Brillen

Es ist nicht zu leugnen: ich werde älter. Das Haar wird dünner, dafür grauer, die Runzeln und Falten um die Augen tiefer und mehr, ein noch kleines und doch bei unverhüllter Betrachtung nicht zu übersehendes Bäuchlein wölbt sich oberhalb der Schamgrenze und bildet einen reizvollen Kontrast zu meinen dürren Beinen und Spillerärmchen; die Ohren- und Augenleistung lassen nach, weshalb ich zum einen des öfteren Gesprächen nicht mehr folgen kann, was nicht in jedem Fall ein Nachteil ist, vor allem im öffentlichen Personennahverkehr und an anderen Orten, wo man fremder Leute Geschwätz ausgesetzt ist, zum anderen trage ich seit geraumer Zeit eine Brille.

Ich mag meine Brille, unbeeinträchtigt von Eitelkeit trage ich sie gerne (abgesehen von gelegentlichen Aufenthalten in gewissen Spelunken, aber dort ist es ohnehin dunkel); ein schlankes Modell mit relativ kleinen Gläsern, eingefasst in ein schlichtes Gestell aus dezentem Draht. Ich mag meine Brille, obgleich sie keineswegs im Trend liegt: Wer heute mit der Zeit gehen will, trägt eine große Brille mit schwarzer, möglichst breiter Horneinfassung, früher AOK-Standard, heute Designerstück, prominente Träger sind/waren Woody Allen und Erich Honecker, nicht ganz so prominent mein Großvater mütterlicherseits; was vor kurzem noch als Karnevalsartikel mit Fensterglas verkauft wurde und jedem Kostüm das humoristische Sahnehäubchen aufsetzte, ist heute die große Mode der sehgeschwächten.

Waren es früher vor allem ältere Herren, die diese Art von Brillen trugen, weil sie die Reife erlangt hatten, da Äußerlichkeiten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen (eine dezentere Sehhilfe hätte der Physiognomie etwa eines Erich Honeckers nur unwesentlich zum Vorteil gereicht), so sind es heute vor allem Herrn in meinem Alter und jünger, deren Antlitze schwere schwarze Horngestelle zieren, selbst unser verehrter Herr Außenminister stieg unlängst auf ein markanteres Modell um, wenn auch nicht ein ganz so großes, ohnehin gibt er sich in letzter Zeit ja ungewohnt bescheiden; allüberall bin ich umgeben von dunklen Riesenbrillen, auf der Straße, in der Firma, in der Bahn…

Ich mache das nicht mit, zumal ich befürchte, dass mir ein solches Gerät die Anmutung eines ausgehungerten Uhus verliehe, trotz des erwähnten Bauchansatzes. Sollte allerdings eines Tages die Achtzigerjahre-Helmut-Kohl-Brille ihre modische Wiedergeburt erfahren, dann, ja dann könnte ich schwach werden.

Fürs Leben gezeichnet

Die Tätowierung der Menschheit begann vor etwa siebentausend Jahren, wie entsprechende Mumienfunde im nördlichen Chile belegen. War die dauerhafte Körperzeichnung bis vor einigen Jahren noch überwiegend Kennzeichen gewisser Randgruppen, etwa Knastbrüder, Seefahrer und zweifelhafter Damen, deren Hauptkunden Knastbrüder und Seefahrer waren, so bildet heute die nicht-tätowierte Minderheit eine immer geringer werdende Randgruppe. Nicht nur der Punk auf dem Bahnhofsvorplatz oder die Aushilfsuschi im Lidl, auch leitende Angestellte und Zahnarzt- wie Bundespräsidentengattinnen bekennen heute Farbe.

Meine erste Begegnung mit einer Tätowierung hatte ich in den Siebzigerjahren, als die Popgruppe Sailor auf dem Höhepunkt ihrer Zeit angekommen und regelmäßig in Ilja Richters Disco oder dem Musikladen mit Manfred Sexauer (ob der wohl wirklich so hieß? Der Name erinnert  ein wenig an ungeübten Analverkehr) zu sehen war, die älteren von Ihnen erinnern sich vielleicht: Girls, Girls, Girls, A Glas Of Champagne und The Old Nickelodeon Sound; die vier Jungs aus England, Erfinder und Nutzer des Nickelodeons, einem sperrigen, von zwei gegenüberstehenden Personen zu bedienenden Tasteninstrument, heute längst in den popmusikalischen Tiefen abgetaucht, sowohl die vier Jungs als auch ihr tönendes Sperrmöbel.

Disco und Musikladen, so was gibt es  heute leider gar nicht mehr, heute muss man Wetten, dass…? kucken, wenn man im Fernsehen internationale Popstars auf der Bühne sehen will, und wer will das schon, also Wetten, dass…? kucken, meine ich. In diesem Zusammenhang unbedingt erwähnenswert erscheint mir auch die Plattenküche mit Helga Feddersen, Gott habe sie selig, und Frank Zander, eine Mischung aus Musikladen und Klimbim, nur ohne die Titten von Ingrid Steeger.

In den Achtizigern gab es dann Formel Eins mit Peter Illmann, gefolgt von Ingolf Lück, Stefanie Tücking und Kai Böcking. Die Stars traten nun nicht mehr in Form von Bühnenpräsenz in Erscheinung, dafür aber in ihren Musikvideos, eine musikalische Darreichungsform, die kurz zuvor in Mode gekommen war. Formel Eins, ich habe es geliebt (während ich den gleichnamigen Autorennsport ungefähr so interessant fand und finde wie die Betrachtung eines Grashalmes beim Wachsen); leider musste es mit dem Aufkommen von MTV und VIVA bald sterben, sehr bedauerlich. Manchmal wird Formel Eins heute noch wiederholt, leider in unerträglicher Form, anstatt die damaligen Folgen einfach noch einmal zu senden, zeigen sie nur einzelne Ausschnitte, ständig unterbrochen von völlig überflüssigen Kommentaren nicht minder überflüssiger sogenannter B-Prominenter („Oh ja, bei dem Lied habe ich damals zum ersten Mal onaniert“ und so weiter).

Zurück zum Thema. Zu Zeiten von Formel Eins war das Schiff von Sailor längst gesunken oder bestenfalls im hintersten Winkel eines Hafenbeckens für alle Zeiten festgemacht als seeuntüchtiges Restaurantschiff. Ihr Sänger, George Kajanus, sang nicht nur sehr schön, während er auf seiner Gitarre spielte (übrigens eine sogenannte akustische Gitarre, was für ein Unfug in sich, das Gegenteil ist dann wohl eine optische oder olfaktorische oder was??), sondern er trug auf seiner Wange die Tätowierung eines kleinen Ankers. Also ich nehme nicht an, dass der wirklich tätowiert war, aber man weiß ja nie bei so einem richtigen Seebären. Ich gebe zu, es gab Zeiten, da vergötterte ich Sailor, konnte viele ihrer Lieder, frei von jeglichen Englischkenntnissen, mitsingen, und zu Karneval ging ich als – nein, nicht als Seemann – als George Kajanus, ohne Gitarre, aber mit Ringelpullover, Schiffermütze und Anker auf der Backe, also auf der Wange, meine ich. (Ich bin mir sicher, heute gibt es nicht wenige Menschen, die einen Anker oder andere Bildnisse auf der Backe, nicht auf der Wange tragen.)

Sah man früher Tätowierungen bei den oben genannten Randgruppen vor allem auf Unterarmen und im Falle von George Kajanus im Gesicht, auch die alten Nordchilenen beschränkten sich zunächst auf Hände und Füße, so ist heute nahezu keine Körperregion mehr davon ausgenommen. Während das in den Neunzigern vor allem bei Damen beliebte Arschgeweih aus gutem Grund aus der Mode gekommen ist (was bei einer Tätowierung ja eher eine Art langfristiges persönliches Pech bedeutet), sieht man zunehmend junge Männer mit tätowierten Waden. Ich finde das schlimm. Ein Jungsbein soll haarig sein, aber nicht tätowiert, so ist es meines Wissens in der päpstlichen Schöpfungsordnung vorgesehen, vielleicht irre ich mich aber auch. Vielleicht ist ja auch der Papst unterhalb seines wallenden Gewandes großflächig gefärbt, niemand wird es je erfahren, ist wohl auch besser so.

Proportional zur Anzahl der Tätowierwilligen wächst auch die Zahl der Tattoo-Studios, in der Nachbarschaft zum Beispiel erfolgt die piksende Färbung direkt hinter einem Schaufenster, der einzufärbende sitzt mit entblößtem Körper(teil) in einer Art Frauenarztstuhl, während der Künstler mit mächtigen, von oben bis unten tätowierten Armen für jedermann sichtbar seinem stechenden Werk nachgeht. Ich frage mich, tätowiert der sich eigentlich selbst, oder geht er dafür seinerseits in ein Tatoo-Studio seines Vertrauens? Sinngemäß dieselbe Frage stelle ich mir schon seit langem für Frisöre und Zahnärzte, ohne je eine verlässliche Antwort erhalten zu haben.

Ich gestehe: auch ich wollte nicht länger zur Randgruppe der Nichttätowierten gehören, deswegen ließ ich das bereits vor geraumer Zeit ändern, nur was ganz kleines aus dem Tätowiererkatalog, etwas größeres hätte auch nicht auf meinen spillerigen Oberarm gepasst; ein Ornament ohne jede symbolische Aussage, so hoffe ich jedenfalls, aber genau weiß ich es nicht, vielleicht ist es ja ein fremdländisches Schriftzeichen, welches mich in ein eher ungünstiges Licht rückt, etwa als Kinderhasser oder Paarhuferkopulierer. Wenn es so sein sollte, werde ich es hoffentlich niemals erfahren.

Tätow

Eine Bitte zum Schluss: keine Wort darüber an meine Eltern, auch mit Mitte vierzig bin ich kein Freund unnötiger Diskussionen. Vielen Dank!

 

Es nervt tierisch

Eigentlich mag ich Katzen. Nun soll man das Wort „eigentlich“ nicht verwenden, schon gar nicht zur Eröffnung eines Aufsatzes, schwingt bei seinem Gebrauch doch stets etwas unverbindlich-einschränkendes mit. Entweder mag man Katzen, oder man mag sie nicht. Wenn man sie nur teilweise mag, zum Beispiel nur schwarze, wohingegen man graugetigerte ablehnt, oder nur ihren Kopf und ihre Pfoten, ihren Schweif jedoch verabscheut, so sollte man dies deutlich zum Ausdruck bringen, anstatt die klare Position mit „eigentlich“ zu verschwurbeln.

Also noch mal von vorne: Ich mag Katzen. Und zwar solche wie früher bei meinen Großeltern auf dem Land. Sie hatten sie nicht für viel Geld bei einem Katzenzüchter gekauft, viel mehr war einfach immer eine da, weiß der Himmel woher sie kam, so wie in einem neu angelegten Gartenteich irgendwann plötzlich Frösche wohnen und die Menschen der Umgebung vor allem nachts mit idyllischem Gequake erfreuen, ohne dass der Gartenbesitzer vorher beim örtlichen Lurchhändler vorstellig gewesen wäre. Ganz normale Katzen also, getigert, gefleckt, einfarbig; meist blieben sie so lange, bis der natürliche Tod der im Freien lebenden Katze sie ereilte, das heißt bis sie auf der Landstraße überrollt wurden, was laut Volksmund ja sieben mal je Katze passieren muss, ehe sie endgültig hin ist, vielleicht folgt diese Erkenntnis auch nur aus dem zu häufigen Anschauen von Tom-und-Jerry-Filmen, wo die Katze ständig in die Luft gejagt, verbrannt, zerhackt oder von der Dampfwalze überrollt wird und dennoch schon in der nächsten Sekunde wieder der Maus nachjagt.

Die großelterlichen Katzen lebten stets draußen, durften das Haus nicht betreten und wurden mit dem Besen verscheucht, wenn sie es dennoch wagten. Ansonsten hatten sie kein schlechtes Leben, ernährten sich von selbstgefangenen Mäusen, und Oma kratzte ihnen immer die Reste vom Mittagessen auf einen Teller vor dem Haus, Kartoffeln, Soße, Rotkohl, Knochen von Hühnchen oder Kotelett, nach heutigen katzenernährungsphysiologischen Gesichtspunkten wohl eher bedenklich, aber davon hatten die Katzen und meine Großeltern keine Ahnung, daher machten sie sich stets dankbar über den Teller her, also die Katzen, nicht die Großeltern, was ja auch keinen Sinn ergäbe, denn die hatten ja vorher schon… egal.

Die Katzen legten ein artangemessenes Wesen an den Tag: Wenn ich meine Großeltern besuchte, konnte ich mit der aktuell amtierenden Katze spielen und sie streicheln – wenn sie Lust dazu hatte; dies tat sie durch ein behagliches Schnurren kund; andernfalls konnte es passieren, dass sie meinen kindlichen Übereifer durch einen gezielten Hieb mit ihren Krallen in seine Schranken wies, was ihr außer mir niemand übel nahm.

Solche Katzen mag ich, auch heute noch.

Es gibt auch Katzen, die mag ich nicht. Meine Kollegin Christine hat zwei davon, ich kenne sie nur von den Bildern her, die sie mir und anderen ständig zeigt, zwei magere braungraue Viecher mit sehr kurzem Fell und unfrohem Blick. Sie leben in der Wohnung und dürfen sie niemals verlassen, weil sie sonst Katzengrippe, Katzenpest oder was weiß ich alles bekommen, dann werden teure Tierarztbesuche fällig, außerdem ist es nicht schön, wenn die Katze krank ist, Christine ist dann meistens aus reiner Sympathie ebenfalls krank, und wenn nicht, zumindest unausstehlich, so als ob tagelang Vollmond wäre.

Katzenbilder. Je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto weniger ertrage ich sie, dank Facebook, Twitter und Christine habe ich mittlerweile eine echte Katzenbilderallergie entwickelt, bei jedem Bild, auf dem ein süßes Katzenbaby kuck-mal-wie-goldig mit der Stoffmaus oder einem anderen süßen Katzenbaby tollt, bekomme ich Schwitzehände und nervöses Zucken im linken Augenlid.

Angeblich sollen Katzenbabys bei meinem Großvater gewisse Aktivitäten ausgelöst haben, die ich jedoch mit Rücksicht auf zartgemütige Leser nicht detailliert wiedergeben möchte, und die ich zudem keineswegs gutheiße. Sehr wahrscheinlich stimmt das alles auch gar nicht und mein großer Bruder dachte sich diese Geschichten mit der Schaufel und dem Erdloch nur aus, um mich zu ärgern.

Katzenbeiträgen auf Facebook und Twitter kann ich durch Ignorieren und notfalls Entfolgen entgehen, Christine nicht. Mindestens einmal am Tag schickt sie eine E-Mail mit Bildern der neuesten Erlebnisse von „Egon“ und „Emil“ an die gesamte Abteilung; während aus den Nachbarbüros Laute der Verzückung herüber fiepen, lösche ich die Mail ungelesen; ich erwäge, eine Regel in meinem E-Mail-Programm zu hinterlegen, die Mails von Christine, welche einen Dateianhang enthalten, sofort eliminiert.

Damit ist es leider nicht getan. Am schlimmsten ist es, wenn sie mir unaufgefordert ihr Mobiltelefon vor die Nase hält, ihre Stimme sich schlagartig um eine Oktave erhöht und sie so Sätze sagt wie „Kuck mal, wie der Egon auf der Schulter von Georg sitzt!“ (Georg ist Christines Mann, ich bewundere ihn.) Ich kucke, sage maximal so etwas wie „Mhm“, meistens schweige ich, denn jedes weitere Wort könnte zu ernsten atmosphärischen Störungen zwischen Christine und mir führen, und das will ich nicht, denn eigentlich (da ist es wieder, ich finde, hier passt es) mag ich sie, sie ist freundlich, hilfsbereit, geradezu kumpelhaft mit einem angenehm-derben Humor, ich mag Frauen mit derbem Humor; wenn sie jedoch mit gezücktem Mobiltelefon diese Kuck-mal-Sätze piepst, möchte ich sie anschreien.

Einmal habe ich sie – im Scherze, versteht sich – gefragt, ob ihr klar sei, dass Katzen in anderen Kulturen fester Bestandteil des Speiseplanes sind. Gut, es sollte jedenfalls wie ein Scherz klingen, dabei finde ich den Gedanken gar nicht mal so abwegig. Katzenrückenfilet, Katzenzungen in Gelee, warum denn nicht? Ich meine, was macht eine Katze liebenswerter als ein Kaninchen, wodurch zeichnet sich ein Hausschwein als besonders verspeisungswürdig gegenüber einem deutschen Schäferhund aus, nur weil es nicht so treu kuckt und nicht die Zeitung bringt, dafür grunzt und quiekt anstatt zu bellen und jaulen?

Auch aus Katzenfell ließen sie sinnvolle Gegenstände des täglichen Gebrauchs fertigen, etwa Lenkradüberzüge, Mäntelchen für das iPhone und Herrenhandtaschen. Und Katzenschweife, aneinander genäht, könnten sehr stilvoll die Funktion dieser roten Samtschnüre übernehmen, welche, durch Ösenköpfe von hüfthohen Bodenstelen aus Messing gezogen, in Museen die Exponate vor unerwünschten Zugriffen allzu interessierter Besucher schützen.

Christine teilte meinen Humor in dieser Sache nicht, sie grinste nicht mal ansatzweise und reagierte so, als ob ich ihr vorgeschlagen hätte, wir könnten doch ihre Kinder verspeisen. Christine und Georg haben übrigens keine Kinder, wozu auch, sie haben ja zwei Katzen. Danach war unser Verhältnis deutlich abgekühlt, was jedoch nur ein paar Tage anhielt (sie hatte mich sogar aus ihrem Katzen-E-Mail-Verteiler genommen), bald darauf piepste sie wieder „Kuck mal…“ und hielt mir ihr Handy hin.

Seit ein paar Tagen mache ich mit meiner Handykamera Fotos von Omnibussen. Ich finde sie praktisch, weil sie einen von A nach B bringen und bei Bedarf auch wieder zurück, auch wenn es regnet oder man zwei bis drei Bier zu viel getrunken hat, ansonsten verbinde ich keinerlei ästhetische oder emotionale Empfindungen mit einem Bus; ein Bus ist ein Bus, nicht mehr und nicht weniger. Warum ich das mache? Als Gegenwaffe. Wenn Christine mir bald wieder ihre Katzenbilder unter die Nase hält, kontere ich mit einem Busbild, fiepe „Kuck mal, ein MAN-Gelenkbus, Linie 602, in der Abendsonne am Bussteig D. Schön, nicht?“ Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder sie versteht die Botschaft, oder nicht. Im ersten Fall habe ich endlich meine Ruhe, im zweiten Fall wird sie überall herumerzählen, ich hätte jetzt so einen komischen Tick mit Omnibussen, alle halten mich für bekloppt oder fetischistisch veranlagt; vielleicht tun sie das aber auch längst schon, man selbst bekommt so etwas ja immer als letzter mit.

Das vorstehende lässt sich sinngemäß auch auf Hundebesitzer und – für mich zumindest nachvollziehbarer – junge Eltern übertragen (wobei man sich im zweiten Fall bitte die Passage über die kulinarische Verwendung des Nachwuchses wegdenke, so weit würde ich nun doch nicht gehen). Nur sind die mir bekannten Hunde- und Kinderbesitzer wesentlich entspannter bezüglich ihrer Lieblinge. Vielleicht kenne ich auch nur nicht die richtigen.

Aufruf zur Wortschöpfung

Unsere Sprache befindet sich im ständigen Wandel: Wörter verschwinden, wie Wählscheibe, Kassettenrekorder oder Riesenwaschkraft, andere kommen neu hinzu, etwa Freundschaftsanfrage, Fickwunschverdacht oder googeln; wiederum andere halten sich hartnäckig, obwohl ihre Zeit längst gekommen ist oder sie einfach unsinnig erscheinen, nehmen Sie Kotflügel, Unkosten oder lohnenswert.

Manche Wörter hingegen existieren gar nicht, obwohl sie dringend benötigt werden, weil es den Gegenstand beziehungsweise Sachverhalt, den sie benennen sollen, zwar gibt, nicht jedoch ein adäquates Wort dafür, oder wissen Sie, wie dieses längliche Dings heißt, das Sie im Supermarkt auf das Kassenband legen, um Ihre Einkäufe von denen des Hintermanns abzugrenzen, um nicht versehentlich seine H-Milch oder Tiefkühlpizza zu bezahlen?

Ein solcher unzureichend bezeichneter Sachverhalt ist die Liebe unter Männern, vielleicht weil der Papst und seine Branche der Meinung sind, dies verstoße gegen die göttliche Schöpfungsordnung, somit gehöre es unbenamt. Dabei würden seine eigenen Mitarbeiter, die nicht nur aufgrund päpstlicher Zölibat-Verfügung des anderen Geschlechts entsagen, vermutlich eine größere Flotte Kirchenschiffe füllen.

Wenn ich „Männer“ schreibe, so ist dies keineswegs Ausdruck meiner Geringschätzung des anderen Geschlechts, vielmehr verfügen die Damen ja durchaus über ein schönes Wort. Wem bei lesbisch Kurzhaarfrisuren und Holzfällerhemden in den Sinn kommen, verkennt, dass sich dieses Wort ableitet von der griechischen Insel Lesbos, und wer denkt da nicht an Sonne, Meer, Strand, blauen Himmel und weiße Windmühlen, deren betuchte Flügel sich im lauen Wind drehen? Also ein durchaus positiv belegter Begriff. (Dass dieses Wort zudem auch in Titeln mancher speziell-zielgruppenspezifischer Naturfilme enthalten ist, unterstreicht zwar ebenfalls seine positive Würdigung, soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden.)

Wie unschön klingt dagegen „schwul“, denkt der gemeine Hetero dabei doch sogleich an eine alternde Tunte mit gezupften Augenbrauen und gefärbten Haaren, die mit nasaler Fistelstimme so Sätze sagt wie „Liebelein, fährst du mich bitte zur Maniküre? Ich habe mir den Nagel eingerissen, Hööölle!“ – Als Klaus Wowereit 2001 seinen berühmten Satz sagte „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“, schien das Wort zunächst etabliert, doch kommen hieran ernste Zweifel auf, lauscht man der Jugend. Es ist nicht zu überhören: Schwul ist nach wie vor ein Schimpfwort, wobei es sich mittlerweile keineswegs nur gegen mehr oder weniger männliche Personen richtet, alles mögliche kann heute schwul sein: Autos, Schuhe, Taschen, Frisuren, die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen; sogar Mädchen, wie es eine zweifelhafte Kapelle, deren Name mir entfallen ist, vor einiger Zeit besang. Wir können uns noch so selbstbewusst als schwul bezeichnen, sobald sich ein Hetero in durchaus bester Absicht mit uns über dieses Thema unterhält, meidet er das Wort wie der Schwule die Premiere-Fußballkneipe, vielmehr ersetzt er es durch das Wörtchen „so“, etwa wenn er sagt „Also ich habe kein Problem damit, dass du (kurze Pause) so bist.“

Ja, natürlich gibt es andere Wörter, etwa homosexuell. Aber ist das nicht noch viel schlimmer, klingt es nicht eher wie eine ansteckende Krankheit, die der Behandlung bedarf? Ich weiß, es gibt durchaus nicht wenige Menschen, die das genau so sehen, schlimm genug. Einige Kirchenmänner vertreten die Ansicht, Homosexualität könne überwunden werden, Mann müsse nur in ausreichendem Maße beten. Abgesehen davon, dass ich nichts anderes sein will, stelle ich mir die Reaktion Gottes auf mein Gebet etwa so vor: „Sag mal Junge, ich ärgere mich gerade mit den Arabern herum, und du kommst mir mit soner Kacke? Es ist alles in Ordnung mit dir, schließlich habe ich dich so gemacht, und jetzt gehe hin und liebe deinen Nächsten!“

Gay – auch nicht viel besser. Es klingt so pseudo-fortschrittlich-liberal („Hey, du bist gay, das ist okay“), zudem bedeutet es übersetzt noch etwas anderes, nämlich fröhlich, und das ist ja wohl nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Es ist nicht anzunehmen, dass die Jungs, die in Jamaika, im Iran oder in einem oberbayrischen Dorf wegen ihrer Neigung verfolgt, verprügelt, verhaftet oder gar umgebracht werden, darüber besonders gay sind.

„Verzaubert“ wird auch gerne genommen. Ich denke da eher an ein weißes Kaninchen, das an seinen Ohren aus einem schwarzen Hut gezerrt wird, an den Froschkönig oder die Fee Amaryllis, die in Unkengestalt hinter drei schweren Türen im Kellerverlies von Petrosilius Zwackelmann ihr trauriges Dasein fristet, auch keine schöne Vorstellung.

Ganz witzig hingegen finde ich den vor einiger Zeit in diesem Zusammenhang gehörten Begriff „erkältet“, wenngleich er hier seinen Zweck nur unzureichend erfüllt. Man stelle sich folgenden Dialog vor: „Bringen Sie nächste Woche Ihre Frau mit?“ – „Nein, ich bin erkältet.“

Sie sehen, es besteht dringender Bedarf an einer passenden Wortneuschöpfung. Vorschläge werden gerne entgegen genommen.

Okay…

Der regelmäßige Leser dieses Blogs, wenn es ihn denn gäbe, kennte* meine regelmäßig aktualisierte Liste der nervigsten Redewendungen und Floskeln. Ganz oben auf der Liste steht zu recht das Wörtchen „okay“, Sie wissen schon, dieses fiese Floskel-Okay mit anhebender Stimmmodulation auf der zweiten Silbe, früher fester Bestandteil des Sprachschatzes schwarzbeanzugter Berater und Kostümschicksen mit strengen Business-Frisuren, aus Besprechungen und geschäftlichen wie zunehmend auch privaten Gesprächen nicht weg zu denken, selbst Fernseh- und Radiomoderatoren scheuten sich nicht seiner Verwendung.

Früher? Ja, in der Tat, es scheint ruhig geworden zu sein um dieses Wort, gleichsam den Löwenzahn im sprachlichen Zierrasen, kaum einer benutzt es noch, jedenfalls nehme ich es nicht mehr wahr. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur abgestumpft, so wie langjährige Anwohner einer Autobahn oder Bahnstrecke, welche gegenüber leidgeplagten Besuchern nach einer schlaflosen Nacht behaupten, die Autos beziehungsweise Züge gar nicht mehr zu hören.

Okay – ich vermisse es nicht. Und vielleicht findet es sich ja bald auf einer anderen Liste wieder, nämlich der Liste der aussterbenden Wörter. Leider ist die Freude darüber nur von kurzer Dauer, andere haben längst seinen Platz eingenommen, ich verweise gerne nochmals auf die oben erwähnte Liste; und ganz aussterben wird es wohl niemals, vielmehr lebt es weiter in Form seiner dümmlichen kleinen Schwester „Okidok(i)“, welche hier und da noch zu vernehmen ist.

In letzter Zeit hört und liest man zunehmend eine weitere sprachliche Verrenkung, das hier besungene Wort betreffend: seine Beugung. „Ich habe einen ganz okayen Chef“, hörte ich neulich jemanden in der Bahn sagen. Zugegeben, dagegen ist das klassische Berater-Okay ein wahrer Wohlklang.

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* Konjunktiv II von „kennen“, jedenfalls unterkringelt das Textverarbeitungsprogramm es nicht. Für alle anderen, die es nicht verstehen: würde … kennen.