Die Vernunft ist weiblich

Eine der Hauptbeschäftigungen liegt heute darin, sich zu empören. Zurzeit wohl beliebtestes Empörungsobjekt ist der sogenannte Sexismus: Von der Wand einer Hochschule muss ein harmloses Gedicht entfernt werden, weil sich Frauen durch die vom Dichter ihnen, Blumen und Alleen entgegen gebrachte Bewunderung angegriffen fühlen; Gemälde in Museen werden verhüllt oder abgehängt, weil jetzt, nach Jahrhunderten, jemand Anstoß nimmt an einer blanken Brust. Kaum vergeht ein Tag, an dem nicht ein Prominenter angeprangert wird, weil er in der Vergangenheit mal eine schlüpfrige Bemerkung fallen ließ oder auch nur einen unzüchtigen Gedanken hegte.

Besonders die Sprache steht immer wieder im Zentrum der Kritik. An amerikanischen Universitäten soll es mittlerweile sogar Hinweise am Anfang von Texten geben, die vor möglicher Erwachsenensprache warnen, ähnlich der Warnung auf diversen Lebensmittelverpackungen vor möglichen Erdnussspuren. Wie schnell ist der junge Mensch traumatisiert, weil er in einem Botanik-Fachbuch unvorbereitet auf das Wort „Vergeilung“ stieß *.

Zugegeben: Auch ich empöre mich immer wieder gerne, manchmal mit geradezu kindischem Eifer, über schludrigen Sprachgebrauch, wie fehlende Bindestriche („Deppen Leerzeichen“) oder falschen Genus des Possessivpronomens („Qualität hat seinen Preis“). Niemals schriebe ich ein Wort mit Binnen-I, Gender-Sternchen oder -Unterstrich (und welche unschönen Varianten es sonst noch gibt), wenn eindeutig ist, was gemeint ist. Ein Mensch ist ein Mensch, eine Person ist eine Person und ein Mitglied ist ein Mitglied. (Irgendein SPD-Heini sprach neulich im Fernsehen von „Mitgliedern und Mitgliederinnen“.)

Weiterhin rege ich mich immer wieder gerne auf über fingerhutgroße Saftgläser bei Hotel-Frühstücksbüffets und das Unvermögen der Bahnindustrie, moderne Züge zu bauen, bei denen jeder Fensterplatz wirklich einen Blick nach draußen ermöglicht statt gegen eine graue Innenverkleidung. (Entstanden ist dieser Aufsatz übrigens in einem ICE, Sie ahnen vielleicht, wo ich währenddessen saß.) Doch fiele es mir nicht ein, wegen solcher Quisquilien, die dem allgemeinen Lebens-Unbill zuzurechnen sind wie Glatteis oder Max Giesinger, vor Gericht zu ziehen.

Genau das tat eine Dame aus dem Saarland, die dort zu erreichen suchte, in Formularen der Sparkasse künftig als „Kundin“ angesprochen zu werden und nicht länger allgemein als „Kunde“. „Ich sehe das überhaupt nicht mehr ein, dass ich als Frau totgeschwiegen werde“, so ihre Argumentation, die ein wenig an Frau Hoppenstedt in dem bekannten Loriot-Sketch erinnert, nachdem der Reporter von Radio Bremen sie gefragt hat, was ausgerechnet sie als Frau dazu bewogen habe, das Jodeldiplom zu machen. Die Saarländerin klagte über mehrere Instanzen bis zum Bundesgerichtshof.

Doch es gibt Lichtblicke im dichter werdenden Nebel der Vernunftsverschleierung:

Unsere Bundeskanzlerin daselbst (ohne Binnen-Dings) wies erst kürzlich das Ansinnen der Gleichstellungsbeauftragten des Familienministeriums ab, unsere Nationalhymne umzudichten; unter anderem sollte „Vaterland“ zu „Heimatland“ werden (was ich persönlich nicht besonders schlimm fände, und Herr Seehofer als zuständiger Minister vermutlich auch nicht).

Und der Bundesgerichtshof hat die oben genannte Klage aus dem Land der Kramp-Karrenbauers nun abgewiesen. Die seit jeher gebräuchliche männliche Kollektivform sei auf Formularen klar und ausreichend. Das Hinzufügen des weiblichen Geschlechts (und konsequenterweise weiterer) würde Formulare und Texte unnötig verkomplizieren.

Allen Damen, die mir nun böse sind, sei gesagt: Ich erkenne an und hege keinen Zweifel daran, dass die Vernunft weiblich ist.

(Im Übrigen hätte auch ich allen Grund, mich diskriminiert zu fühlen: Wann sieht man mal eine Werbung, in der zwei oder drei Männer oder Frauen eindeutig als Lebens- und Liebespartnerschaft in Erscheinung treten? Stattdessen immer nur Vater, Mutter, zwei Kinder und der Hund in einem weißen Neubaugebiet-Eigenheim, oder junge Hetero-Paare mit Dreitagebart (er) und entblößten Fesseln (beide), die sich mit Fotogrinsen gegenseitig Lebensmittel in den Mund schieben. Komisch, dagegen wettert niemand.)

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Siehe hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Vergeilung

Woche 48: Der Kalender ist sehr dünn geworden

Montag: Die Olympischen Spiele 2018 bis 2024 werden nicht von ARD und ZDF übertragen, sondern auf Eurosport. Mir ist es egal, auf welchem Kanal ich sie mir nicht ansehen werde. – Als ein in den Tagesthemen befragter Mensch von „Herrn Assad“ spricht, hört sich das irgendwie falsch an. – Derweil berichtet die Zeitung, Horst Seehofer habe Donald Trump dafür gelobt, „dass er die Menschen direkt anspricht und ihre Lebensrealität berücksichtigt. Nicht abstrakt, nicht verschwurbelt, sondern mit konkreten Antworten“, so der Bayernpräsident. An anderer Stelle ist zu lesen, Seehofer habe einen Schwächeanfall und ein „kurzes Unwohlsein“ erlitten. Offensichtlich.

Dienstag: Ob der Kälte führen Menschen seltsame Dialoge, zum Beispiel diese beiden Damen heute Morgen im Aufzug: „So ’ne Daunenjacke hat ja was von ’ner Bettdecke.“ – „Stimmt, aber die sind trotzdem warm.“ – Ein wenig erfüllt es mich mit Stolz, bereits heute in meiner privaten Aufgabenliste zwei Häkchen für erstandene Weihnachtsgeschenke setzen zu können.

Mittwoch: Erkenntnis am Morgen: Das Schlimme am öffentlichen Personennahverkehr sind nicht Körpergerüche und Mobilgeschwätz, sondern Leute, die, sobald sie die Bahn betreten haben, einfach stehen bleiben.

Donnerstag: Nur für Menschen mit zumindest teilweise analoger Lebensweise wahrnehmbar: Der Kalender ist sehr dünn geworden.

Freitag: Auf dem Bonner Weihnachtsmarkt gibt es gegenüber vom Kaufhof eine vorzügliche Feuerzangenbowle.

Samstag: Ich habe mir die deutsche Ausgabe der Charlie Hebdo besorgt. Ein erstes oberflächliches Durchblättern führt eher zu Schulterzucken denn zu Erheiterung.

Sonntag: Beim Zähneputzen am Morgen kam „We Are The World“ im Radio. Als gegen Ende Stevie Wonder einsetzte, musste ich grinsen, weil mir wieder dieser Witz einfiel, den ich wegen seiner politischen Unkorrektheit hier unmöglich niederschreiben kann.