Wutschrift über freie Fahrt

Ihr deutschen Autofahrer, ich kann es nicht mehr hören, euer Gejammer, mit dem ihr Geschwindigkeitskontrollen als gemeine Abzocke abtut, und ich könnte jedes Mal schreien, wenn die Medien in euch mal wieder die bedauerlichen „Melkkühe der Nation“ sehen. Dabei ist es ist doch ganz einfach, ich erkläre es euch gerne noch mal: In geschlossenen Ortschaften fünfzig, außerhalb hundert Ka-em-ha, wenn was anders gilt, erkennt ihr das an dem runden Schild mit rotem Rand und der schwarzen Zahl darin. Das mag man doof finden, eine eurer typischen, eure Dämlichkeit unterstreichende Ausrede ist „Wieso sechzig? Hier kann man doch locker hundert fahren“. Das könnt ihr natürlich so handhaben, sicher, aber dann beklagt euch nicht, wenn ihr erwischt und zur Kasse gebeten werdet!

Auf deutschen Autobahnen genießt ihr, Wissmann sei Dank, ohnehin noch Narrenfreiheit, da dürft ihr rasen, bis euch die Augäpfel im Rausch der Geschwindigkeit aus dem Kopf treten, für euch sind das eher Austob-Bahnen. Es sei denn, so ein Idiot überholt vor euch mit lächerlichen hundertdreißig eine LKW-Kolonne und macht euch keinen Platz, dann schimpft, drängelt, blinkt und lichthupt ihr. Ich verkenne nicht, dass es Trottel gibt, die mit konstanten hundertzehn bis dicht an den nächsten LKW heranfahren, dann blinken (wenn überhaupt) und sofort nach links herüberziehen, ohne darauf zu achten, ob von hinten einer kommt; der muss sich nicht einmal mit zweihundert oder schneller bewegen, damit es gefährlich wird. Vielleicht sind diese Ausscherer auch gar keine Trottel, sondern hochgebildete Menschen, die irgendwas digitales oder mit Medien machen, auch am Steuer, was sich wiederum auf deren Fahrweise niederschlägt.

Ginge es nach mir, hätten wir in Deutschland längst ein Tempolimit auf Autobahnen wie in allen anderen europäischen Ländern, wo das komischerweise sogar funktioniert, jedenfalls meistens.* Aber damit ist leider nicht zu rechnen, weil jede Regierungspartei, die auch nur laut darüber nachdenken würde, weiß, dass sie bei der nächsten Wahl weg von der Straße ist.

Geschwindigkeitsüberschreitungen würden viel härter geahndet, mindestens hundert Euro je überschrittenem Stundenkilometer, ebenso Drängeln, tausend Euro je Meter unterschrittenem Sicherheitsabstand. Na gut, fünfhundert reichen fürs Erste auch. Es gäbe mehr Geschwindigkeitskontrollen, nicht nur feste Blitzanlagen, die ihr nach kurzer Zeit kennt, wo ihr dann mal kurz auf siebzig abbremst, selbst wenn achtzig erlaubt sind, um danach sofort wieder zu beschleunigen. Und hundert Meter nach jedem Messpunkt gleich noch einen, ihr dürft euch nicht zu sicher fühlen. Dieser Unfug, in der Zeitung und im Radio anzukündigen, wo geblitzt wird, würde verboten. Das ist ja gerade so, als würde die Polizei jedes Mal vorher ankündigen, in welchen Siedlungen sie verstärkt Streife fahren wird, um die armen Einbrecher von ihrem Tun abzuhalten beziehungsweise sie dazu zu bewegen, ein anderes Gebiet heimzusuchen. Was für ein Irrsinn!

Die Krönung des Schwachsinns waren ernsthafte Forderungen und Überlegungen Anfang der Neunziger, die Alleebäume in den östlichen Bundesländern zu fällen, weil deren Bewohner mit den neuen, PS-starken Westautos nicht klar kamen und reihenweise dagegen fuhren. Rodung für Raser.

Wo ich gerade so schön am Verbieten bin: Diese zwei- und vierrädigen Lärmmaschinen, die ihr als sportlich empfindet, verlören sofort ihre Zulassung, es sei denn, sie werden leiser. Die Bahn soll sich nur noch flüsternd durchs Rheintal bewegen, aber ihr dürft ungestraft Tag und Nacht durch die Stadt lärmen, nur weil ihr offenbar einen zu kurzen Penis habt, wo gibts denn sowas??

Das weiß nur Wissmann.

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* Auf unserer Rückfahrt aus Südfrankreich am vergangenen Freitag wurden wir kurz hinter Dijon von einem französischen Autofahrer erst bedrängt (wir fuhren 140, also schon 10 zu schnell) und anschließend ausgebremst, bevor er mit gerecktem Stinkefinger weiter raste. Die können das also auch. Vielleicht mochte er auch einfach keine Deutschen.

Und auf provencalischen Landstraßen kommt man keine hundert Meter weit, ohne einen einheimischen Wagen an der hinteren Stoßstange kleben zu haben, der dann an einer möglichst unübersichtlichen Stelle überholt.

Die Tragödie des M. S.

Am Sonntag vor Silvester hatte der berühmte Formel-1-Fahrer Michael Schumacher einen schweren Skiunfall. Abseits der ausgewiesenen Pisten stürzte er bei offenbar sehr hoher Geschwindigkeit und schlug mit dem Kopf auf einen Stein, trotz Helm erlitt er schwere Verletzungen und liegt bis heute im Koma, sein Zustand wird als kritisch beurteilt. Das ist schlimm, alle, mich eingeschlossen, wünschen Herrn Schumacher eine baldige Genesung ohne bleibende Folgeschäden.

Schlimm ist auch, was die Medien und die Öffentlichkeit daraus machen. Die Nachrichten berichten täglich groß und ausführlich über den aktuellen Stand, vermutlich gab es auch einen ARD-Brennpunkt und ein ZDF-Spezial dazu, ich habe das nicht so genau verfolgt, und im SPIEGEL dieser Woche ist der Vorfall Titelthema. Noch schlimmer: die damit verbundenen Rückblicke auf die spektakulärsten Skiunfälle Prominenter in der vergangenen Jahren, eine echte Seuche, Sie kennen das – sobald etwas schlimmes passiert, bringen die Zeitungen und Fernsehsender eine Übersicht vergleichbarer Ereignisse aus der Vergangenheit, gleichsam eine Hitparade des Horrors.

Auf Facebook wurden zahlreiche Gute-Besserung-Gruppen gegründet (warum sagt man eigentlich „Gute Besserung“? Es heißt doch auch nicht „schnelle Beschleunigung“ zur Anpreisung eines Sportwagens oder „warme Erwärmung“ angesichts eines Tauchsieders oder des Klimawandels), auf Twitter gibt es mitfühlende Hashtags, Prominente und solche, die sich dafür halten, rufen zum Gebet auf, und die Bundeskanzlerin ließ über ihren Regierungssprecher ihr Bedauern und ihre Genesungswünsche erklären. (Fast schon ironisch mutet es da an, dass sie nun ihrerseits unter den Folgen eines Skiunfalls leidet, wenn auch nicht so schlimm wie Schumacher, jedenfalls dürfte sie wesentlich langsamer gewesen sein, auch können wir davon ausgehen, dass sie die gespurten Loipen nicht verlassen hatte.) In allen Bundesbehörden sind die Hausmeister Tag und Nacht in Bereitschaft, um in dem Fall, der hoffentlich nicht eintritt, die Deutschlandfahne auf Halbmast zu kurbeln, auf der ISS wurde die Arbeit vorübergehend eingestellt und die Polkappen legen eine Schmelzpause ein.

An einem Donnerstag im März 2013 verließ der IT-Experte Martin Stein* wie jeden Morgen seine Wohnung und stieg in den Bus zu seinem Büro. Dort kam er nie an, weil ihn unterwegs ein Herzinfarkt ereilte, der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Er war aufgrund seiner freundlich-menschlichen Art und seines immensen Fachwissens beliebt von allen sehr geschätzt, hinterließ eine fassungslose Familie und eine schockierte Kollegenschaft, zumal er, wenngleich schon jenseits der sechzig, augenscheinlich kerngesund gewesen war.

Hiervon stand nicht eine Zeile in der Zeitung.

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* Name geringfügig geändert