Postfaktisch

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat postfaktisch zum Wort des Jahres erklärt. Dieses bedeutet trotz der ersten Silbe nicht, dass Briefe in andere Briefkästen eingeworfen werden anstatt an den angegebenen Anschriften. Erst wenn jemand, dem viele Menschen zuhören, zum Beispiel Wolfgang Bosbach, in einer Talkshow behauptete, fast die Hälfte aller Briefe landete in fremden Briefkästen, obwohl tatsächlich 99,x Prozent ohne Umwege dem Empfänger korrekt zugestellt werden, und ließe diese bosbachsche Behauptung nach mehrfacher Multiplikation in diversen Echokammern dennoch den Kurs der Aktie Gelb dahinschmelzen wie eine Kugel Vanilleeis auf heißem Asphalt, erst dann wäre das postfaktisch.

Eine große Institution des Postfaktischen ist die Werbebranche, deren originärer Zweck traditionell in der Behauptung beschönigender Fakten das anzupreisende Produkt betreffend liegt. Einer ihrer beliebtesten Werbeträger war Thomas Gottschalk, der nicht nur Jahrhunderte lang in ulkigen Bekleidungen Wetten dass…? moderierte, sondern mindestens ebenso lange Produkte eines bekannten Bonner Süßwarenherstellers anpries. Eher peinlich mutete hingegen die Bewerbung der Aktie Gelb an, die er zum Börsengang der Post betrieb („Tach Post!“), zusammen mit seinem Bruder, dessen Vorname mir entfallen ist. Dem Erfolg der Aktie hat es wohl nicht geschadet.

Wesentlich sympathischer und glaubwürdiger wirkte da einige Jahre zuvor Manfred Krug als Promoteur der Telekom-Aktie, auch wenn er sich später, nach deren Absturz, öffentlich davon distanzierte. Leider ist Manfred Krug in diesem Jahr von uns gegangen, und der Telekom-Aktie geht es auch nicht besonders gut.

Mittlerweile ist es ruhig geworden um Thomas Gottschalk, im Fernsehen tritt er kaum noch in Erscheinung. Doch auch ein Thomas Gottschalk benötigt Geld, zum Beispiel um sich weiterhin ulkige Bekleidung leisten zu können, damit er nicht länger in billigen Lederjackets herumlaufen muss. Deswegen muss er wieder Werbung machen, für ein neu eröffnendes Möbelhaus:

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Er ist alt geworden, der Tommy, tiefe Falten umspielen die Augen, deren Blick uns sagt: „Scheiße, ich will das nicht, aber ich brauche das Geld, also lächeln!“ Darüber kann auch nicht die Sprechblase hinwegtäuschen, die ihm eine positive Botschaft zum angepriesenen Möbelhändler in den Mund zu legen sucht. Und für alle, die ihn nicht mehr (er)kennen, ist auch noch sein Name dazu geschrieben.

Das ist nicht postfaktisch – das ist tragisch.

Die weiteren Wörter des Jahres 2016 sind übrigens: 2.Brexit, 3.Silvesternacht, 4. Schmähkritik, 5. Trump-Effekt, 6. Social Bots, 7. schlechtes Blut, 8. Gruselclown, 9. Burkiniverbot, 10. Oh, wie schön ist Panama. Einrichtungshaus und Echokammer befinden sich nicht darunter, aber vielleicht schaffen sie es ja auf die Liste der Unwörter des Jahres.

War eigentlich Wolfgang Bosbach mal zu Besuch bei Wetten dass…?

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