Woche 48/2023: Zum ganzjährigen Verzehr zugelassen

Montag: Der Tag war meteorologisch herausfordernd. Wie angekündigt regnete es von morgens bis abends ununterbrochen, was Ende November keineswegs zu beklagen ist und mich veranlasste, mit der Bahn in die Werktätigkeit zu fahren. Ich empfinde es als großes Privileg, nach Lust und Wetter wahlweise mit dem Fahrrad, der Bahn oder auf Schuhsohlen zur Arbeit zu gelangen und nicht auf ein Auto angewiesen zu sein wie angeblich so viele, für die jeder weggefallene Parkplatz in der Innenstadt ein Skandal ist.

Mittags bemitleidete (müsste es nicht bemitlitt heißen?) ich vor dem Mutterhaus zwei Männer auf einer Hebebühne, die windumtost und regenbegossen die Lichterkette in den großen Weihnachtsbaum flochten, was schon in der warmen, trockenen Stube eine Zumutung ist.

In zwei Besprechungen hörte ich zwei Kollegen unabhängig voneinander betonen, sie hätten einen harten Anschlag, was ja immer auch ein Anschlag auf die Sprachhygiene ist.

Vielleicht plant derjenige auch einen Anschlag, der nämliches an eine Wand schrieb: »Ich räche mich AUCH für mein Aussehen«. Eine gewisse Unzufriedenheit klingt an.

Ansonsten gab es an dem Tag wenig auszusetzen.

Dienstag: Nach einem Wintereinbruch (Wo oder in was bricht der Winter ein?) fragte morgens der Mann im Radio: „Was macht der Schnee mit uns?“ Manchmal möchte man schon vor dem ersten Kaffee schreien.

Gehört in einer Besprechung: „… und zwar zeitnah, auf gut deutsch.“ Nein, lieber Kollege, das ist kein gutes Deutsch, verkniff ich mir anzumerken.

»Konkret bedeutet das, ich brauche keinen Glauben. Und zwar in keine Richtung, d.h. ich bin weder Atheist noch Agnostiker, ich bin einfach nur extrem desinteressiert.« Das und mehr kluge Sätze über Religion und Fußball schrieb Frau Anje hier.

Auf dem Rückweg zu Fuß vom Werk genehmigte ich mir bei passender Kälte am Rheinpavillon das erste Kirsch-Glühbier der Saison und, soweit ich mich erinnere, überhaupt meines Lebens, derweil erste zarte Schneeflocken auf das Rheinland rieselten. (Es ist nicht anzunehmen, dass sie mit irgendwem irgendwas machten.)

Kann man trinken, demnächst jedoch wieder Glühwein mit einem Hauch Amaretto.

Mittwoch: Menschen, die sich zu Fuß, Fahrrad, Auto, Elektroroller oder Rhönrad von hier nach dort und zurück begeben, als „Verkehrsteilnehmende“ zu bezeichnen, wie heute in einem Artikel gelesen, werde ich mir voraussichtlich nicht angewöhnen.

Auch gelesen und gelacht: »Ja, scheiß doch in die Heide!« anstelle von »Ja leck mich doch …« – Sie wissen schon.

Aus einer per Kurznachricht erhaltenen Stellenanzeige im Hotelbereich: »Zu den Arbeitsinhalten gehören vor allem einfache Buchungsaufgaben, die Steigerung des Kundenstroms sowie Entspannung und Zufriedenheit.« Den beiden letzten Anforderungen fühle ich mich gewachsen.

Abends auf dem Weihnachtsmarkt gingen wir an einer Gruppe junger Leute vorbei, die sich unter Begleitung einer Geige daran machte, „O du fröhliche“ anzustimmen. Das war schön. Noch schöner wäre es gewesen, hätte man sich auf eine gemeinsame Tonart geeinigt, idealerweise die der Geige.

Donnerstag: Die Stadt Düren beschafft Iglu-artige, verschließbare Zellen aus Hartschaumstoff mit Liegefläche als Behausungen für Obdachlose, wie morgens gemeldet wurde. Das ist erstaunlich, schließlich leben wir in Deutschland, wo mutmaßlich zahlreiche Vorschriften unter anderem zu Miet-, Sozial-, Steuer und Urheberrecht, öffentlicher Ordnung, Brand-, Daten-, Natur-, Klima- und Jugendschutz einer Aufstellung derartiger Behausungen auf öffentlichen Flächen entgegenstehen, hinzu kommen Einwendungen von ADAC, ADFC, PETA, Katholischer Kirche, Letzte Generation und Amnesty International. Gleichwohl: Gäbe es einen Spendenaufruf, sich als Bürger an der Beschaffung zu beteiligen, wäre ich sofort dabei.

Zu den Dingen, über die mich zu ärgern wundern ich nicht müde werde, gehört dieses: Morgens auf dem Weg ins Werk sah ich zwei Läufer, die nebeneinander plappernd mitten auf dem Radweg am Rhein liefen, so dass Fahrräder nur knapp an ihnen vorbei kamen. Wegen zu erwartender Ein- und Aussichtslosigkeit verzichtete ich auf eine Ansprache, zumal ich mich zu Fuß auf dem mindestens genauso breiten Fußweg fortbewegte.

»Wir sprechen Baumarkt«, stand an einem Lieferwagen am Wegesrand. Offenbar eine sehr seltsame Sprache.

Aus einem Zeitungsbericht über Forderung nach einer Umstrukturierung der Deutschen Bahn: »Die Bahn müsste eigentumsrechtlich in seine Einzelteile zerlegt werden.«

Freitag: Waren Sie auch vor längerer Zeit darüber irritiert, wie viele Eltern ihr Kind plötzlich Miles nennen und dies in der üblichen Weise auf ihrer Autoheckscheibe kundtun? Bis Sie bemerkt haben, dass es sich um Fahrzeuge eines neuen Mietwagenanbieters handelt? Einen solchen Wagen sah ich morgens am Straßenrand abgestellt; bei diesem hatte sich jemand die Mühe gemacht, jeweils den unteren Querbalken des E zu entfernen. Ich musste kurz und heftig grinsen.

Während der Rückfahrt mit dem Rad blies mir eisiger Gegenwind ins Gesicht und ließ mich leiden. Dabei sind es mal gerade um die null Grad. Wie soll das erst werden, wenn es richtig kalt wird?

Samstag: Nach dem Frühstück, das heute den Namen verdiente, da wir einigermaßen zeitig aus den Betten kamen, unternahmen der Liebste und ich eine Ausfahrt ins Ahrtal, wo wir drei Weingüter etwas reicher machten, auf dass die heimischen Vorräte in unserem Keller niemals versiegen. Wobei damit auch ohne die heutigen Einkäufe auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist, voraussichtlich werde ich den Tag nicht erleben, da die letzte Flasche entkorkt wird. Nach mir die Trinkflut.

Pendler über Dernau

Abends begaben wir uns mit befreundeten Nachbarn zum Gänseessen in einem Restaurant. Weiß der Himmel, warum Gänse ausschließlich in der Vorweihnachtszeit gegessen werden, wohingegen Hühner und Enten zum ganzjährigen Verzehr zugelassen sind. Wie auch immer, es war sehr angenehm mit angemessener, nicht ausufernder Weinbegleitung.

Sonntag: Als ich morgens Brötchen holte, erwachte langsam der Weihnachtsmarkt, die ersten Budenbetreiber bereiteten sich und ihr Angebot vor für den Besucheransturm des Tages. Eigentlich ist die Existenz von Weihnachtsmärkten ein Beweis für die Nichtexistenz Gottes: Wenn es ihn gäbe, würde er derartiges Treiben zu seines Sohnes Ehren wohl kaum dulden.

Nach Rückkehr hörte ich erstmals in diesem Jahr „Last Christmas“ im Radio, was ich nicht halb so schlimm finde wie die sprechenden, sich bewegenden Hirschköpfe an einer Weihnachtsmarktbude auf dem Münsterplatz.

Die Lesung am Abend hat Spaß gemacht, wobei sie mehr Besucher vertragen hätte. Mehrere, die mir ihr Kommen angekündigt hatten, blieben dann doch weg. Ich werfe das niemandem vor, vielleicht war der erste Adventssonntag nicht der ideale Termin dafür. Diejenigen, die da waren, hatten augenscheinlich Vergnügen, immerhin.

***

Kommen Sie gut, ohne Zorn und harte Anschläge durch die Woche.

Woche 7: Wir werden langsam dünnhäutiger

Montag: Morgens unterstrich heftiger Gegenwind meine Unlust, ins Werk zu radeln, die nur mittelbar auf den heutigen Konjunktiv-Rosenmontag zurückzuführen war. Eine generelle Unlust zeigten auch diverse digitalen Geräte, die meinen Tag begleiteten, angefangen morgens das Radio im Bad, das mehr zwischenspeicherte denn spielte, was bei dem Programm („Schreiben Sie uns Ihre Meinung auf Facebook, rufen Sie uns an unter … Hörer Mike aus Wuppertal findet, dass …“) nicht so schlimm ist, nur ist man es kaum noch gewohnt, nicht beschallt zu werden. Auch der Rechner im Büro lief sehr langsam und ließ sich Zeit beim Laden einer jeden Seite, die Skype-Verbindung brach mehrfach zusammen, was nicht immer ein Nachteil war.

Gegen Mittag setzte Regen ein, die angekündigte Glätte blieb erfreulicherweise aus, daher konnte ich mir ohne Zwischenfälle was aus der Kantine holen, heute sogar mit roter Götterspeise zum Nachtisch, die gab es lange nicht. Oft liegt das Glück gerade in diesen kleinen Dingen.

In der Zeitung war über „Impf-Vordrängler“ zu lesen, vielleicht ein Kandidat für das Wort oder Unwort des Jahres, oder ein zeitgemäßer Nachfolger für den inzwischen reichlich abgenutzten Warmduscher.

Ein anderes interessantes Wort ist „Urgroßtochter“, als welche in derselben Zeitung eine gewisse Paris Hilton bezeichnet wurde. Darf man aus Gründen der sprachlichen Korrektheit nicht mehr „Urenkelin“ sagen oder schreiben?

Dienstag: Erster Nachtrag zu gestern: Der Miniatur-Rosenmontagszug im Hänneschen-Theater zu Köln war wirklich anrührend schön.

Zweiter Nachtrag: Gestern Abend beim Zähneputzen spielten sie im Radio dieses Lied, das mir seitdem ziemlich hörenswert erscheint und daher als mehrstündiger Ohrwurm herzlich willkommen ist (ganz im Gegensatz zu dem schrecklichen, gleichwohl sehr beliebten „Jerusaleme“, dem zurzeit leider kaum zu entkommen ist).

Der Arbeitstag bestand im Wesentlichen aus einer durchaus angenehmen Abteilungstagung, aus gegebenem Anlass nur am Bildschirm. Abends gab es ein gemeinsames virtuelles Koch-Event. Ich würde meine Kollegen wirklich gerne wiedersehen, nach getaner Arbeit gut zusammen essen und ein paar Gläser leeren, quatschen und lachen, ein abschließendes Abendglas an der Hotelbar, das alles fehlt mir sehr. Sie auf einem kleinen Bildschirm in der heimischen Küche um mich zu haben, finde ich indessen äußerst deprimierend. Daher sah ich von einer Teilnahme ab; ich bitte um Verständnis.

Eine Frage, die ich mir schon oft stellte und vermutlich auch schon hier aufschrieb, stellt sich auch Kurt Kister in seiner wöchentlichen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung:

„Unerwartet verstorben“, wie es so schön heißt, wobei man sich fragt, woher die unheimliche Karriere des Verbs „versterben“ rührt, das eigentlich nur „sterben“ heißen sollte, auch weil man die Vorsilbe „ver-“ nicht braucht, um tot zu sein.

Ich freue mich immer wieder, wenn ich nicht der einzige bin, dem sowas auffällt.

Mittwoch: Nur auf Bildschirmen fand in diesem Jahr auch der politische Aschermittwoch der Parteien statt, was dessen generelle Überflüssigkeit noch einmal unterstreicht.

Nach der Eiseskälte vergangener Woche wird es langsam Frühling. Erstmals in diesem Jahr nahm ich das Mittagessen unter freiem Himmel hinter dem Mutterhaus ein, und die Singstarkrähe von gegenüber beschrie abends bei geöffnetem Fenster die Siedlung. Nur der Rheinauenpark ist noch nicht völlig vom Eise befreit.

Donnerstag: Vergangene Nacht träumte ich von Markus Söder, was genau, ist nicht mehr zu rekonstruieren, vielleicht besser so. Ansonsten schlief ich zufriedenstellend.

Abends war die häusliche Stimmung ohne erkennbaren Grund trübe, erst war der Eine übellaunig, dann der Andere, ein Zustand, den ich nur schwer ertrage. Da ich mich daran unschuldig wähnte, nahm ich es hin und spielte mit der Eisenbahn. Das mag infantil klingen, entspannt mich aber sehr; andere geben sich Ballerspielen hin oder besaufen sich. Wir werden langsam alle dünnhäutiger.

Was mich zu einem spontanen Verslein inspirierte: „Ich glaube, bald / es heftig knallt.“

Freitag: Hier erhalten Sie interessante Einblicke in den Arbeitsalltag eines Human Identity Brand Synergist.

„Wer ist die verrückteste Person in deinem Leben?“, fragt Franco Bollo. Ohne lange zu überlegen könnte ich dieses Frage spontan beantworten, doch werde ich mich hüten, am zurzeit recht dünnen Faden des häuslichen Friedens unnötig zu zerren.

Samstag: Laut Zeitung haben heute diejenigen Namenstag, die Korona heißen. Das dürfte wohl zurzeit so ziemlich der einzige Lichtblick in ihrem Leben sein.

Wegen des akuten Frühlingseinbruchs verband ich den Gang zum Altglascontainer mit einem Spaziergang. Am Straßenrand parkte ein Golf II, so einer wie ich ihn früher fuhr, mit H-Kennzeichen. Abgesehen von der Fragwürdigkeit, Halter so alter Karren Steuererleichterungen zu gewähren: Was sagt das über mein Alter aus? Bekomme ich demnächst auch so ein H verpasst, und wenn ja, wohin?

Sonntag: Ich sehe Licht / es knallt noch nicht.

Es geht auch ohne Knallerei – gesehen im Vorbeigehen:

Gelesen – am 9. März 1931 entschied der Disziplinarhof zu Leipzig:

„Die Betätigung eines Beamten für die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) ist ein Dienstvergehen, da sie den Umsturz der bestehenden Staatsordnung im Wege der Gewalt beabsichtigt.“

Quelle: EISENBAHN-KURIER

Das hat dann so viel auch nicht genützt.

Auch gelesen – über Werbung:

»Es gibt Werbung, die einen todsicher davon abhält, das beworbene Produkt zu kaufen. Bei manchen löst etwa die Radiowerbung für ein Müsli, die mit einem schwäbelnden „Woisch Karle“ beginnt, Mordphantasien aus.«

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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