Vom richtigen Moment

Es passiert immer im falschen Moment: Durchfall. Doch sorget euch nicht – hiergegen gibt es ein wirksames Mittel. Im Vorabendprogramm. Wer heute Werbefernsehen schaut, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Menschheit sieche nur so dahin. Lag der Daseinszweck von Fernsehwerbung noch in den 70er- und 80er-Jahren fast ausschließlich in der Anpreisung von Waschmittel, Haarshampoo, goldkantigen Gardinen und Kaffee mit Verwöhnaroma, so sind wir heute angehalten, Mittel zu erstehen gegen Husten, Schnupfen, Zahnschmerzen, nachlassende Fleischeslust, Verstopfung, Scheidentrockenheit oder -pilz, Nervosität und steile Treppen; vorbei die Zeiten großer Identifikationsfiguren des Werbefernsehens wie Klementine, Tilly, Frau Sommer, Herrn Kaiser, Marie-Luise Hasel und des Persil-Pastors, ich beklagte es bereits an früherer Stelle. Stattdessen Abgespanntheit und Apothekenumschau, Risiken und Nebenwirkungen.

Zurück zum Durchfall. Im aktuellen Werbespot betrachtet der stolze Brautvater seine Tochter, die sich heute aufmacht, ihren Liebsten zu ehelichen, als ein Grummeln in seiner Bauchgegend die aufziehende Darmverstimmung anzeigt. Schon sagt die Stimme aus dem Hintergrund den oben zitierten Satz mit dem falschen Moment. Eine wahrlich tragische Situation: Statt die Kleine, vielleicht nach zahlreichen gescheiterten Versuchen, immer geriet sie an den falschen, endlich an den Traualtar zu führen, wird er den Tag hinter verschlossener Tür verbringen, um sein übel riechendes Geschäft zu verrichten. Doch kein Grund zur Verzagtheit: Zwei bis drei Kapseln des angepriesenen Produkts, schon versiegt der braune Strom, die Vermählung ist gerettet, Torte statt Toilette.

Es passiert immer im falschen Moment – daraus folgt: Es gibt auch einen richtigen Moment. Für Durchfall. Nur: wann ist der? Stellen wir uns das Rentnerehepaar Schmidtpeter vor, wie es an einem Sonntagmorgen von den Sonnenstrahlen geweckt wird, die durch die kleinen Ritzen des Schlafzimmerrollos dringen; dank der am Vorabend eingenommenen Mittel gegen nächtlichen Harndrang und innere Unruhe konnten sie die Nacht durchschlafen.
Er: „Weißt du was, Hilde, heute ist ein wunderbarer Tag für Sprühdurchfall, was meinst du?“
Sie: „Ja, Heinz-Günther, das ist eine gute Idee, ich wollte sowieso in den nächsten Tagen den Kloverleger waschen, er riecht schon etwas streng, findest du nicht? Und weißt du was: dann nehme ich mir heute einen Schwindelanfall, den hatte ich lange nicht, dann wackelt immer alles so schön.“
Er: „Wohlan, so tun wir. Das wird ein richtig schöner Sonntag.“
Vogelzwitschern, Geigenmusik in Dur.
Fröhlich schwingen sie sich aus dem Ehebett, er schafft es gerade noch ins Bad, ohne im Flur eine farbige Spur zu legen, leider nicht mehr ganz bis zum Topf, stattdessen erhält die altrosafarbene Badezimmergarnitur einen frischen Überzug; sie hingegen fällt schwindelig die Treppe hinunter und bricht sich das Bein. Ärgerlich, nun kann sie nicht den Klovorleger reinigen. Der richtige Moment?

Gestern fragte mich mein Freund Jens, ob ich auch dabei bin, wenn er und seine Freundin Lisa nächsten Monat umziehen; Fabian, Klaus, Thorsten, Rainer, Stefan und Christian hätten auch schon ihre Hilfe zugesagt. Ich mag Jens und Lisa sehr, auch die anderen mag ich. Gut, Rainer nicht so, aber egal. Leider wohnen die beiden im fünften Stock, ohne Aufzug.

Doch, es gibt den richtigen Moment für Durchfall, definitiv. Und ich weiß auch schon, wann.

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