Der Vogelschiss lässt grüßen

1984, also zwei Jahre vor dem Unglück von Tschernobyl und mitten in der Zeit des atomaren Wettrüstens, veröffentlichte die Band Ultravox den Song „Dancing with tears in my eyes“, mitsamt Video. Dort wird erzählt, wie Menschen die letzen Minuten vor einer unausweichlichen Nuklearkatastrophe verbringen: Ein Mann fährt nach Hause zu Frau und Kind, unterwegs begegnen ihm Menschen in Panik. Zu Hause angekommen, tanzen sie ein letztes Mal zu ihrem Lieblingslied, trinken ein letztes Glas und gehen dann ins Bett, ehe die Explosion alles verheert, zerstört und tötet.

Irgendwo las ich mal: Wenn man einen Frosch in ein flaches Gefäß mit heißem Wasser setzt, springt er sofort heraus. Setzt man ihn hingegen in kaltes Wasser und erwärmt es dann langsam, verharrt er darin, bis es zu spät ist und er nicht mehr springen kann. Ich weiß nicht, ob dieses Experiment jemals durchgeführt wurde und ob die daraus gewonnene Erkenntnis wirklich stimmt, aber sie erscheint mir plausibel. Denn genauso verhalten wir Menschen uns seit Jahren. Das bildliche Wasser um unsere Füße erwärmt sich unaufhörlich, aber wir springen einfach nicht: Weiterhin essen wir viel Fleisch, fliegen und kreuzfahren in den Urlaub, lieben große Autos, roden Wälder, verbrennen Kohle, preisen Konsum und Wachstum in geradezu religiösem Eifer. Obwohl wir könnten, und noch könnten wir es, denken wir gar nicht daran, uns zu retten. Wir schaffen es einfach nicht, ich genauso wenig wie Sie und andere. Schon beim Essen fängt es an: Natürlich könnte ich mich ab sofort vegan oder wenigstens vegetarisch ernähren, aber die Verlockung des Fleisches ist zu groß. Und was kann ich als einzelner schon bewirken, während alle anderen … Sollen doch erstmal die Amerikaner / Chinesen / Industrie … Sie wissen vielleicht, was ich meine.

Und vielleicht stimmt das alles mit dem Klimawandel ja auch gar nicht. Behaupten jedenfalls die von rechts, denen immer mehr Menschen zuhören, glauben, bei Wahlen ihre Stimme geben. Wobei mir widerstrebt, diese Leute als „Rechte“ zu bezeichnen. Unsere Sprache ist da sehr unsauber: Sie sind nicht rechtschaffen, lehnen die demokratische Rechtsordnung ab, haben nicht recht mit ihren Behauptungen und einfachen Lösungen, und es darf uns nicht recht sein, dass sie immer stärker werden, auf der ganzen Welt, auch in sogenannten westlichen Ländern, auch bei uns, obwohl das ganze Schlamassel, das Adolf – Verzeihung: Alexander Gauland als „Vogelschiss der Geschichte“ abtut, mal gerade achtzig Jahre her ist. Aber vielleicht sind achtzig Jahre ja schon zu lange; diejenigen, die es erlebt haben, sterben aus. Verdamp lang her.

Ich bin mir nicht sicher, was mir größere Sorge bereitet: der Klimawandel oder die politische Bräunung. Ersterer trifft früher oder später alle – Rechte wie Linke, Arme wie Reiche, Schwarze wie Weiße. Weil wir einfach nicht aus diesem verdammten Topf springen. Leidtragende der Renazifizierung werden hingegen bestimmte Gruppen sein, die als Sündenböcke herhalten müssen, weil die verkündeten einfachen Lösungen nicht greifen und das Wasser im Topf trotzdem immer wärmer wird: Ausländer, Flüchtlinge, Schwarze, Juden, Schwule und ein paar andere. Der Vogelschiss lässt grüßen.

Wahrlich keine schönen Aussichten. Aber vielleicht habe ich ja Glück: Die zweite Lebenshälfte ist längst angebrochen, vielleicht geht es noch einige Jahre gut. Vielleicht werde ich von einem SUV oder Elektroroller totgefahren, ehe der Tag kommt, an dem mir nur noch bleibt, ein letztes Mal zu meiner Lieblingsmusik zu tanzen, mich zu betrinken und ins Bett zu legen, ehe die unausweichliche Katastrophe eintritt. Weeping for the memory of a life gone by.

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