Am Wochenende oder im Urlaub ohne Not vor zehn Uhr aufzustehen fühlt sich ähnlich falsch an wie das Bier nicht auszutrinken oder den Teller nicht leer zu essen. Immer den Teller leer essen zu müssen war ein prägender Bestandteil meiner Flüchtlingskind-Erziehung; der Satz Iss wenigstens das Fleisch auf! hat meine Kindheit geprägt wie ein glühendes Brandeisen und er wirkt bis heute nach, selbst wenn ich in Frankreich bin, wo es zum guten Ton gehört, etwas auf dem Teller zurück gehen zu lassen.
Meine Erziehungsberechtigten bemühten zwei Argumente, dies zu bekräftigen: 1) würde es morgen regnen, wenn ich nicht aufesse, und 2) die armen Negerkinder in Afrika, die nichts zu essen haben. Recht bald erkannte ich, dass mein Essverhalten kaum messbare meteorologische Auswirkungen nach sich zog, auch fehlte mir die Einsicht, dass meine dunkelhäutigen Altersgenossen ernsthaft Freude haben würden an inzwischen erkalteten Fischstäbchen auf Rahmspinat. Zudem wies die elterliche Argumentation einen Logikfehler auf: In Afrika schien immer die Sonne, demnach hatten die Kinder dort alles aufgegessen. Aber wie konnte das sein, wenn sie nichts zu essen haben? Außerdem hatten sie diese dicken Bäuche, mussten also ganz schön verfressen sein.
Neger sagt man heute nicht mehr, auch nicht Negerkuss. Auch der Sarottimohr ist schon lange im Ruhestand. Sagt man eigentlich noch Zigeunerschnitzel, oder ist auch dieser Begriff inzwischen im Abklingbecken der politischen Korrektheit versenkt worden? Wie sagt man sonst: Sinti- und Romaschnitzel, oder kurz Schnitzel SiRo? Genau so eine Nullnummer wie Cola Zero. Was genau ist eine Nullnummer? Eine Zahl nahe am Gefrierpunkt, oder ein unentgeltlicher Geschlechtsakt? Egal, nicht so wichtig. Auch nur eines dieser Wörter, die gerne und häufig benutzt werden, ohne über den Sinn nachzudenken. Etwa wie ‚proaktiv‘, ‚Nutzfahrzeug, ‚Funktionsunterwäsche‘ oder ‚Akustische Gitarre‘. Oder Zigeunerschnitzel.