Noch nicht

Hinweis: Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Firmen wären rein zufällig.

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Noch immer ging er morgens einigermaßen gerne ins Büro, montags etwas weniger, aber grundsätzlich schon. Mit seinem Chef und den Kollegen der Abteilung kam er gut aus, und seine Tätigkeit machte ihm Spaß, auch wenn sie Außenstehenden nicht so leicht zu erklären war wie zum Beispiel die eines Dachdeckers. Allein schon deshalb vermied er es möglichst, in der Freizeit über den Job zu reden; die Trennung Arbeit und Privatleben war ihm heilig, ‚Homeoffice‘, allein schon das Wort, ein Gräuel, Zuhause und Büro, das schloss sich gegenseitig aus wie Öl und Wasser.

Früher war er stolz darauf gewesen, für dieses Unternehmen zu arbeiten. Heute? Es gab sicher schlechtere Arbeitgeber als diesen, aber stolz? Es hatte sich vieles geändert seit damals, als er angefangen hatte, vor über zwanzig Jahren. Das Management hatte die Schraube kontinuierlich angezogen, zum Wohle des Gewinns und der Aktionäre, auch zur Sicherung der Arbeitsplätze, aber immer weniger Mitarbeiter verstanden noch die Strategie, und das nicht nur, weil die letzte große Kommunikationskampagne so viele englische Begriffe enthielt. EBIT, Effizienz, Herausforderungen, Performance, Wettbewerb waren die Schlagworte; wir müssen die größten am Markt werden, über Ländergrenzen hinweg, koste es, was es wolle. Parolen nach innen und nach außen, die ein schlecht programmierter Phrasengenerator erzeugt haben könnte und die oft an die Propaganda früherer Ostblockstaaten erinnerten. Und der eine Großkunde, der das Unternehmen fest in seiner Zange hatte, dem jeder Wunsch erfüllt wurde, und wenn es der größte Unfug war, aber das sagte man besser nicht laut.

Schon lange hatte er für sich beschlossen, keine weitere Karriere machen zu wollen, sich mit dem zufrieden zu geben, was er erreicht hatte, und das war nicht schlecht. Karriere, das überließ er gerne den jungen dunkelbeanzugten Typen mit den streng gescheitelten Gelfrisuren, die das Gebäude erst spät abends und nie ohne Laptoptasche verließen und die im Aufzug nicht grüßten, weil sie wie hypnotisiert auf ihr Datengerät starrten; die die Parolen glaubten und nachplapperten wie Dohlen, die für einen tollen Titel gerne ihre Seele an das Unternehmen verkauften, immer erreichbar, Tag und Nacht, am Wochenende und im Urlaub.

Also spielte er ihr Theater mit, solange er noch eine aktive Rolle innehatte, immerhin bezahlten sie ihn gut dafür. Das konnte sich jederzeit ändern, dessen war er sich bewusst, schon mancher Kollege wurde von heute auf morgen zum Statisten oder gar Zuschauer, „der macht jetzt Projekte“ hieß es dann. An konspirativem Gewisper in der Kaffeeküche beteiligte er sich nicht. Nein, innerlich gekündigt hatte er nicht. Noch nicht.

Gratwanderung

Eher zufällig wurde ich auf das Projekt *.txt im Blog Neon|Wilderness aufmerksam. Ein wenig erinnert es an die Schulzeit, als der Deutschlehrer ein Thema an die Tafel schrieb, zum Beispiel „Mein peinlichstes Nahtoderlebnis“ oder „Warum mich mein Schutzengel mittlerweile hasst und ich trotzdem so weiter mache“, und wir dann bis zur nächsten Deutschstunde Zeit hatten, darüber einen Aufsatz zu schreiben, Sie erinnern sich: Einleitung, Hauptteil, Schluss. So ähnlich ist *.txt auch, nur gibt Dominik, der Initiator, nicht ein Thema vor, sondern nur ein Wort, und die Teilnehmer haben nicht nur einen oder zwei Tage Zeit, darum einen Aufsatz zu spinnen, sondern sage und schreibe drei Wochen. Und benotet wird das ganze am Ende (hoffentlich) auch nicht. 

 

„Das ist doch reizend“, dachte ich mir und meldete mich spontan an. Mit Spannung erwartete ich also das Wort, welches für den 7. Januar angekündigt war, und also kam es und lautete: „Gratwanderung“. Gratwanderung? Hm – daraus sollte sich was machen lassen, so mein erster Gedanke, aber was? Eine spontane Idee hatte ich nicht, also erstmal gedanklich ablegen und auf Inspiration hoffen, drei Wochen sind eine lange Zeit. 

 

Dann kamen plötzlich noch am selben Tag die schrecklichen Meldungen aus Paris, wo wahnsinnige Islamisten auf perfide Weise deutlich machten: auch im einundzwanzigsten Jahrhundert, auch in unserer „freien westlichen Welt“ ist die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit, erst recht wenn sie in Form von Satire daher kommt, immer noch riskant. (Mehr möchte und werde ich nicht dazu schreiben, weil erstens dazu bereits sehr viel geschrieben wurde und zweitens von Leuten, die das viel besser können.)

 

Doch muss man gar nicht den Wahnsinn des Terrors vor Augen haben, es genügt schon ein Blick in die Arbeitswelt. Große Konzerne rühmen sich, das Wohl ihrer Mitarbeiter als eines der wichtigsten Unternehmensziele hinzustellen, bezeichnen sie gar gerne als ihr „Aushängeschild“ (was nicht selten bedeutet, dass sie sie im Regen stehen lassen), predigen den offenen Dialog zwischen Führung und Fußvolk. Die Wahrheit sieht oft anders aus: Wie weit kann ich beim jährlichen Mitarbeitergespräch gehen, wie offen kann ich dem Chef seine – nennen wir es mal – Optimierungspotentiale aufzeigen, ohne berufliche Nachteile befürchten zu müssen? Haben wir es nicht schon erlebt, dass allzu offene Kollegen in Ungnade fielen und plötzlich aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen die Abteilung oder gar das Unternehmen verließen?

 

Oder nehmen wir die Partnerschaft. Soll ich dem Partner ständig vorhalten, was mir an ihm nicht passt, etwa dass er „ständig“ seine Hose irgendwo rumliegen lässt, „schon wieder“ denn Müll nicht mit runter genommen hat oder hinter meinem Rücken mit meinem Auto zum Cruising fährt? Möchte ich riskieren, dass der Haussegen dauerhaft schief hängt wegen Dingen, die an sich ziemlich unwichtig sind?

 

Auch wenn es vielleicht bequem oder gar feige ist: Manchmal ist es besser, die Klappe zu halten und die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Das gilt ausdrücklich nicht für die Ereignisse in Paris!

 

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Nachtrag: Auf schmalem Grat wandeln auch Frisöre, die diese Bilder ins Fenster hängen, um für ihr Handwerk zu werben – bleibt doch oft unklar, ob die Frisur der dort abgebildeten Person den Zustand vor oder nach der angebotenen Dienstleistung darstellt. Da nützt es dann auch nichts, dass Frisöre können, was nur Frisöre können.

Nachtfalter

Manchmal möchte ich schreiben, schreien, die Wörter aufs Papier brüllen, nachts, wenn ich aus einem Traum aufgewacht bin und nicht wieder einschlafen kann, irritiert, oder erleichtert, oder enttäuscht, je nach Traum; dann möchte ich alles aufschreiben, all die Gedankensplitter, die in meinem Kopf schwirren, ziellos, gefangen wie die bunten Schmetterlinge, die ich als Kind in ein Marmeladenglas einsperrte, mit Löchern im Deckel, damit sie nicht erstickten, dennoch irgendwann zu flattern und leuchten aufhörten, bis ich sie frei ließ, vielleicht aus Mitleid, ich weiß es nicht mehr.

Statt Tagpfauenauge nun Nachtfalter: diffuse, unkonkrete Angst, vor dem Älterwerden, dem Versagen, beruflich, menschlich, körperlich; eigene Unzulänglichkeiten, Makel, gehasst seit frühester Jugend, nie akzeptiert; meine Mittelmäßigkeit; Freundschaften, die vergehen, weil ich sie nicht pflege, mich nicht mehr melde, wie ein Blumentopf, den ich nicht mehr gieße; das Glück, mein Glück, das schon so lange währt, scheinbar unendlich, und das doch eines Tages enden wird, so wie der Tod das Leben beschließt, irgendwann, vielleicht schon morgen, vielleicht erst in fünfzig Jahren, ich weiß es nicht, will es nicht wissen; der Tod: mein eigener, schlimmer: der eines geliebten Menschen; vielleicht kommt er rasch, „plötzlich und unerwartet“, vielleicht kündigt er sich lange vorher an, schleichend, siechend, schwindendes Glück bis zum Ende.

Dann, die Nachtfalter, eben noch wild flatternd, lösen sich plötzlich auf wie kleine weiße Wolken im blauen Mistral-Wind, von einer auf die andere Sekunde sind sie fort, kurz vor dem Schlaf.

Das alles möchte ich aufschreiben, manchmal. Doch dann, am Abend, vor der Nacht, sitze ich an meinem Schreibtisch und mir fällt nichts ein, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.