Quallenwanderung

Die Idee für nachfolgenden Text kam mir des Nachts zwischen eins und drei, als ich nicht einschlafen konnte, wobei unklar bleibt, was Ursache und was Wirkung war. Ich versichere jedoch, dass bei der Entstehung des Textes psychoaktive Substanzen keine Rolle gespielt haben.

Traten Quallenplagen in früheren Zeiten vor allem in Küstenregionen auf, so weitet sich das gehäufte Auftreten der schleimigen Zeitgenossen zunehmend auch auf innere Landesteile aus; Experten vermuten den Klimawandel und die zunehmende Verschmutzung der Meere als wesentliche Ursache hierfür. Für ihre Wanderung machen sich die Tiere hauptsächlich die Infrastruktur der Kanalisation zu nutze; mir selbst ist es bereits passiert, dass bei der morgendlichen Darmentleerung statt des gewohnten „Platsch“ ein gedämpftes „Pitsch“ meine Aufmerksamkeit nach unten lenkte, wer kennt es nicht, dieses Geräusch, wenn Kot auf Qualle fällt. Nur durch beherzte sofortige Betätigung der Spülung konnte ich schlimmeres verhindern.

Nicht unterschätzt werden darf die Gefahr für den Straßenverkehr. Stellt eine einzelne Qualle – abgesehen von der Schrecksekunde – noch keine ernste Gefährdung für Mensch und Maschine dar, lässt sie sich nach dem Auftreffen doch problemlos mit dem Scheibenwischer beseitigen, so ist das Gefahrenpotenzial größerer Gruppierungen erheblich, vor allem bei Dunkelheit. Erst kürzlich wieder geriet ein Autofahrer im Kreis Göttingen auf der Landstraße zwischen Kleinwiershausen und Settmarshausen in eine plötzlich aufgetretene Quallenbank, welche die Straße in eine Rutschbahn verwandelt hatte, sein Fahrzeug kam von der Straße ab und wurde erheblich beschädigt, zum Glück blieb es beim Blechschaden. Daher kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden: runter vom Gas, wenn das Verkehrszeichen 143q „Quallenwechsel“ und Hinweisschilder „Quallenwanderung“ aufgestellt sind.

Folie1

Doch darf man nicht verkennen, dass die Qualle auch ein nützliches und durchaus liebenswertes Wesen ist. Die letzte Qualle, die den Weg in die Kanalisation meiner Wohnung fand, eine Nordsee-Feuerqualle mit sehr schöner Zeichnung, spülte ich nicht achtlos weg, sondern gab ihr ein neues Zuhause in einem geräumigen Goldfischglas. Dort hielt sie es jedoch nicht lange aus und ließ nichts unversucht, das Glas zu verlassen und sich im Haushalt nützlich zu machen. Obgleich ihr Geschlecht nicht eindeutig zu bestimmen war, gab ich ihr den Namen Kalle*. Während sich Quallen in ihrem angestammten Lebensraum überwiegend von Plankton und Kleinlebewesen ernähren, bevorzugen die Landgänger Kerbtiere und Bodenbewohner aller Art. Seit Kalle bei uns wohnt, schwirren keine Fruchtfliegen mehr über der Obstschüssel, und Stechmücken im Schlafzimmer gehören der Vergangenheit an. Apropos Schlafzimmer: so sehr man seinen neuen Hausgenossen auch lieb gewonnen hat, eine Qualle gehört nicht ins Bett!

Kalle ist ein sehr geselliges und gelehriges Tier. Beschränkte er sich anfangs darauf, mit seinen brennenden Tentakeln den Nachbarhund zu ärgern, der unser Grundstück seitdem nicht mehr betreten hat, zeigt er sich inzwischen auch uns Menschen gegenüber sehr anhänglich. Es hat zwar etwas gedauert, bis wir ihm beigebracht haben, zur Begrüßung nicht die Tentakeln um unseren Hals zu legen, aber seitdem möchten wir ihn nicht mehr missen. Auch Feuergeben klappt inzwischen tadellos: sobald ich mir eine Zigarette in den Mund stecke, kommt Kalle und zündet sie an, mit Streichholz und Reibefläche ist er schon sehr geschickt, Feuerzeug übt er noch. Nachahmern sei dringend empfohlen, sämtliche Zündwaren gut zu verschließen, wenn Sie das Haus verlassen, da sonst unliebsame Überraschungen nicht ganz ausgeschlossen werden können.

Längst hat auch die gehobene Küche die kulinarischen Vorzüge der Qualle entdeckt. Ursprünglich ein Arme-Leute-Essen aus der Provence, gilt Confit de Médusé inzwischen als Delikatesse, und die Zubereitung ist denkbar einfach. Für sechs Personen benötigt man

1000 ml Wasser
3-4 Lorbeerblätter
5 Knoblauchzehen
10 Gramm Salz
eine Prise Pfeffer
frischen Thymian
frischen Rosmarin
Muskatnuss
50 Gramm Weizenmehl
eine Platte Gelantine
je nach Geschmack 25 – 50 ml trockenen Weißwein
zwei frische Quallen

Übrigens ist nahezu jede Qualle geeignet, bei der Zubereitung Spanischer Geleeren und ähnlich aggressiver Arten rate ich jedoch dringend zur Verwendung von Schutzhandschuhen. Auf südfranzösischen Wochenmärkten gehören Quallen schon seit vielen Jahren zum Standardangebot, hier bei uns ist man noch darauf angewiesen, was die Natur bzw. die Kanalisation bietet, im zweiteren Fall empfiehlt sich vor der Zubereitung eine gründliche Reinigung. Gut sortierte Lebensmittelmärkte bei uns bieten seit einiger Zeit Quallenmark aus der Dose an, von der Verwendung rate ich jedoch wegen der enthaltenen Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker ab.

Nun zur Zubereitung des Confit de Médusé:

Das Wasser aufkochen lassen, Lorbeerblätter, Knoblauch (unzerkleinert), Salz, Pfeffer und ca. ein Gramm geriebene Muskatnuss hinzu geben, die Menge des Thymians und des Rosmarins ist beliebig und ist eine Frage Ihres persönlichen Geschmacks. Das ganze etwa eine Stunde bei kleiner Flamme köcheln lassen, zwischendurch immer mal wieder umrühren. Nach einer Stunde den Sud vom Herd nehmen, durch ein Sieb streichen, die Gelatine hinzufügen, gut umrühren, Weißwein hinzugeben und das ganze erkalten lassen.

Da die Innereien einer Qualle, insbesondere die Tentakeln, aufgrund der darin enthaltenen Bitterstoffe für den Menschen ungenießbar sind, entfernt man diese; die übrig bleibende Galertglocke lässt sich jedoch bedenkenlos verwenden und gilt als äußerst vitaminreich. Diese legt man in einen Bräter, bestreut sie reichlich mit Mehl und schiebt sie bei 150 Grad in den vorgeheizten Backofen. Wegen der Geruchsentwicklung während des Backvorganges sollte die Dunstabzugshaube derweil auf höchster Stufe laufen. Die Backzeit beträgt eine Stunde, das Ergebnis ist geruchs- und geschmacksneutral und lässt sich bedenkenlos über den Hausmüll entsorgen.

Das erkaltete und gefestigte Confit in Scheiben schneiden, auf Schwarzbrot ist es eine Köstlichkeit gerade an kalten Tagen.

Apropos kalte Tage: Während sich die Landquallen anfangs regelmäßig gegen Herbst zurückzogen in wärmere Gefilde, wird zunehmend beobachtet, dass einzelne Exemplare bleiben wo sie sind, so wurden im Januar schon Quallen in Koblenz-Lützel, Dingolfing, Neustadt (Wied), Bielefeld-Großdornberg, Papenburg und Dortmund-Hörde gesichtet; Experten gehen inzwischen davon aus, dass künftig aufgrund der zunehmend milderen Winter immer mehr Quallen den mühsamen und gefährlichen Weg in den Süden meiden und und die kalte Jahreszeit in hiesigen Gefilden fristen werden. Die Tierfutterindustrie hat bereits reagiert, mittlerweile sind in einschlägigen Fachgeschäften Quallenknödel** erhältlich, die bei anhaltenden Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bzw. geschlossener Schneedecke ausgelegt und -gehängt werden können, um den wässrigen Gesellen das Überleben zu erleichtern.

* Anmerkung des Verfassers: Jegliche Verbindung zu tatsächlich lebenden Personen dieses Namens weise ich entschieden von mir.
** Bereits Anfang der 1980er Jahre verwendete der großartige Loriot diesen Begriff, wenn auch freilich noch ins grostesk-lächerliche ziehend. Ähnlich dem Begriff „Migrationshintergrund“ wird der Quallenknödel schon sehr bald aus dem deutschen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken sein und bei einem bekannten namhaften Buchstabenlegespiel mit einer hohen Punktzahl belohnt werden.

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