Woche 39/2023: Alles ist für irgendwas gut

Montag: Der Arbeitstag lief trotz Montag und aufkommender Erkältung (nein, ich weiß nicht, ob Corona, es interessiert mich auch nicht sonderlich; wenn es schlimmer wird, gehe ich nicht arbeiten, ganz einfach) ganz zufriedenstellend. Für den Abend war zu einem kollegialen Grillen bei Wachtberg-Berkum eingeladen. Vielleicht noch euphorisiert von der erfreulichen Radtour mit dem Liebsten am Vortag hatte ich kurzfristig beschlossen, auch zum Grillen mit dem Fahrrad zu fahren. Vielleicht nicht die klügste Entscheidung bei einer aufkommenden Erkältung, zumal mir erst auf dem Weg zunehmend klar wurde, warum der Ort Wachtberg heißt und nicht etwa Wachttal oder wenigstens –ebene. Auch die Rückfahrt gestaltete sich mangels Wegekenntnis und Straßenbeleuchtung zunächst abenteuerlich trotz aktivierter Navigation im Datengerät, das in der Hosentasche vor sich hin brabbelte. Hier war es klar von Nachteil, nicht zur jungen Generation zu gehören, der es mühelos gelingt, mit Blick auf das Gerät in der Hand Fahrrad zu fahren; ich benötigte hingegen volle Aufmerksamkeit für die unbeleuchtete Strecke durch Wald und Feld, über Stock und Stein, immerhin auf dem Rückweg fast durchgängig bergab. – Morgen hat das Fahrrad Pause. Das Sitzfleisch auch.

In der Zeitung wird ein Student vorgestellt, der Dependency and Slavery Studies studiert, im dritten Mastersemester. Bin ich der einzige, der darin eine gewisse Komik sieht?

Dienstag: Am frühen Nachmittag, als sich der Frühherbst noch einmal mit Sonne und angenehmer Wärme von der besten Seite zeigte, beschloss ich, krank zu sein, meldete mich ab, fuhr mit der Bahn nach Hause und legte mich sofort ins Bett, das ich bis auf Weiteres für den einzig sinnvollen Aufenthaltsort für mich halte, derweil die Nase läuft und der Kopf in bleiernde Watte gehüllt ist.

Morgens ging es noch

Sogar Lesen wurde anstrengend, deshalb schloss ich die Augen und schlief bald ein. Nach dem Aufwachen, die Dämmerung setzte bereits ein, geriet ich in einen interessanten Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen, Gedanken kamen und zogen vorbei, keine unangenehmen, wie Schiffe auf dem Rhein, manche lösten sich während des Denkens einfach auf, nach Treffer versenkt. Auch manche aufschreibenswerte Formulierung fiel mir ein, verdampfte mangels Notizwille aber wieder.

Apropos auflösen: Im SPIEGEL ein kritischer Artikel über ein Unternehmen, dass im Todesfalle die Kompostierung des Körpers anbietet, „Reerdigung“ nennen sie das. Ein Kritikpunkt ist, der Körper löst sich nach der vorgesehenen Zeit keineswegs vollständig auf, vor allem Knochen bleiben übrig, die anschließend geschreddert werden. Da sich das im Prospekt pietätlos liest, werden die Knochen laut Unternehmen „verfeinert“, welch wunderbare Formulierung. Andere sehen in dieser Methode eine Störung der Totenruhe, was auch immer das sein soll. Bei was soll der Tote gestört werden, wacht er womöglich gar auf?

Mittwoch: Meine größte Leistung lag heute darin, im Laden nebenan eine Flasche Milch zu kaufen für das Müsli zum Frühstück. Dazu schenkte mir die freundliche Verkäuferin eine winzige Stulle, anlässlich der Woche des Butterbrotes, wie sie sagte. Belegt war sie mit einer nicht näher zu definierenden, vermutlich veganen und durchaus wohlschmeckenden rötlichen Paste. Geschmackssinn und Appetit sind unbeeinträchtigt. Ansonsten verbrachte ich die meiste Zeit schlafend. Mehr ist für diesen Tag nicht zu vermerken. Im Übrigen bin ich ein großer Freund der These, alles ist für irgendwas gut.

Donnerstag: Da ich mich morgens weiterhin ungesund fühlte, entschloss ich mich für einen weiteren Tag im Bett. Die Nase hat sich im Laufe des Tages etwas beruhigt, Müdig- und Duseligkeit im Kopf haben sich gelegt. Morgen versuche ich es wieder mit Werktätigkeit.

Freitag: Der erste Arbeitstag nach dreitägigem Siechen verlief zufriedenstellend, ich habe während der Abwesenheit nichts wesentliches verpasst. Die Nase schnupft noch etwas nach, was will man erwarten; mit der Rückkehr zum gewohnten Stofftaschentuch warte ich noch ein paar Tage.

Im Anschluss hatte ich einen Beratungstermin bei Fielmann, auf Drängen des Liebsten. Nicht wegen Sehnot: Schon lange habe ich immer wieder Schwierigkeiten, Gesprächen zu folgen, wenn Hintergrundgeräusche wie Livemusik oder Restaurantraunen stören, was ich oft, wie mehrfach beschrieben, eher als Vor- denn als Nachteil empfinde, etwa in der Bahn oder der Kantine. Nicht so schön, wenn wir zu zweit oder dritt in der Gaststätte sitzen und jeder zweite Satz wiederholt werden muss, deshalb der Termin. Der freundliche junge Hörexperte schaute mir in die Ohren, erkannte rechts einen engen Gehörgang, ansonsten alles bestens. Danach durfte ich einen Kopfhörer aufsetzen (für Rheinländer: anziehen) und per Knopfdruck die Wahrnehmung verschieden hoher Töne bestätigen. Schließlich musste ich aus Zimmerlautsprechern gesprochene einsilbige Wörter wiederholen, für einen Ostwestfalen, gleichsam Experte der Einsilbigkeit, kein Problem. Nur einmal hörte ich falsch, „Reis“ statt „Preis“, was aber fast allen passiert, so der Hörmann. (Er hieß übrigens Brausen, was ich für seinen Beruf sehr passend finde.)

Ergebnis: Ein paar altersgerechte Schwächen bei hohen Frequenzen sind erkennbar, jedoch insgesamt weit entfernt von der Notwendigkeit einer Hörhilfe. Vielleicht sollten sich auch einfach meine Gesprächspartner etwas mehr Mühe beim Sprechen geben. Abends in der Gastronomie verstand ich meine Lieben trotz erheblichem Brauhausbrausen im Saal übrigens recht gut. Es geht doch.

Da für morgen ein Besuch der Mutter in Bielefeld ansteht, machte ich abends, als verantwortungsvoller Sohn ohne kurzfristige Erbabsichten, in Anbetracht der ausklingenden Erkältung doch noch einen Coronatest, ebenfalls mit zufriedenstellendem Ergebnis.

Samstag: Wegen des Mutterbesuchs verließ ich Bett und Haus zu samstäglicher Unzeit, das war nicht schlimm, ich hatte an den Tagen zuvor ausreichend geschlafen.

Die Reise nach Bielefeld erfolgte mit dem Bahn-Nahverkehr, wozu leistet man sich ein zum Deutschlandticket gewandeltes Jobticket und fährt dann doch meistens mit dem Rad oder geht zu Fuß ins Werk, nicht wahr. Ein Blick in die Bahn-App beim Morgenkaffee ließ eine interessante Reise erwarten: fast alle Verbindungen verspätet oder ausgefallen, auch die von mir vorgesehene. Eine andere, wenige Minuten früher, war noch grün, die sollte es sein, ebenfalls mit zweimal umsteigen.

Positiv: Die erste Bahn bis Wuppertal war pünktlich, die zweite bis Hamm verspätet, allerdings wartete die dritte bis Bielefeld in Hamm auf die zweite. Und bis Hamm hatte ich durchgehend einen Sitzplatz, sogar am Fenster. Andere, sehr viele andere nicht. So komme ich zu

Negativ: Es ist mir ein Rätsel, warum man als Betreiber (National Express und Eurobahn) oder Besteller, ich weiß nicht, wer schuld ist, zu Beginn der Herbstferien (das hatte ich bei Planung der Reise nicht bedacht, gebe ich zu) auf einer solchen Strecke nur einteilige Triebzüge einsetzt. Die Fahrgäste quetschten sich in den Gängen wie Pinguine im Schneesturm. Ab Hamm stand auch ich im Gang, immerhin nicht ganz so gequetscht, ab Rheda-Wiedenbrück setzte ich mich, wie andere auch, in die erste Klasse. Ich wäre bereit gewesen, den Mehrpreis zu entrichten, fand in der Bahn-App aber keine Möglichkeit dazu. Dann eben nicht.

Wieder positiv: Für die Rückfahrt entschied ich mich daher für die gute alte Deutsche Bahn und ihren ICE. Hier muss und möchte ich die Vielgescholtene ausdrücklich loben: Der Zug fuhr in Bielefeld pünktlich mit reichlich freien Sitzplätzen ab und erreichte (nach bemerkenswertem Fahrtverlauf: Hagen und Wuppertal wurden einfach durchfahren, dafür Halt in Solingen) pünktlich Köln, wo diese Zeilen getippt wurden voller Hoffnung, auch das letzte Stück ohne nennenswerte Verspätung zu schaffen. – Nachtrag: Im Sinne des Fahrplans kam der Zug nicht pünktlich in Bonn an, vielmehr eine Viertelstunde zu früh. Das erlebt man auch nicht oft.

Gelesen auf einem Werbeplakat in Köln: »Dyson macht unsichtbaren Staub sichtbar«. Meine Erwartung an einen Staubsauger, zumal einen hochpreisigen, wäre genau das Gegenteil.

Gehört auf der Hinfahrt in der überfüllten Eurobahn nach Hamm, eine ältere Dame zu ihrem Begleiter: „Wir sind eine Rucksackgesellschaft geworden.“ Womit sie zweifellos recht hat.

Sonntag: Nach Krankheit und Ostwestfalenbesuch endlich wieder ein Sonntag mit gewohntem Ablauf: Ausschlafen, Frühstück mit den Lieben, Sonntagszeitung, Spaziergang. Während der Dreimonatskalender im Büro auf dem unteren Blatt bereits November anzeigt, ist es weiterhin irritierend sommerlich. So fanden Frühstück und Zeitungslektüre, mit Wespenbesuch, auf dem Balkon statt, und der morgens gewählte Pullover erwies sich beim Spaziergang als zu warm. Außerdem hat der Lieblingsbiergarten am Rhein noch immer geöffnet, und wo ich da schon mal zufällig vorbeikam – Sie wissen schon. Alles ist für irgendwas gut.

Alle Bötchen sind schon da

***

Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 15/2022: Menschengewühl am Hotelfrühstücksbuffet

Montag: Es wäre vermessen zu behaupten, in den vergangenen zwei seuchengeplagten Wochen hätte ich bedeutende Dinge getan. Genau genommen tat ich nicht viel mehr als zu schlafen und gegen die FDP zu stänkern. Heute, am ersten Arbeitstag danach, wurde ich daran erinnert, mit welchen, Außenstehenden nur schwer erklärbaren Beschäftigungen man acht Stunden auch verbringen kann, wofür man zudem noch gut bezahlt wird.

Gelesen bei Frau Novemberregen: »Nicht, dass das Leben an sich irgendwie entspannter geworden wäre aber bekanntlich spielt ja die eigene Haltung zu den Fakten auch eine ganz wesentliche Rolle. Und ich bin fest entschlossen, mich nicht mehr übermäßig zu sorgen oder vielleicht auch einfach gar nicht mehr, es führt ja zu nichts.« Und ich sah, dass es gut war.

„Schützen dürfen wieder Eier schießen“, steht in der Zeitung. Autsch. (Denken Sie sich hier spätpubertäres Kichern.)

Dienstag: Im Werk den Maileingang komplett abgearbeitet, einschließlich der Rückstände der vergangenen zwei Wochen. Zwei Anfragen habe ich unbearbeitet abgelegt, mangels Idee, was die Anfragenden von mir wollen und Lust, nachzufragen. Mal sehen, ob sie sich nochmal melden. Erfahrungsgemäß nicht. Das mag arbeitsmoralisch bedenklich erscheinen, andererseits ist es nicht zu viel verlangt, ein Anliegen einigermaßen verständlich zu formulieren.

Dank der Wärme verbrachte ich den frühen Abend mit Zeitungs- und Bloglektüre auf dem Balkon. Aus der Wohnung links schallte Musik, von der Terrasse unten Ess- und Gesprächsgeräusche, das ganze hinterlegt vom Rauschen der Stadthauslüftung. Wer es nicht mag, sollte nicht mitten in der Stadt wohnen und aufs Land ziehen, wo er sich dann über Hahnenkräh und Kuhglockenklang erregen kann.

Mittwoch: Apropos Hahn beziehungsweise Hühner – die Eierpreise steigen. Sind die Schützen schuld?

»Verantwortlich handeln« steht ausgerechnet auf einem Landtagswahlplakat der FDP. »Schlaue Ranzen tragen Tablet« auf einem anderen. Schlaue Ranzen? Egal, ich will nicht schon wieder darauf rumhacken.

»Wo möchtest du in 500 Jahren leben?«, las ich im Vorbeifahren auf dem Plakat einer anderen Partei, deren Name mir auf die Schnelle nicht auffiel (so als kleiner Hinweis an deren Wahlstrategen). Hierzu sei angemerkt: Ich möchte nicht von einer Organisation geduzt werden – nicht von Ikea noch Apple, auch nicht der internen Unternehmenskommunikation, schon gar nicht von einer Partei. Des weiteren hoffe ich sehr, in fünfhundert Jahren gar nicht mehr zu leben; immerhin diese Hoffnung scheint nicht unbegründet.

Deshalb frühzeitig an das Ende denken. („Reerdigung“ ist ein wunderbares Wort, finden Sie nicht auch?)

Dessen ungeachtet staunte ich mittags nach dem Essen über ein Meer aus Gänseblümchen im Rheinauenpark und fragte mich, ob das zuvor in jedem Jahr so viele waren, mir das nur nie auffiel; machmal ist man ja lange Zeit blind für etwas, das schon immer da war. Sehen und staunen Sie selbst:

..
..

Nachmittags sinnierte ich mit zwei Kollegen während einer Kaffeepause auf dem sonnenbeschienenen Werksbalkon (ja, sowas haben wir) über die aktuelle Lage. Wir waren uns schnell einig, die Menschheit im Ganzen ist bekloppt und voraussichtlich nicht mehr zu retten.

Donnerstag: Oder doch? Die gestern zunächst unerkannt gebliebene Partei nennt sich „Partei für Gesundheitsforschung“, ich habe heute nochmal für Sie genauer hingeschaut. Sie verfolgt laut Plakat ein bemerkenswertes Ziel: »Mit zukünftiger Medizin werden Menschen durch Verjüngung wahrscheinlich nicht mehr an Alterskrankheiten oder hohem Alter sterben und tausende Jahre leben können, und zwar körperlich und geistig gesund.« Über die geistige Gesundheit der Parteigründer erlaube ich mir kein Urteil. Wobei mich schon interessieren würde, wie die sich das mit der Verjüngung praktisch vorstellen: Hat man ab einem bestimmten Alter oder Grad der Gebrechlichkeit Anrecht auf eine Therapie, aus der man anschließend in jugendlicher Frische hervorgeht? Muss man dann den ganzen Mist wie Pubertät, Schule, Sturm und Drang nochmal durchmachen, immer wieder? Wohin mit den ganzen Menschen, wenn keiner mehr Lust hat zu sterben und immer noch neue geboren werden? – Die vielleicht besser mal nicht wählen.

Freitag: Vormittags fuhren wir los in Richtung Südfrankreich mit Zwischenhalt in Beaune. Nach zwei Wochen Seuchenpause und danach einer nicht allzu anstrengenden Arbeitswoche erscheint der (ohnehin äußerst unschöne, daher möglichst gar nicht zu verwendende) Begriff „wohlverdienter“ Urlaub übertrieben, aber machmal ergeben sich die Dinge so, was will man machen. Es könnte schlimmer sein. So richtig in Urlaubsstimmung bin ich noch nicht, das kommt bestimmt noch, spätestens mit dem ersten Rosé.

Samstag: Die Maskenpflicht scheint in Frankreich weitgehend überwunden. Zu den Dingen, die ich zwei Jahre lang nicht vermisst habe, gehört Menschengewühl am Hotelfrühstücksbuffet. Im Übrigen muss ich mich an das allgemeine Wir-tun-so-als-wäre-es-vorbei-Spiel noch etwas gewöhnen, das wird schon. Ab Herbst tragen wir dann wieder Maske, also noch nicht wegwerfen.

Nach staureicher Fahrt erreichten wir am späten Nachmittag unser Reiseziel Malaucène. Das Ankunftsgetränk war zwar kein Rosé, dennoch fühlte es sich schon sehr nach Urlaub an.

Santé

Sonntag: Den ersten Urlaubstag verbringen wir wie immer ohne nennenswerte Aktivitäten. Die Niederschrift dieser Tagesnotiz erfolgt auf der Terrasse unserer Ferienwohnung mit Blick auf das angewilderte Gärtchen, darin blühender Flieder, gelber Löwenzahn und außergewöhnlich großblätteriger Klee. Rechts ein großes Hühnergehege, dessen Bewohnerinnen (kein generisches Femininum, augen- und ohrenscheinlich wohnt dort kein Hahn) zufrieden in den Tag picken und ab und zu die üblichen Hühnergeräusche von sich geben. Einziger Schönheitsfehler: Zur Linken trennt nur eine hohe Hecke das Grundstück von der stark befahrenen Straße nach Carpentras, die beliebt zu sein scheint bei Motorradbesitzern, deren Maschinen einen nicht unerheblichen Teil der eingesetzten Energie in unösterliches Donnergrollen umsetzen. Auch das ist wohl auch eine Art von Freiheit.

***

Ich wünsche Ihnen einen schönen Rest von Ostern und eine angenehme Woche.