Woche 33/2021: Salätchen und Pudding

Montag: Die Kette der schlechten Nachrichten scheint nicht abzureißen – Flutkatastrophe, brennende Wälder und Häuser, Klimawandel sowieso, Erdbeben, Afghanistan. Doch darf man dabei die guten nicht übersehen. Eine solche erreichte mich gegen Ende eines viel zu langen Arbeitstags mit viel zu vielen Besprechungen und gedanklichen Themensprüngen im Halbstundentakt ohne Denkpausen dazwischen, zwischendurch ging auf dem Bildschirm immer wieder das Skype-Fensterchen auf, weil schon wieder einer was wollte, dazu eingehende Mails im Minutentakt. An solchen Tagen fühle ich mich zunehmend zu alt für diese künstliche, unnötige Hektik. – Ach ja, die gute Nachricht: Ab Mittwoch öffnet nach monatelanger Umbauzeit endlich wieder die Kantine, so richtig mit Hinsetzen, Geschirr und Besteck, Salätchen dabei und Pudding danach. Vorbei die Zeiten, da es Mittagessen nur zum Mitnehmen gab, das man dann im günstigsten Fall auf einer Bank im Freien aus der Einwegverpackung löffelte. (Wobei es zum Verzehr nur in Ausnahmefällen eines Löffels bedurfte, aber „messerte und gabelte“ erscheint ungebräuchlich.) Als die Mitteilung kam, lächelte ich vermutlich kurz.

Damit nicht genug – die zweite gute Nachricht des Tages, die es ebenfalls voraussichtlich nicht in die Tagesschau schaffen wird: Die Liebste hat Urlaub angemeldet; wenn es gut läuft und die Seuchensituation es erlaubt, sind wir in fünf Wochen in Südfrankreich.

Dienstag: Regnerische Kälte den ganzen Tag. Ich mag den Herbst wirklich sehr, er ist meine liebste Jahreszeit, vielleicht weil auch für mich mittlerweile des Lebens Herbst angebrochen ist, oder mindestens Spätsommer mit ein paar letzten warmen Tagen; statt das Auge erfreuendem buntem Laub ergrauende Schläfen, weiße Nasen- und (wenige) Brusthaare; statt fallenden Blättern eine Lichtung am Hinterkopf. Führte ich eine persönliche Hitparade, stünde das Loblied für den Herbst ziemlich weit oben. Aber doch nicht jetzt schon – mitten im August.

Mittwoch: In Bonn wird seit geraumer Zeit gestritten um den Bau eines Radschnellweges, für den im Rheinauenpark eine größere Anzahl alter Bäume gefällt werden müsste. Eine nicht ganz einfache Situation für die regierenden Grünen. Im Übrigen Radschnellweg – wer braucht denn sowas? Sollen die Rennradraser in ihren bunten Stramplern und beigen Elektrorentner etwa noch schneller fahren?

Wie am Montag erwähnt, ist seit heute die Kantine wieder geöffnet. Schön ist sie geworden. Da ich es extrem albern finde, ein Foto von meinem Essen zu machen und es ins Netz zu stellen, habe ich davon Abstand genommen, wenngleich ich kurz versucht war, es heute ausnahmsweise zu tun. (Stellen Sie sich stattdessen eine Frikadelle mit grobkörniger Senfhaube an Kartoffel-Gurken-Beilage vor.) Jedenfalls war ich sehr zufrieden und bin es noch.

Als ich abends aus der Bahn stieg, ging vor mir eine Gruppe junger Burschen, Studenten vielleicht. Als sie an einer Spiegelwand vorbei gingen, winkte einer seiner Reflexion zu, als wollte er sich seiner selbst vergewissern: „Bin ich es wirklich, dieser überaus hübsche Jüngling? Schnell mal winken … ja, ich bin es tatsächlich!“

Donnerstag: Es dürfe „kein weiteres 2015 geben“, heißt es in diesen Tagen allüberall mit bangem Blick in Richtung Afghanistan. Da kann ich beruhigen: Nach jetzigen Erkenntnissen sieht unser Kalender das mittel- bis langfristig nicht vor.

Mein Werkskalender war heute prall gefüllt mit Besprechungsterminen, was die Morgenlaune ein wenig trübte. Doch soll man den Tag nicht vor dem Abend schmähen: Von geplanten 6,5 Stunden wurden 2,5 Stunden abgesagt.

Freitag: Laut Zeitungsbericht werden in Bonn besonders viele Wahlplakate zerstört. Kein Wunder bei den inhaltsleeren, austauschbaren Floskeln um Wohlstand, Sicherheit, Klima, Bildung, Digitalisierung, Gerechtigkeit und Flüchtlinge. Warum steht da nicht mal was Ehrliches drauf? Vorschlag: „Eine bessere Welt können wir nicht versprechen. Doch lassen Sie es uns versuchen.“ Da würde ich mein Kreuzchen wohl machen.

Samstag: Zeitungsartikel-Überschrift des Tages: „Ruhe finden am Ort der Hinrichtung“.

Ach was: Heute vor zehn Jahren starb Loriot. Die Lücke, die er hinterließ, blieb seitdem ungefüllt.

Während einer Autofahrt ins Ostwestfälische zwang mich endloses Fußballgeschrei im Radio zu einem Senderwechsel. So landete ich bei WDR 4, jenem Sender, den ich seit den Acht- und Neunzigern möglichst mied, weil er störsendergleich mit billigstem Schlager-Trallala das Ohr quälte, der sich dennoch oder deshalb bei Älteren großer Beliebtheit erfreute. Wie ich nun feststellte, spielen die da inzwischen richtig gute Musik.

Sonntag: Auf der Rückfahrt begeisterte mich weiterhin WDR 4, wo mich unter anderem „Also sprach Zarathustra“ von Strauss und „Shout“ von Tears For Fears mehrfach die Lautstärke hochregeln ließen, was Roger Whittaker vor dreißig Jahren kaum gelungen wäre. Oder hat sich in Wahrheit der Sender gar nicht gewandelt, nur mein Musikgeschmack ist gealtert?

„Rauchen mindert Ihre Fruchtbarkeit“, steht auf einer Zigarettenschachtel. Wäre das nicht eher ein Argument für das Rauchen?

Die Taliban und die vierte Welle – beide kamen früher als von manchen erwartet.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche mit möglichst vielen Lächelanlässen, guten Nachrichten und wenigen Besprechungen.

Der Vogelschiss lässt grüßen

1984, also zwei Jahre vor dem Unglück von Tschernobyl und mitten in der Zeit des atomaren Wettrüstens, veröffentlichte die Band Ultravox den Song „Dancing with tears in my eyes“, mitsamt Video. Dort wird erzählt, wie Menschen die letzen Minuten vor einer unausweichlichen Nuklearkatastrophe verbringen: Ein Mann fährt nach Hause zu Frau und Kind, unterwegs begegnen ihm Menschen in Panik. Zu Hause angekommen, tanzen sie ein letztes Mal zu ihrem Lieblingslied, trinken ein letztes Glas und gehen dann ins Bett, ehe die Explosion alles verheert, zerstört und tötet.

Irgendwo las ich mal: Wenn man einen Frosch in ein flaches Gefäß mit heißem Wasser setzt, springt er sofort heraus. Setzt man ihn hingegen in kaltes Wasser und erwärmt es dann langsam, verharrt er darin, bis es zu spät ist und er nicht mehr springen kann. Ich weiß nicht, ob dieses Experiment jemals durchgeführt wurde und ob die daraus gewonnene Erkenntnis wirklich stimmt, aber sie erscheint mir plausibel. Denn genauso verhalten wir Menschen uns seit Jahren. Das bildliche Wasser um unsere Füße erwärmt sich unaufhörlich, aber wir springen einfach nicht: Weiterhin essen wir viel Fleisch, fliegen und kreuzfahren in den Urlaub, lieben große Autos, roden Wälder, verbrennen Kohle, preisen Konsum und Wachstum in geradezu religiösem Eifer. Obwohl wir könnten, und noch könnten wir es, denken wir gar nicht daran, uns zu retten. Wir schaffen es einfach nicht, ich genauso wenig wie Sie und andere. Schon beim Essen fängt es an: Natürlich könnte ich mich ab sofort vegan oder wenigstens vegetarisch ernähren, aber die Verlockung des Fleisches ist zu groß. Und was kann ich als einzelner schon bewirken, während alle anderen … Sollen doch erstmal die Amerikaner / Chinesen / Industrie … Sie wissen vielleicht, was ich meine.

Und vielleicht stimmt das alles mit dem Klimawandel ja auch gar nicht. Behaupten jedenfalls die von rechts, denen immer mehr Menschen zuhören, glauben, bei Wahlen ihre Stimme geben. Wobei mir widerstrebt, diese Leute als „Rechte“ zu bezeichnen. Unsere Sprache ist da sehr unsauber: Sie sind nicht rechtschaffen, lehnen die demokratische Rechtsordnung ab, haben nicht recht mit ihren Behauptungen und einfachen Lösungen, und es darf uns nicht recht sein, dass sie immer stärker werden, auf der ganzen Welt, auch in sogenannten westlichen Ländern, auch bei uns, obwohl das ganze Schlamassel, das Adolf – Verzeihung: Alexander Gauland als „Vogelschiss der Geschichte“ abtut, mal gerade achtzig Jahre her ist. Aber vielleicht sind achtzig Jahre ja schon zu lange; diejenigen, die es erlebt haben, sterben aus. Verdamp lang her.

Ich bin mir nicht sicher, was mir größere Sorge bereitet: der Klimawandel oder die politische Bräunung. Ersterer trifft früher oder später alle – Rechte wie Linke, Arme wie Reiche, Schwarze wie Weiße. Weil wir einfach nicht aus diesem verdammten Topf springen. Leidtragende der Renazifizierung werden hingegen bestimmte Gruppen sein, die als Sündenböcke herhalten müssen, weil die verkündeten einfachen Lösungen nicht greifen und das Wasser im Topf trotzdem immer wärmer wird: Ausländer, Flüchtlinge, Schwarze, Juden, Schwule und ein paar andere. Der Vogelschiss lässt grüßen.

Wahrlich keine schönen Aussichten. Aber vielleicht habe ich ja Glück: Die zweite Lebenshälfte ist längst angebrochen, vielleicht geht es noch einige Jahre gut. Vielleicht werde ich von einem SUV oder Elektroroller totgefahren, ehe der Tag kommt, an dem mir nur noch bleibt, ein letztes Mal zu meiner Lieblingsmusik zu tanzen, mich zu betrinken und ins Bett zu legen, ehe die unausweichliche Katastrophe eintritt. Weeping for the memory of a life gone by.

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Woche 1: Ernüchterung

Montag: Silvester-Ruhe im Büro, (fast) niemand da, das Telefon schweigt. Ungefähr so fühlte es sich wohl an, sollte ich jemals übersehen, dass Samstag ist und das erst gegen Mittag bemerken.

Sollten Sie sich über den Jahreswechsel bemüßigt fühlen, über den Sinn des Lebens nachzudenken, verweise ich auf Yuval Noah Harari:

„Soweit wir das aus rein wissenschaftlicher Sicht beurteilen können, hat das Leben nicht den geringsten Sinn. Wir sind nicht mehr als das Produkt eines evolutionären Prozesses, der ohne Zweck und Ziel agiert.“

Eine durchaus zulässige Sichtweise, finde ich.

Dienstag: Offenbar wurden wir gestern Abend zu fortgerückter Stunde kurz vor Jahreswechsel etwas albern, ich erinnere mich nicht mehr an alle Details.

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Der neujährliche Ausnüchterungsgang führte durch die Innere Nordstadt …

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… und ans Beueler Rheinufer.

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Ein frohes neues Jahr.

Mittwoch: Einerseits soll alles immer convenienter werden, möglichst per Mausklick oder App vom Sofa aus bedienbar. Andererseits werden sie nicht müde, zu fordern, ich möge mal meine Komfortzone verlassen. Aber warum sollte ich das tun? Im Übrigen quäle ich mich schon fünf mal je Woche zur Unzeit aus dem Bett, um mich stundenlang vor einen Bildschirm zu setzen. Weniger Convenience geht ja wohl kaum. Über Komfortzonen hat sich auch Herr Buddenbohm Gedanken gemacht.

Donnerstag: Die größte Hürde am Jahresanfang ist ja immer, mindestens acht Stunden am Tag den Dingen Interesse entgegen zu bringen, für welche zu interessieren sie uns bezahlen.

Erschreckendes Desinteresse beweist auch General-Anzeiger-Leser Alexander T. aus Bonn mit seinem Leserbrief:

„Ich frage mich, wo das hinführen soll. Verbieten, Maßregeln, Vorschreiben, betreutes Denken und ein Leben in Reinkultur? Das entspricht in keiner Weise meinem Lebensentwurf, ich lasse mich nicht bevormunden. Niemand kann und wird mich dazu zwingen, dass ich mich für unser Klima zu interessieren habe und hoffe, wir werden 2019 einen genauso schönen und warmen Sommer haben wie 2018.“

Klimawandel. Mittlerweile haben wir wohl zwei davon: einen meteorologischen und einen politischen. Der eine heizt die Welt auf, der andere bräunt sie zunehmend. Ich bin mir nicht sicher, welchen von beiden ich mehr fürchten soll. Leute wie Alexander T. lassen jedenfalls Schlimmstes befürchten.

Freitag: Meine derzeitige Stadtbahnlektüre fand ich zufällig in einem öffentlichen Bücherschrank: „Nieten in Nadelstreifen“ von Günter Ogger. Obwohl das Buch bereits 1992 erschien, ist es an vielen Stellen noch sehr aktuell, zum Beispiel hier:

„Ein Vorstand hat immer recht, und wenn er sich irrt, dann sind die Umstände schuld.“

Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Samstag: Den Begriff „Löffelliste“ kennengelernt. In dieser listet man alles auf, was man noch erledigen und erleben möchte, bevor man den Löffel abgibt, daher der naheliegende Name. Als bekennender Freund von Listen sollte ich die Idee vielleicht gelegentlich aufgreifen, wobei der spontan erste und vorläufig einzige Eintrag lautete:  Eine Löffelliste anlegen.

Sonntag: Ein trüber Tag, wie geschaffen dafür, ihn mit einem „guten Buch“ auf dem Sofa zu verbringen. Was soll das eigentlich sein, ein gutes Buch, wer entscheidet das? Es gibt Menschen, zu denen zählte ich früher selbst, die können sich stundenlang mit alten Kursbüchern der Deutschen Bundesbahn beschäftigen. Ist das gut oder schlecht? (Ein bisschen bekloppt, sagen Sie? Kann schon sein.) Kann ein Krimi überhaupt ein „gutes“ Buch sein, wo doch Gewalt und Verbrechen sein Gegenstand ist? Wird ein Buch dadurch „gut“, dass Christine Westermann es im Radio anpreist?

Ich entschied mich trotz Trübe für einen Spaziergang an den Rhein, um die Ethanocholie des Vorabends durch frische Luft zu vertreiben. Meine Hoffnung, wegen des Nieselwetters am Rhein nur auf wenige Menschen zu treffen, erfüllte sich nicht, die Promenade war belebt wie an einem Sommernachmittag. Vielleicht hatten die auch alle gestern gefeiert?

Nach Rückkehr schaute ich den Film meines lieben Kollegen Farhad an. Zitat: „Sie sind ein sehr genital orientierter Mann.“