Woche 40/2022: Kinderwagenhalterungen für Datengeräte und Weintrinken für den Wiederaufbau

Montag: Sonniges Herbstwetter motivierte mich an diesem Einheitsfeiertag zu einem längeren Spaziergang, der unter anderem entlang der Universitäts-Institute in Bonn-Poppelsdorf führte.

„Mit Verstand und Hammer“ (oder so ähnlich, mein Großes Latinum ist etwas in die Jahre gekommen)

»Zauberland is‘ abgebrannt“, steht auf einem Banner an der Mauer des Alten Friedhofes in der Innenstadt. Wer Urheber dieser Schrift ist und was damit zum Ausdruck gebracht werden soll, war im Vorbeigehen nicht zu erkennen; diesbezüglich Auskunft erteilende beziehungsweise Flugblätter aufdrängende Personen fehlten ebenso. Vielleicht ist es einfach als Zusammenfassung der derzeitigen Weltlage zu interpretieren, ganz unpassend wäre es nicht.

Zunehmend ist das Wort „Öffis“ zu hören und lesen, wenn Bus und Bahn gemeint sind. Damit muss man wohl leben.

Dienstag: Morgens während der Fahrradfahrt ins Werk unterstrich Gegenwind den Widerwillen. Auch mein Mitarbeiterausweis zeigte sich zunächst unwillig, mir Zugang zum Büro zu verschaffen, was nur zu kurzer Verzögerung führte, da die anwesende Kollegin mir mit ihrem Ausweis die Tür öffnete. Wenig später funktionierte auch mein Ausweis wieder; die Welt ist manchmal voller kleiner Wunder.

Der Maileingang war für zwei Wochen Abwesenheit erstaunlich gering, auch inhaltlich frei von Unbill. Die meiste Energie kostete, wieder Interesse entgegenzubringen den Dinge, für die zu interessieren sie mich gut bezahlen.

Mittwoch: Die Tageslaune war schon wesentlich besser als gestern, ich ließ mich gar hinreißen, an einer Teams-Besprechung teilzunehmen, zu der man mich spontan hinzuzuziehen suchte; üblicherweise ignoriere ich solche Überfallversuche, da ich sie für eine Unart halte. Des Weiteren wies der Kalender heute nur eine Besprechung auf, die gegen Mittag abgesagt wurde; da gibt es nichts zu beklagen.

Als besonders dümmliches Synonym las ich in der Zeitung das Wort „Sohlengänger“ für Bär, was die üblichen „Vierbeiner“ und „Samtpfoten“ an Dämlichkeit erblassen lässt.

Abends öffnete ich aufgrund eines Versehens, vermählt mit Unkenntnis, eine Flasche Burgunder, deren Preislage einem gewöhnlichen Mittwochabend unangemessen war. Nun, da sie schonmal entkorkt war – was soll man machen.

Donnerstag: Vergangene Nacht schlief ich schlecht. Ein Zusammenhang mit dem Vorabendburgunder ist auszuschließen.

Morgens auf dem Weg ins Werk überholte ich zu Fuß am Rheinufer einen jungen mutmaßlichen Vater, der dadurch auffiel, dass er mit beiden Händen den Kinderwagen schob, das heißt, im Gegensatz zu den meisten Eltern dieser Generation schaute er beim Schieben der Brut nicht aufs Datengerät. Gibt es wirklich noch keine Kinderwagenhalterungen für Datengeräte, die man am Griff befestigt und so schiebend draufschauen kann, oder habe ich das nur noch nicht gesehen? Flösse statt Beamten- etwas Gründermentalität in meinen Adern, würde ich diese Geschäftsidee vielleicht aufgreifen und reich werden.

Etwas später ging über dem Siebengebirge die Sonne auf. Beim Anblick eines Sonnenaufgangs kommt mir jedes Mal ein Musikstück in den Sinn, das wir vor geraumer Zeit in der Grundschule im Musikunterricht durchnahmen. Es hieß, so weit ich mich erinnere, „Sunrise Melody“ und war von, da bin ich mir unsicher, Carl Orff oder Béla Bartók. Die Melodie habe ich noch im Ohr und kann sie problemlos pfeifen oder summen – es beginnt verhalten mit Flötenspiel, bei jeder Strophe kommen weitere Instrumente hinzu, bis es in orchestraler Wucht endet; von der Machart her ähnlich dem Boléro von Ravel, nur ganz anders. Bereits mehrfach habe ich in des Netzes Weiten danach gesucht, es jedoch bislang nicht gefunden. Wenn Sie das Stück kennen und gar wissen, wo es zu finden ist, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar. (Vielleicht hieß es auch gar nicht „Sunrise Melody“ und war weder von Orff noch Bartók; die Erinnerung verfärbt sich bekanntlich ganz gerne nach so vielen Jahren.)

„Dank Feiertag ist heute schon Donnerstag“, schrieb einer in einer Mail. Welcher Tag wäre heute wohl ohne den Feiertag?

Freitag: „Unsere leeren Flaschen recyceln wir. Warum nicht unsere Straßen?“ steht auf einem Plakat in der Innenstadt. Vielleicht, weil wir keine leeren Straßen haben?

Samstag: Ein Experte im Radio zur Frage, warum wir uns parfümieren: „Wir riechen lieber wie ein Ochse ums Gemächt als nach Mensch.“

Den Tag verbrachte ich mit befreundeten Nachbarn im Ahrtal, wo wir von der Möglichkeit Gebrauch machten, an mehreren Ausschankhütten die Wanderung mit Weintrinken für den Wiederaufbau zu verbinden. An einer der Schankstellen wurde üble Partysaufmusik gespielt, die den Trinkgenuss nur geringfügig zu trüben vermochte. Doch steckt im Übel oft auch was Gutes – eine Liedzeile habe ich mir gemerkt: „Langweilst du dich genauso wie mich?“ Eine Frage, die sich gut in einer Besprechung anbringen lässt.

Im Hintergrund das noch immer von den Zerstörungen der Flut gezeichnete Dernau
Oberhalb von Dernau scheint die Weinwelt in Ordnung

Sonntag: Beim Spaziergang zog ich mir am Rhein den Unmut eines entgegenkommenden Radfahrers zu, weil ich ihm auf dem Fußgängerstreifen keinen Platz machte. Von einer Belehrung oder gar Beschimpfung sah ich ab, das führt zu nichts.

Es bleibt schwierig

Ein Punkt ist oft überzeugender als eine Aneinanderreihung von Ausrufezeichen. Daher endet auch diese Woche mit einem Punkt.

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Kommen Sie gut durch die neue, feiertaglose Woche.

Die Vernunft ist weiblich

Eine der Hauptbeschäftigungen liegt heute darin, sich zu empören. Zurzeit wohl beliebtestes Empörungsobjekt ist der sogenannte Sexismus: Von der Wand einer Hochschule muss ein harmloses Gedicht entfernt werden, weil sich Frauen durch die vom Dichter ihnen, Blumen und Alleen entgegen gebrachte Bewunderung angegriffen fühlen; Gemälde in Museen werden verhüllt oder abgehängt, weil jetzt, nach Jahrhunderten, jemand Anstoß nimmt an einer blanken Brust. Kaum vergeht ein Tag, an dem nicht ein Prominenter angeprangert wird, weil er in der Vergangenheit mal eine schlüpfrige Bemerkung fallen ließ oder auch nur einen unzüchtigen Gedanken hegte.

Besonders die Sprache steht immer wieder im Zentrum der Kritik. An amerikanischen Universitäten soll es mittlerweile sogar Hinweise am Anfang von Texten geben, die vor möglicher Erwachsenensprache warnen, ähnlich der Warnung auf diversen Lebensmittelverpackungen vor möglichen Erdnussspuren. Wie schnell ist der junge Mensch traumatisiert, weil er in einem Botanik-Fachbuch unvorbereitet auf das Wort „Vergeilung“ stieß *.

Zugegeben: Auch ich empöre mich immer wieder gerne, manchmal mit geradezu kindischem Eifer, über schludrigen Sprachgebrauch, wie fehlende Bindestriche („Deppen Leerzeichen“) oder falschen Genus des Possessivpronomens („Qualität hat seinen Preis“). Niemals schriebe ich ein Wort mit Binnen-I, Gender-Sternchen oder -Unterstrich (und welche unschönen Varianten es sonst noch gibt), wenn eindeutig ist, was gemeint ist. Ein Mensch ist ein Mensch, eine Person ist eine Person und ein Mitglied ist ein Mitglied. (Irgendein SPD-Heini sprach neulich im Fernsehen von „Mitgliedern und Mitgliederinnen“.)

Weiterhin rege ich mich immer wieder gerne auf über fingerhutgroße Saftgläser bei Hotel-Frühstücksbüffets und das Unvermögen der Bahnindustrie, moderne Züge zu bauen, bei denen jeder Fensterplatz wirklich einen Blick nach draußen ermöglicht statt gegen eine graue Innenverkleidung. (Entstanden ist dieser Aufsatz übrigens in einem ICE, Sie ahnen vielleicht, wo ich währenddessen saß.) Doch fiele es mir nicht ein, wegen solcher Quisquilien, die dem allgemeinen Lebens-Unbill zuzurechnen sind wie Glatteis oder Max Giesinger, vor Gericht zu ziehen.

Genau das tat eine Dame aus dem Saarland, die dort zu erreichen suchte, in Formularen der Sparkasse künftig als „Kundin“ angesprochen zu werden und nicht länger allgemein als „Kunde“. „Ich sehe das überhaupt nicht mehr ein, dass ich als Frau totgeschwiegen werde“, so ihre Argumentation, die ein wenig an Frau Hoppenstedt in dem bekannten Loriot-Sketch erinnert, nachdem der Reporter von Radio Bremen sie gefragt hat, was ausgerechnet sie als Frau dazu bewogen habe, das Jodeldiplom zu machen. Die Saarländerin klagte über mehrere Instanzen bis zum Bundesgerichtshof.

Doch es gibt Lichtblicke im dichter werdenden Nebel der Vernunftsverschleierung:

Unsere Bundeskanzlerin daselbst (ohne Binnen-Dings) wies erst kürzlich das Ansinnen der Gleichstellungsbeauftragten des Familienministeriums ab, unsere Nationalhymne umzudichten; unter anderem sollte „Vaterland“ zu „Heimatland“ werden (was ich persönlich nicht besonders schlimm fände, und Herr Seehofer als zuständiger Minister vermutlich auch nicht).

Und der Bundesgerichtshof hat die oben genannte Klage aus dem Land der Kramp-Karrenbauers nun abgewiesen. Die seit jeher gebräuchliche männliche Kollektivform sei auf Formularen klar und ausreichend. Das Hinzufügen des weiblichen Geschlechts (und konsequenterweise weiterer) würde Formulare und Texte unnötig verkomplizieren.

Allen Damen, die mir nun böse sind, sei gesagt: Ich erkenne an und hege keinen Zweifel daran, dass die Vernunft weiblich ist.

(Im Übrigen hätte auch ich allen Grund, mich diskriminiert zu fühlen: Wann sieht man mal eine Werbung, in der zwei oder drei Männer oder Frauen eindeutig als Lebens- und Liebespartnerschaft in Erscheinung treten? Stattdessen immer nur Vater, Mutter, zwei Kinder und der Hund in einem weißen Neubaugebiet-Eigenheim, oder junge Hetero-Paare mit Dreitagebart (er) und entblößten Fesseln (beide), die sich mit Fotogrinsen gegenseitig Lebensmittel in den Mund schieben. Komisch, dagegen wettert niemand.)

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Siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergeilung