwingend Fleisch enthalten muss: Der norddeutsche Hersteller einer eierlikörähnlichen, gleichwohl eierfreien Spirituose darf sein Getränk nach Entscheidung des Landgerichts Kiel weiterhin „Likör ohne Eier“ nennen. Das missfällt den Herstellern eierhaltiger Liköre, beziehungsweise geht ihnen auf die Eier. Deren Interessenvertretung mit dem etwas bedrohlichen Namen „Schutzverband der Spirituosen-Industrie“ (deren Vorsitzender Inhaber der bekannten Bonner Eierlikörfabrikation ist) hat bereits angekündigt, dagegen in Berufung zu gehen, was wiederum einiges über die Einschätzung der Intelligenz derer Kunden und ihrer Auslegung des Wortes „ohne“ aussagt. Eieiei.

Mittwoch: Die Vorlieben der Menschen sind verschieden, ebenso ihre Abneigungen. Der eine braust auf, wenn er sich kritisiert glaubt, der andere zürnt, wenn der Raumpflegeplan in Verzug zu geraten droht; ich hingegen rolle heftig die Augen, wenn man mir unaufgefordert ein Mobiltelefon vor die Nase hält, auf dass ich schaue, insbesondere beim Essen und von Menschen, die das genau wissen. Ich weiß nicht, warum das so ist, jedenfalls möchte ich es nicht.

Donnerstag: Eines der Dinge, die auf meiner ungeschriebenen Müsste-ich-mal-machen-Liste ziemlich weit oben stehen ist Sport. Ja, da staunen Sie. Also mehr als Wandern, Spazieren, Radfahren und der werktägliche Treppenstieg im Turm, was ja alles auch nicht nichts ist. Nicht, dass ich einer Fuß-, Hand-, Basket-, Volley- oder was auch immer -Ballmanschaft beitreten wollte, meine Abneigung gegen Ballspiele aller Art ist ungebrochen, aktiv wie passiv, überhaupt jede Art sportlicher Betätigung, bei der das Gewinnen im Mittelpunkt steht. Vielmehr meine ich die nicht gewinnorientierte Muskelpflege an Geräten: im Fitnessstudio, oder Gym, wie sich für modern haltende Menschen sagen.

Vor längerer Zeit, vermutlich ist es noch länger her als dieses Blog existiert, war ich schon mal Mitglied einer solchen Stätte. Anfangs war ich motiviert, trainierte dreimal die Woche, dann zweimal, später einmal, danach ab und zu, schließlich gar nicht mehr, die Motivation war weg, ich fand es nur noch lästig und langweilig. Doch nun der Sinneswandel: Meine Lieben trainieren seit einiger Zeit in einem nahegelegenen Studio und berichten Gutes darüber. Es sei nie voll, das Personal angenehm. Wenigstens anschauen wollte ich es mir mal. Und zwar heute, an meinem freien Donnerstag, statt der üblichen Wanderung mittags ein Probetraining. Der sehr nette Trainer erklärte mir die Geräte und stellte sie auf mich ein, dank moderner Technik merken sie sich das; wenn ich mich mit meinem persönlichen Chiparmband anmelde, fahren sie selbsttätig in die richtige Position. Das mag Ihnen, falls Sie regelmäßig sowas machen, selbstverständlich erscheinen, für mich war es neu; in dem Studio damals musste ich alles selbst einstellen. Nachdem alles erklärt und eingestellt war, gab es einen weiteren Durchgang, das ging schon recht gut, fast bin ich versucht zu schreiben, es hat Spaß gemacht. Mein Vorsatz nun oder wenigstens die Idee: zweimal wöchentlich, montags und mittwochs jeweils direkt nach der Arbeit. Ab Montag. Übrigens ist die Mitgliedschaft monatlich kündbar.

Um nicht völlig auf Wanderlust und Herbstwald zu verzichten, unternahm ich nachmittags eine Kleinwanderung über den Venusberg bis Kessenich, zurück mit der Straßenbahn, somit war die anschließende Einkehr auf Currywurst und Bier auch gerechtfertigt. Im Wald begegnete mir ein Paar mit zwei unangeleinten Hunden. Als die vorauslaufenden Hunde* mich sahen, blieben sie stehen, dann liefen sie zurück zu ihren Menschen** und baten kongruent um Anleinung. Respekt, derart gut erzogene Hunde habe ich noch nicht erlebt.

*Viele hätten hier wohl „Vierbeiner“ geschrieben.

**Durch Verzicht auf dieses ausgeleierte Synonym brachte ich mich um die Möglichkeit, hier „Zweibeiner“ zu schreiben.

Südstadt
Venusberg

Auf der oben genannten Liste stünden weiterhin: mein Englisch verbessern und endlich richtig Französisch lernen. Freihändig Fahrradfahren vielleicht auch, weiter unten, ich komme gut damit klar, es nicht zu können. Überhaupt wäre die Liste der Dinge, die ich nicht mehr machen möchte und muss, wesentlich länger. Dazu hat der geschätzte Mitblogger Herr Buddenbohm das Wesentliche aufgeschrieben, treffender könnte ich es nicht:

Mir fallen viel eher Sachen ein, die ich nicht mehr machen möchte. Sie fallen mir jedenfalls deutlich eher ein als Sachen, die ich dringend noch machen möchte. Ich pfeife auf den Jakobsweg und auf Flugstunden, auf das Erlernen von Schwimmstilvarianten und den Erwerb einer Marathonqualifikation. Viel wichtiger ist es mir, viel erstrebenswerter kommt es mir vor, diverse Aufgaben loszuwerden. Dies und das nicht mehr machen zu müssen, es wäre mir wahrlich ein Fest. Hier und da nicht mehr verantwortlich zu sein, nicht mehr zuständig und administrationspflichtig. Auch nicht mehr ansprech- oder erreichbar. Wäre ich nicht erreichbar, ich hätte wirklich etwas erreicht.

(Überhaupt maße ich mir nicht an, irgendetwas treffender oder besser schreiben zu können als Herr Buddenbohm.)

Über Frau AnJe fand ich einen höchst lesenswerten Artikel über das Älterwerden. Hier ein Auszug:

In deinen 20ern sagst du: „vor etwa drei Jahren“, wenn du von Erinnerungen sprichst, von denen du nicht mehr genau weißt, wie lange sie her sind. Irgendwann hörst du dich dann plötzlich „vor etwa zwanzig Jahren“ sagen. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und zwar über Dinge, die sich anfühlen, als seien sie vor drei Jahren passiert.

[…]

Warum fühlt sich Älterwerden manchmal so abrupt und plötzlich an? Ein Grund ist, dass zwischen unserem realen und gefühlten Alter oft eine Lücke klafft. […] Wenn du 18 bist, fühlst du dich wie 18, wenn du 35 bist, fühlst du dich wie 35. Und wenn du 53 bist, fühlst du dich wie … 35. Ständig musst du zwischen deinem gefühlten Alter und deinem wahren Alter vermitteln. Ständig musst du dich selbst daran erinnern, dass du eben nicht mehr dieser Mensch bist und dich entsprechend verhalten solltest. […] Wenn du jung bist und mit einem Älteren sprichst, denke dran: Der glaubt im Innersten vielleicht, er wäre in deinem Alter. Viele solcher Gespräche sind asymmetrisch. Der Jüngere spürt die Kluft, der Ältere nicht so sehr.

Freitag: Morgens ließ die aufgehende Sonne das Herbstgold besonders eindrucksvoll leuchten, was den Fußweg ins Werk zu einem besonderen Vergnügen machte und was zweifellos unter der Rubrik „Was schön war“ zu verbuchen ist.

Herbstgold I
Herbstgold II

In einer Besprechung mit zwölf Personen breitete sich in kürzester Zeit das Tatsächlich-Virus aus, keiner kam in seinem Redebeitrag ohne mehrfachen Gebrauch des Wortes aus, selbst solche, die diesbezüglich bislang unauffällig waren. Keiner? Doch, einer schon, raten Sie gerne, wer.

Auf dem Rückweg kam mir am Rheinufer ein älterer Herr mit Krückstock entgegen, der, abgesehen von der auffallend bunten statt rentnerbeigen Bekleidung, starke Ähnlichkeit mit Opa Hoppenstedt aufwies, einschließlich Pantoffeln. Sein Gang war etwas ungelenk wie eine Marionette der Augsburger Puppenkiste, der Stock lief nicht synchron mit den Schritten, nur ungefähr bei jedem zweiten Schritt hatte er Bodenberührung. Vielleicht fühle der Mann sich ebenfalls wie 35, siehe oben, jedenfalls wirkte er recht zufrieden. Warum auch nicht.

Abends kochte der Liebste für uns Grünkohl. Das traf sich gut, so mussten wir an diesem Halloween-Abend nicht mehr raus.

Gunkl zum Tage:

Als kulturübergreifende Maßnahme kann man sich ja das Gruselige, das in Halloween abgefeiert wird, und den Weltspartag verbinden, indem man sich die eigenen Kontoauszüge betrachtet.

Im Übrigen ging Halloween spurlos an uns vorüber: Weder wurden wir von Süßigkeiten begehrenden Menschen belästigt noch unser Haus mit Eiern oder schlimmerem beworfen.

Samstag: Die Nacht endete für mich zeitig, da ein Besuch der Mutter in Bielefeld anstand, wie üblich und von mir bevorzugt mit der Bahn. Bei Anfahrt des Kölner Hauptbahnhofs wurde mehrfach hintereinander darauf hingewiesen, dass die Fahrt dort endete und man auf keinen Fall vergesse, auszusteigen, weil der Zug danach abgestellt würde und, so die Durchsage, „in der Abstellung ist kein Ausstieg mehr möglich“, ein Satz, der sich vielleicht auch für andere Lebensbereiche verwenden ließe, darüber gelegentlich nachdenken.

Der anschließende Regionalexpress traf mit geringer Verspätung in Köln ein, die sich bis Bielefeld auf eine halbe Stunde ausweitete, weil der Zug mehrfach im Stau stand und es streckenweise nur langsam voranging. Mich störte das nicht, ich hatte einen Fensterplatz und keinen Termin in Bielefeld einzuhalten, konnte mich vielmehr dem großen Vergnügen des Sitzens und Schauens hingeben. Passend zum Tag durchfuhren wir langsam Neuss-Allerheiligen, was mir bei regulärer Reisegeschwindigkeit wohl entgangen wäre.

„Wirtschaften für deinen Wohlstand“ steht auf einem Plakat am Bahnhof Düsseldorf-Flughafen, „Wir“ in einer anderen Farbe als „tschaften“. Ich weiß nicht, für welches Produkt das Plakat wirbt, jedenfalls hätte ich als Auftraggeber der Werbeagentur dieses Wortspiel aus der Hölle nicht durchgehen lassen. Ähnliches gilt für „Obiraschungen“, gesehen beim bekannten Baumarkt in Oelde.

In Hamm grüßte aus der Abstellung ein Zug der Eurobahn mit „Frohes neues Jahr“ in der Zielanzeige. „Denk absurd“ wird einige Kilometer weiter per Lärmschutzwandbeschmierung gefordert. Dem komme ich gerne nach.

Sonntag: Nach dem Frühstück verließ ich Bielefeld, die Rückfahrt verlief erfreulich ohne nennenswerte Verspätung und begleitet durch die üblichen Geräusche von Menschen und ihren Geräten. Wobei mich immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit Leute ihre Umgebung beschallen, sei es durch köpfhörerloses Musikhören und Filmeschauen oder durch wörtliche Rede. Ab Duisburg plapperten schräg hinter mir zwei rollkofferbewehrte junge Männer auf dem Weg zum Flughafen Köln / Bonn, in jedem Satz mindestens einmal „ischwör“.

Statt in Köln eine halbe Stunde auf den Regionalexpress zu warten, fuhr ich direkt rechtsrheinisch bis Bonn-Beuel. So kam ich noch in den Genuss des Sonntagsspaziergangs und kehrte ungefähr zur selben Zeit heim wie wenn ich in Köln gewartet hätte.

***

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 9/2023: Was?

Montag: Die Woche begann mit einer Dienstreise nach Göttingen. Mit der Bahn – trotz ihrer Unzuverlässigkeit bleibt sie mein bevorzugtes Verkehrsmittel für längere Strecken. Bei Verlassen des Hauses meldete die Bahn-App eine Verspätung von zehn Minuten wegen eines defekten Stellwerkes. Diese hielt sich bis kurz vor der neuen Abfahrtszeit, dann kam per Ansage die Verlängerung auf ca. fünfundzwanzig Minuten, die Stellwerksstörung war inzwischen zu einem Schaden an der Strecke mutiert. Ich sah es gelassen; da ich keinen Termin mehr hatte, war es egal, wann ich in Göttingen ankam, außerdem saß ich auf einer sonnenbeschienen Bank am Ende des Bahnsteigs, von wo aus ich in aller Ruhe zur Halteposition meines Wagens in Abschnitt F gehen würde, wenn die Einfahrt des Zuges in Aussicht gestellt wird, und fragte mich ein weiteres Mal, welcher Sitzmöbeldesigner aus der Hölle dieses kalte und unbequeme Teil aus Drahtgeflecht zu verantworten hat. Während ich saß und fragte, kam plötzlich und unangekündigt mein Intercity um die Ecke gebraust und nötigte mich zu einem Sprint in Abschnitt F.

Am Fahrtverlauf gab es nichts zu beanstanden. Etwas fragwürdig der Begriff „Komfort Check-in“ dafür, dass ich selbst über die App melde, den reservierten Platz eingenommen zu haben. Worin genau liegt hier der Komfort, und für wen?

Wenige Sitzreihen vor mir hörte jemand Kirchenchormusik, zur Freude der Mitreisenden nicht über Kopfhörer. Mich störte das nicht, jedenfalls nicht mehr als das Dauergequatsche der beiden Damen nebenan, deren eine zwei- oder dreimal die sakrale Musik beklagte, indes nichts dagegen unternahm und weiter mit ihrer Sitznachbarin schnatterte.

Um kurz nach elf teilte mir die DB Reisebegleitung per Mail mit, ich hätte in Hannover eine Minute Anschlusszeit. (Der Streckenschaden vor Bonn hatte sich mittlerweile in eine Bahnübergangsstörung gewandelt.) Eine Minute. In Hannover. Mit Wechsel von Gleis 10 nach Gleis 4. „Das merkt ihr selbst, oder?“ war ich kurz versucht, zu antworten.

Nach einem Halt auf freier Strecke vor Lindhorst war der Anschlusszug in Hannover weg. Das war nicht schlimm, der nächste ICE Richtung Göttingen kam bereits wenige Minuten später, er war angenehm unvoll und brachte mich mit nur fünfzehn Minuten Verspätung gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit am Ziel an. Da kann man nun wirklich nicht meckern.

Dienstag: Tagungsbedingt mangelte es heute an Alleinzeit, um hier was aufzuschreiben, wobei es auch nicht viel Aufschreibenswertes gab. Vielleicht dieses: »Der Hidden-Bar-Trend ist ein Spin-off des international wachsenden Mixology-Booms« war in einem Zeitungsbericht über sogenannte Flüsterbars zu lesen. Manchmal lautet die einzig angemessene Reaktion: Was?

Vielleicht noch dieses, aus der Weinkarte des Hotelrestaurants: »Was du heute kannst entkorken, das verschiebe nicht auf morgen.«

Mittwoch: Zwischen Tagungsende und Abendessen machte ich einen Spaziergang durchs Dorf, das Groß Ellershausen heißt (ein Ortsteil von Göttingen), es ist ganz idyllisch und nicht sehr groß. Es gibt wohl kleinere Ellershausens, sonst hieße es nicht so.

Donnerstag: Es gibt Arbeitstage, mit denen man uneingeschränkt zufrieden sein kann. So einer war heute: Das von mir initiierte und geleitete Arbeitstreffen lief sehr gut; fast möchte ich so weit gehen zu schreiben: Es hat Spaß gemacht. Auch die Bahn zeigte sich ungewohnt zuverlässig: Die Züge waren pünktlich und nicht allzu voll, auch traten keine menschlichen wie sakral-musikalischen Störgeräusche auf.

Abends zu Hause wurde nach dem Abendessen Likör gereicht. Da kann man zufrieden sein.

Freitag: Aus den Tagesnachrichten: Erdogan wird wahrscheinlich wiedergewählt, der weltweite CO2-Ausstoß hat ein Rekordniveau erreicht, die FDP fordert die Produktion von Verbrenner-Motoren über 2035 hinaus (und kommt damit womöglich durch), das Verkehrsministerium erwartet eine Zunahme des LKW-Verkehrs bis 2051 um mehr als die Hälfte (weshalb mehr Autobahnen benötigt werden), der Deutschlandtakt bei der Bahn wird erst 2070 vollständig eingeführt sein. Man braucht schon einen robusten Fatalismus, um nicht zu verzweifeln. Oder hilfsweise Likör.

„Postfiliale nach Raub auf dem Prüfstand“ schreibt das Darmstädter Echo. Journalismus vom Feinsten.

Kurt Kister über die Liebe der Menschen zu ihren Datengeräten:

Manchmal, wenn ich in der Stadt Dinge zu erledigen habe, denke ich an Meeresküsten. Dort nämlich, zum Beispiel auf dem Darß oder auf El Hierro, gibt es diese schiefen Bäume, deren Wuchs dauerhafte Winde zurechtgeblasen haben. Man nennt sie auch Windflüchter. Die Leute, die immer auf ihr Mobiltelefon blicken, während sie gehen, sind auch leicht schief. Sie halten das Gerät in einer Hand, der obere Rücken ist etwas nach vorne gebeugt, der Hals auch, das Gesicht halb nach unten gerichtet. Ich glaube, wenn das jemand drei, vier Jahre lang konsequent macht, wird er oder sie insgesamt auch schief werden. Vielleicht nicht so wie der Wacholder auf den Kanaren. Aber doch merkbar schief. Und in ein, zwei Jahrzehnten wird das große Sonstewas aus vielen Stadtbewohnern Handyschieflinge gemacht haben.

Deutscher Alltag

Samstag: Gestern Abend schauten wir den ESC-Vorentscheid. In diesem Jahr wird in Liverpool also eine alberne, brüllende Rockband unser Land vertreten ganz weit hinten platziert sein. Bezeichnenderweise nennen sie sich „Lord Of The Lost“, somit werden gar nicht erst falsche Hoffnungen geweckt. Ich wüsste nicht, welchem Beitrag ich bessere Chancen zugetraut hätte. Jedenfalls verstehe ich nicht, warum seit Jahren kein deutschsprachiges Lied mehr auf die Bühne gebracht wird, warum immer Englisch? Gut: Dieser Kasper, der sich Ikke Hüftgold nennt, wäre auch nicht besser. Aber wer weiß, man denke an den Auftritt von Gildo Horn 1998. Vielleicht sollte man einfach Barbara Schöneberger dorthin schicken, die die Sendung gestern nicht nur in bewährt-sympathischer Weise moderierte, sondern auch bewies, dass sie ziemlich gut singen kann.

Heute war nur der übliche Samstagskram ohne besonderen Notierenswert.

Sonntag: Den Sonntagsspaziergang vollzog ich heute erstmals mit Musikbegleitung aus den kabellosen Kopfhörern des Liebsten. Das ist einerseits angenehm, besonders bei Liedern, deren Takt dem meiner Schritte entspricht. Andererseits entgehen mir dadurch die Umweltgeräusche, was für viele vor allem junge Menschen ein wesentlicher Grund sein mag, niemals ohne – teils absurd große – Kopfhörer aus dem Haus zu gehen; mir indessen fehlt da was. Deshalb werde ich auch künftig hin und wieder ohne Elektrobeschallung rausgehen.

Der Weinkolumnist der Sonntagszeitung gibt Tipps zum Verschließen nicht leergetrunkener Wein- und Sekt-/Champagnerflaschen. Somit die Lösung für ein Problem, das in unserem Haushalt allenfalls theoretischen Charakter hat.

Zucken Sie auch innerlich ein wenig, wenn jemand „diesen Jahres“ sagt oder schreibt? Dieser und viele weitere beliebte Fehler sind aufgelistet auf der Seite Korrekturen.de, auf die ich ebenfalls durch die Sonntagszeitung aufmerksam wurde. Sich dort ein wenig umzuschauen ist lohnend. (Nicht enthalten ist dort übrigens „lohnenswert“. Auch der Duden führt es auf und findet daran nichts zu beanstanden. Offenbar bin ich der einzige, der das Wort für falsch hält.)

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die FDP verboten werden muss.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 22: Liebestolle Frösche und Anlass zum Sektverzehr

Montag: „In Wipperfürth gibt es keine queere Szene“, steht in der Zeitung. Das ist bedauerlich.

Abgesehen von einer weitgehend unbegründeten, diffusen Todessehnsucht gegen Mittag verlief der Tag ansonsten ohne erwähnenswerte Ereig- und Erkenntnisse. Also nichts, was sich mit einem Glas Rotwein am Abend nicht beheben ließe.

Was überleitet auf das neue Sammelgebiet des Geliebten: Liköre als Kaffeezusatz. Seitdem freut er sich wieder, wenn ich abends nach Hause komme.

Später auf dem Balkon sah ich eine kleine Fliege in meinem Weinglas ertrinken. Von den möglichen Todesursachen neben Totlachen wohl nicht die unangenehmste.

Dienstag: Zu den in Bonn immer noch ungewöhnlich hohen Inzidenzwerten erklärt die Stadtverwaltung: „Bei den täglichen Fallzahlen der Neuinfizierten von weniger als 50 Personen im Vergleich zur Bevölkerungszahl von etwa 330 000 haben kleine Schwankungen bei den Meldungen große Auswirkungen auf die Inzidenz: Eine zusätzliche Fallzahl von 24 Personen pro Tag an sieben Tagen macht eine Steigerung der Inzidenz von plus 50 aus.“ Wie wenn die Bahn die Gründe für ihre Unpünktlichkeit so erklärte: „Wenn zehn Züge zwanzig Minuten später im Zielbahnhof eintreffen, entsteht schnell eine Verspätung von zweihundert Minuten.“ #ahja

Das Mittagessen nahm ich auf einer Bank am Teich hinter dem Mutterhaus zu mir, wo liebestolle Frösche in großer Zahl um die Wette quakten. Das war sehr schön.

Mittwoch: Schon wieder Freitag. Da ich normalerweise donnerstags zu Fuß ins Werk wandele, was morgen wegen des Feiertages nicht möglich oder jedenfalls nicht sinnvoll ist, ging ich bereits heute. Am Rheinufer entdeckte ich dabei auf die Freiluft-Gallerie des Fotografen Till Eitel, der über eine längere Strecke Fotos aus Paris an Laternenpfählen angebracht hat; gleichsam Paris am Rhein:

Weitere Informationen dazu entnehmen Sie folgender Tafel:

Falls Ihr Interesse geweckt ist, sollten Sie sich beeilen, ehe die üblichen Idioten alle Bilder entfernt oder zerstört haben. Wie nicht anders zu erwarten, habe sie damit bereits begonnen. Warum nur liegt es offensichtlich in der menschlichen Natur, Dinge mutwillig und sinnlos kaputt zu machen?

Ansonsten können Sie sich die Bilder, auch die bereits fehlenden, bequem vom Sofa aus hier anschauen.

Am frühen Abend erreichte den Liebsten eine gute Nachricht, die Anlass zum Sektverzehr bot. Gut, ohne diese hätten wir vermutlich auch Sekt getrunken, allein schon wegen des vorgezogenen Wochenendes, aber so war es noch notwendiger.

Donnerstag: Irgendwas mit dem Leib Christi. Als Religionsschmarotzer nehme ich den arbeitsfreien Tag gerne an und danke dem Papstkonzern sehr dafür.

Wie man hört, werden dieser Tage wieder Grills „angeschmissen“, womit und warum auch immer. Was haben sie den Menschen getan?

Dazu passend die folgende Frage, die zufällig mein Ohr streifte: „Eine Schmeißfliege – wirft die eigentlich irgendwas, oder heißt die nur so?“

Freitag: Mittags war ich beim Friseur, nicht weil es dringend nötig gewesen wäre, sondern weil seit dem letzten Besuch vier Wochen vergangen sind. Manches tut man ja vor allem, weil der Kalender es vorschreibt, denken Sie an Weihnachten, das uns zum Glück nur einmal im Jahr zwingt, Teile der menschlichen Vernunft, an deren Existenz ich nicht nur wegen Weihnachten zunehmend zweifle, ich schweife etwas ab, außer Kraft zu setzen. Es ist ein größerer Friseursalon mit zahlreichen Friseurinnen und nicht ganz so vielen Friseuren, die darin ihr Handwerk ausüben, die meisten mit Tätowierungen, teilweise sehr lustigen Namen und einer Preisspanne zwischen neunundzwanzig und einundvierzig Euro, wobei ich nicht behaupten kann, mich von den Teuren besser frisiert zu fühlen als von den Günstigeren. Nachdem meine langjährige, nur geringfügig tätowierte Stammfriseurin, Frau U, seit ein paar Jahren nicht mehr dort arbeitet, bin ich auf der Suche nach einer neuen Stammkraft. Aber ach, wenn immer ich mich an eine gewöhnt hatte, verließ sie kurz darauf das Geschäft, wurde schwanger, solche Sachen halt, es lag hoffentlich nicht an mir. (Die Schwangerschaften ganz sicher nicht.) Heute bediente mich Herr M, ein jüngerer Friseur. Bevor er mir mit der Schermaschine zu Leibe rückte, steckte er rätselhafte Klemmen in mein Deckhaar, wozu auch immer, ich habe ihn nicht danach gefragt und voll auf sein Können vertraut. Und ich wurde nicht enttäuscht – er redete nicht Unnötiges, fragte nicht nach meinen Wochenendplänen, frisierte konzentriert mit zufriedenstellendem Ergebnis. Und günstig war er auch. Bei dem bleibe ich gerne, falls auch er länger bleibt. Wenigstens wird er voraussichtlich nicht schwanger.

Übrigens benötigt man für einen Friseurtermin keinen negativen Covid-Test mehr, für einen Biergartenbesuch schon. Es vereinfacht das Leben oft sehr, wenn man nicht danach strebt, alles zu verstehen. Das gilt für Haarklemmen wie für Testregelungen.

Samstag: Meinen ersten #WMDEDGT-Beitrag finden Sie hier zur gefälligen Kenntnisnahme. Alles Weitere zum Tag dorten.

Sonntag: Und auf einmal sind sie alle wieder da, die Menschen und ihre Autos, es wird einige Zeit dauern, bis ich mich daran wieder gewöhnt habe, eigentlich möchte ich das gar nicht. Am meisten von allen verachte ich – da wiederhole ich mich, sehen Sie es mir nach – diese bärtigen, zumeist migrationshintergründigen PS-Äffchen, die mit ihren albernen Knallkarren völlig sinnlos durch die Innenstadt brausen und sich dabei vermutlich untenrum gut bestückt vorkommen. Sollte das rassistisch sein, so bin ich wohl ein Teil-Rassist, sei es drum. Lange Zeit dachte ich, ich könnte Menschen nicht deshalb verachten, weil sie Dinge tun, die ich nicht oder anders tun würde. Heute weiß ich: Doch, ich kann. Vielleicht ist der Sinn des Sausens auch ähnlich dem des Froschquakens, nur bei weitem nicht so schön. PS-Fröschchen statt -Äffchen, was meine Verachtung nicht geringer macht. Mögen sie zur Hölle fahren.

Die Woche begann mit Todesbetrachtungen, so soll sie auch enden. Aus der F.A.S.: „Zumal ja eine Beerdigung infolge des Ablebens eine alte, bewährte Form des Recyclings ist, die als außerordentlich nachhaltig bezeichnet werden kann.“

Ich wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche ohne Gedanken an das Ende, allenfalls ans Wochenende!