Nicht genehmigungsfähig in einer mitfühlenden Stadt

Ich bin mir nicht sicher, ob ich über das, was vergangene Woche in der Zeitung stand, traurig oder wütend sein soll. Dort war zu lesen über den Kölner Sven Lüdecke, der in seiner Freizeit und auf eigene Kosten kleine bewegliche Holzhäuschen baut. Die schenkt er Menschen, denen es nicht vergönnt ist, sich nach Feierabend in die warme Wohnung auf das Sofa zurückzuziehen.

Die Obdachlosen – darf man das noch schreiben oder ist das inzwischen auch irgendwie diskriminierend? – die Menschen ohne feste Bleibe also nehmen die Häuschen gerne an, haben sie doch eine Tür, hinter die sie sich mal ungestört und wettergeschützt zurückziehen können.

Doch o weh, der Häuschenbauer hat nicht die Stadt Köln gefragt, und die mag die Häuschen nicht. Die Begründung könnte deutscher nicht klingen: Bei den Häuschen handele es sich um „ei­ne Un­ter­kunft oh­ne Strom, Was­ser, Ka­nal, Hei­zung und oh­ne aus­rei­chen­de Steh­hö­he“, so eine Pressesprecherin, daher seien sie „für die dau­er­haf­te Nut­zung als Wohn­raum […] nicht ge­neh­mi­gungs­fä­hig.“ Gewiss. Zudem fehlen schnelles Internet, Flachbildfernseher, Whirlpool, Wintergarten und Stuckdecken. Auch verstoßen sie vermutlich gegen geltende Energiesparnormen für Neubauten. Daher ist es besser, die Menschen weiterhin im Freien schlafen zu lassen, frische Luft ist ja auch gesund.

„Köln ist ei­ne mit­füh­len­de Stadt“, sagt die Pressesprecherin und verweist auf „ei­ne gro­ße Viel­falt von An­ge­bo­ten für die­sen Per­so­nen­kreis“. Diese Meinung teilt dieser Personenkreis jedoch nicht uneingeschränkt, weil er in den Unterkünften schlechte Erfahrungen mit Diebstahl und auch Gewalt gemacht hat.

Aber vielleicht haben sich auch einige Wohlfühlanspruchsbürger beschwert, weil diese Kisten in Sichtweite ihrer Villa standen? Oder Vermieter, die nun befürchten, ihre überteuerten Wohnungen nicht mehr loszuwerden, weil plötzlich alle in so einem Häuschen wohnen wollen? Und denkt bitte mal einer an die Kinder? Kinder leiden ja immer am meisten.

„So­bald Bo­xen auf städ­ti­schem Grund ste­hen, wer­den sie ab­ge­räumt“, so eine Sprecherin. Hoffentlich können die Bewohner die Häuschen dann rechtzeitig verlassen, bevor die Sperrmüllpresse sie in Sondermüll umwandelt.

Liebe Stadt Köln, ich vermisse die rheinische Gelassenheit! Unterstützt lieber diese Initiative, stellt Material zur Verfügung, vielleicht sogar etwas Geld; vor allem aber: Weist Flächen aus, wo die Häuschen aufgestellt werden dürfen! Es muss ja nicht gleich die Domplatte sein.

Klar: Die Häuschen lösen nicht das Problem Obdachlosigkeit. Und doch lassen sie vielleicht einen Hoffnungsschimmer erahnen, auf dass das Leben auf der Straße, im Zelt oder unter der Brücke ein klein wenig besser werde. Nicht nur in Köln.

Inzwischen hat Sven Lüdecke einen Verein gegründet. Wenn Sie, liebe Leser, dieses Projekt unterstützen möchten, können Sie das hier tun:

Little Home Köln
Spendenkonto:
IBAN DE96 3705 0198 1933 6044 47
BIC COLSDE33XXX

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Hier noch ein paar Links dazu:

https://www.welt.de/vermischtes/article161022780/Wie-2-8-Quadratmeter-fuer-Obdachlose-eine-Stadt-spalten.html

http://www.huffingtonpost.de/sven-luedecke/

http://www.ksta.de/koeln/innenstadt/soziales-projekt-koelner-verschenkt-wohnboxen-an-obdachlose-25041460

Postfaktisch

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat postfaktisch zum Wort des Jahres erklärt. Dieses bedeutet trotz der ersten Silbe nicht, dass Briefe in andere Briefkästen eingeworfen werden anstatt an den angegebenen Anschriften. Erst wenn jemand, dem viele Menschen zuhören, zum Beispiel Wolfgang Bosbach, in einer Talkshow behauptete, fast die Hälfte aller Briefe landete in fremden Briefkästen, obwohl tatsächlich 99,x Prozent ohne Umwege dem Empfänger korrekt zugestellt werden, und ließe diese bosbachsche Behauptung nach mehrfacher Multiplikation in diversen Echokammern dennoch den Kurs der Aktie Gelb dahinschmelzen wie eine Kugel Vanilleeis auf heißem Asphalt, erst dann wäre das postfaktisch.

Eine große Institution des Postfaktischen ist die Werbebranche, deren originärer Zweck traditionell in der Behauptung beschönigender Fakten das anzupreisende Produkt betreffend liegt. Einer ihrer beliebtesten Werbeträger war Thomas Gottschalk, der nicht nur Jahrhunderte lang in ulkigen Bekleidungen Wetten dass…? moderierte, sondern mindestens ebenso lange Produkte eines bekannten Bonner Süßwarenherstellers anpries. Eher peinlich mutete hingegen die Bewerbung der Aktie Gelb an, die er zum Börsengang der Post betrieb („Tach Post!“), zusammen mit seinem Bruder, dessen Vorname mir entfallen ist. Dem Erfolg der Aktie hat es wohl nicht geschadet.

Wesentlich sympathischer und glaubwürdiger wirkte da einige Jahre zuvor Manfred Krug als Promoteur der Telekom-Aktie, auch wenn er sich später, nach deren Absturz, öffentlich davon distanzierte. Leider ist Manfred Krug in diesem Jahr von uns gegangen, und der Telekom-Aktie geht es auch nicht besonders gut.

Mittlerweile ist es ruhig geworden um Thomas Gottschalk, im Fernsehen tritt er kaum noch in Erscheinung. Doch auch ein Thomas Gottschalk benötigt Geld, zum Beispiel um sich weiterhin ulkige Bekleidung leisten zu können, damit er nicht länger in billigen Lederjackets herumlaufen muss. Deswegen muss er wieder Werbung machen, für ein neu eröffnendes Möbelhaus:

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Er ist alt geworden, der Tommy, tiefe Falten umspielen die Augen, deren Blick uns sagt: „Scheiße, ich will das nicht, aber ich brauche das Geld, also lächeln!“ Darüber kann auch nicht die Sprechblase hinwegtäuschen, die ihm eine positive Botschaft zum angepriesenen Möbelhändler in den Mund zu legen sucht. Und für alle, die ihn nicht mehr (er)kennen, ist auch noch sein Name dazu geschrieben.

Das ist nicht postfaktisch – das ist tragisch.

Die weiteren Wörter des Jahres 2016 sind übrigens: 2.Brexit, 3.Silvesternacht, 4. Schmähkritik, 5. Trump-Effekt, 6. Social Bots, 7. schlechtes Blut, 8. Gruselclown, 9. Burkiniverbot, 10. Oh, wie schön ist Panama. Einrichtungshaus und Echokammer befinden sich nicht darunter, aber vielleicht schaffen sie es ja auf die Liste der Unwörter des Jahres.

War eigentlich Wolfgang Bosbach mal zu Besuch bei Wetten dass…?

Wenn nach der Extrameile das Kniegelenk weg ist

Es gibt so vieles, was man verlieren kann: Den Hausschlüssel, Geld, den Überblick, die Lust, den Verstand, die Geduld, die Unschuld, einen Krieg, Vertrauen, den Glauben, Eier. Auch diverse Körperteile geraten gelegentlich in Verlust, glücklicherweise zumeist nur im sprichwörtlichen Sinne: das Gesicht (was manchem Hackfressenbesitzer eher einen Gewinn bescherte), die Nerven, der Kopf, das Herz, Zähne, Haare. Als der Verlustgefahr eher unverdächtig galten bislang Kniegelenke. Wie wir nun wissen wir, können auch diese wegkommen. Stand jedenfalls in der Zeitung*:

kniegelenkverlust

Aber vielleicht ist das ja ein Beleg für die Existenz der viel gescholtene Lügenpresse.

Auch Wahlen kann man verlieren. Oder gewinnen, das ist nicht immer vorhersehbar, außer in Russland, Nordkorea und früher der DDR. Daher verkneife ich mir hier weitere Ausführungen zum Thema Horrorclowns. Ich möchte nicht daran schuld sein, wenn Amerika uns demnächst vielleicht den Krieg erklärt. Wobei das Phänomen nicht zu verharmlosen ist, wie folgender Zeitungsausschnitt** belegt:

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Jegliches Fingerspitzengefühl hatte offenbar die interne Kommunikationsabteilung eines großen Konzerns verloren, als sie die nachfolgende verbale Hohlraumversiegelung, augenscheinlich Erzeugnis eines minderwertigen Phrasengenerators, dem Vorstandsvorsitzenden in den Mund beziehungsweise Mitarbeiterbrief schrieb:

Engagierte Mitarbeiter, die bereit sind, die Extrameile zu gehen, sind die beste Voraussetzung dafür, dass wir unsere Kunden nachhaltig begeistern – was wiederum unsere Leistungsfähigkeit und unser Wachstum stärken wird.

Wer möchte nach solch aufmunternden Worten nicht gerne die Extrameile laufen – wenn auch mancher vielleicht in Fluchtrichtung. Doch achte man dabei unbedingt auf sein Kniegelenk.


* General-Anzeiger Bonn vom 20.10.2016

** General-Anzeiger Bonn vom 25.10.2016

Über Schweißfußhass und Präsidentenüberdachung

Wie vergangene Woche vage angedeutet, bin ich mir nicht zu schade, einem weiteren Buchstaben ein paar Minuten Aufmerksamkeit zu opfern: dem ß. Wobei fraglich erscheint, ob es sich bei dem betrachteten Schriftzeichen überhaupt um einen vollwertigen Buchstaben handelt, verfügt es doch über keinen eigenen klangvollen Namen wie das H oder T, und auf der Computertastatur muss es sich oberhalb der Vollwert-Buchstaben eine Taste mit dem Fragezeichen teilen. Je nach Geschmack und Gewohnheit wird es bezeichnet als scharfes Es oder Eszett, dabei sieht es eher einem B ähnlich oder dem griechischen Beta. Das erklärt sich aus der Frakturschrift:

fraktur-s

Möge niemand behaupten, hier lerne er nichts.

Bis vor einigen Jahren war das ß nur als Kleinbuchstabe gebräuchlich, mittlerweile ist seine Nutzung auch als Großbuchstabe zulässig, was sich jedoch anscheinend noch nicht herumgesprochen hat, denn vielfach ist stattdessen immer noch das gedoppelte S gebräuchlich, also zum Beispiel STRASSE statt STRAßE. Das mag angesichts des noch ungewohnten Bildes verzeihlich sein. Unverzeihlich erscheint jedoch das Unvermögen vieler Schreibender, das ß bei gewöhnlicher Schreibung mit Kleinbuchstaben korrekt zu verwenden, also Straße statt Strasse. Dabei ist es seit der viel beschimpften Rechtschreibreform wirklich sehr einfach: Nach einem langen Vokal oder Zusammensetzungen wie ei und au steht ß, nach einem kurzen Vokal ss, denken Sie an den Schweißfußhasser. Dass hierüber schon lange vor der Rechtschreibreform Unsicherheit bestand, veranschaulicht ein Rundgang durch die Bonner Innere Nordstadt.

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wolfstrasse-1

heerstrase-1

Dennoch schlage ich vor, es den Schweizern gleichzutun und das ß zugunsten von ss abzuschaffen, die Schatulle des deutschen Wortschatzes wird hierdurch keine Inhaltsschmälerung erleiden, stattdessen erhält das eine oder andere Juwel lediglich einen neuen Schliff. Zumindest wird unsere Sprache dadurch nicht schlimmer verstümmelt als durch die fortschreitende Ersetzung von Sinn ergeben durch Sinn machen. Bei der Gelegenheit plädiere ich auch gleich für die Abschaffung von dass, dessen korrekten Gebrauch in Abgrenzung von das auch immer weniger Menschen zu beherrschen scheinen. Dass ein Wort für beide Verwendungszwecke ausreicht, ist im Englischen mit that längst hinreichend bewiesen, also nur Mut, liebe Sprachwächter.

„Aber so denken Sie doch an die Eindeutigkeit“, höre ich bereits die Kritiker schreien und ihr beliebtes Beispiel aufsagen, wonach es ein großer Unterschied sei, ob Bier in Maßen oder Massen konsumiert wird. Dem entgegne ich: Das ergibt sich aus dem Zusammenhang beziehungsweise der Aussprache. So wie bei jemandem, der Montage gerne mag: Entweder ist er ein Freund des Wochenbeginns, oder er bevorzugt es gegenüber einer Schreibtischtätigkeit, an wechselnden Einsatzorten Windräder, Brücken oder Paketverteilanlagen zusammenzuschrauben. Dennoch rief bislang niemand danach, im zweiten Falle das g, welches dort ja mehr wie sch ausgesprochen wird, besonders zu kennzeichnen, etwa durch ein kleines Spitzdächlein darüber wie bei Erdoĝan.

Nein, das ist eine schlechte Idee, dann würde der Präsident ja Erdoschan ausgesprochen, stattdessen verschwindet das g klanglich unter dem Dach wie hinter einer Schallschutzwand, jedenfalls sofern die Nachrichtensprecher das korrekt aussprechen. Der auswärtige Schrauber wäre also auf Monta’e statt –asche. Das dürfte schwer durchsetzbar sein und eine ernstzunehmende Gefahr für das Abendland darstellen. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob das g durch das kleine Spitzdach wirklich verstummt. So lauschte ich kürzlich einem Interview mit einem deutschsprechenden türkischen Staatsbürger, und der sprach das g bei Erwähnung seines Herrschers konsequent aus. Und falls das Dach das darunter liegende tatsächlich verstummen ließe, wäre dann die Überdachung des kompletten Präsidenten nicht eine gute Idee?

Ich schweife ab. Zur Wahrung der Eindeutigkeit könnte ich mich allenfalls damit anfreunden, nach einem langen Vokal ein einfaches s zu schreiben. Strase und Schweisfus bedürfen zunächst ein wenig der Gewöhnung, aber schon bald wird niemand mehr daran Anstos nehmen.

Apropos abschaffen: Ich bekenne, kein glühender Verehrer des türkischen Präsidenten zu sein. Doch eines halte ich ihm zugute: die Abschaffung der unsäglichen jährlichen Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit und wieder zurück. Dafür gebührt ihm auf seiner nach unten offenen Sypathieskala ein dicker Pluspunkt. Mit einfachem s.

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Nachtrag 4.11.2016:
Wie ich erst heute bemerkte, ist in obigem Aufsatz das g des türkischen Präsidenten falsch herum überdacht; korrekt ist es so: ğ. Nun gut, dann ist es eben ein Bahnsteigdach.

Wir müssen reden

Wir müssen reden. So wie Hähne krähen, Störche und Klodeckel klappern, so muss der Mensch reden wo er geht und steht; der Rheinländer mehr, der Westfale etwas weniger. Auch neigen die Damen nach meiner Beobachtung tendenziell etwas mehr zum Wort als die Herren, wobei mir rheinische Frauen grundsätzlich ebenso lieb sind wie westfälische Herren. Doch ist das fremde Wort oft eher eine Last denn ein Quell der Freude, insbesondere das mobil in den öffentlichen Raum gesprochene, erst recht an Orten wie Bus und Aufzug, wo ihm nicht zu entkommen ist. Dieses Lied ist bereits ausgiebig und oft gesungen worden, so dass es sich erübrigt, eine weitere Strophe hinzuzufügen.

Na gut, zwei Erlebnisse mute ich Ihnen noch zu. Das erste begab sich bereits vor Jahren im Warteraum erster Klasse („DB Lounge“) des Kölner Hauptbahnhofs – damals spendierte mir mein Arbeitgeber noch eine erstklassige Bahncard, welche mich auch ohne Fahrschein zum Aufenthalt in selbigem berechtigte. In einem Sessel telefonierte ein Businesskasper lautstark und belästigte die Anwesenden mit albernem Geschäftsgedöns. Dann jedoch sprang er auf, sagte „Warte, ich geh mal raus, die hören hier alle zu, das geht mir extrem auf den Geist“. Sichtlich empört verließ er unter Applaus den Saal.

Das zweite Erlebnis war nur sehr kurz: Abends beim Laufen kam mir ein anderer Läufer entgegen, mit Telefon am Ohr. Im Moment unserer Begegnung hörte ich ihn sagen „… und die Leute labern so viel, boah…“

Doch ist in diesem Zusammenhang in letzter Zeit ein bedenklicher Trend zu erkennen: Hielt der Sprecher vormals sein Gerät ans Ohr und sprach mehr oder weniger laut hinein, so aktiviert er heute den Lautsprecher und hält das Gerät beim Sprechen waagerecht wie ein Schmalzbrot ein bis zwei Hand breit vom Munde entfernt. Somit kommen wir Unbeteiligte nunmehr in den Genuss, das komplette Gespräch zu verfolgen und nicht nur eine Hälfte. Der Begriff Fernsprecher erfährt hierdurch eine neue Definition.

Doch wesentlich unangenehmer als die unbeteiligt-unfreiwillige Zeugenschaft eines Ferngesprächs ist die auf offener Straße entgegen gebrachte Gesprächseinladung, beispielsweise von engagierten jungen Vertretern diverser Tierschutzorganisationen. So ging ich vor Wochen gedankenversunken durch die Bonner Fußgängerzone, als sich mir ein weibliches Exemplar dieser Spezies in den Weg stellte.

„Hallo, ich bin die Kathi“ sagte es hielt und mir die Hand entgegen. Das waren gleich drei Unverzeihlichkeiten: erstens mich auf der Straße anzuquatschen, zweitens mir einen Händedruck aufzunötigen und drittens dem Vornamen einen bestimmten Artikel voranzustellen.

„Ja und?“ antwortete ich so höflich wie der Situation angemessen, die gereichte Hand ignorierend.

„Magst du Tiere?“, fragte Kathi. Ich gebe zu, je älter ich werde, desto mehr schmeichelt es mir, von jungen, mir unbekannten Menschen noch geduzt zu werden, was indes in diesem Fall den Grad des Belästigungsempfindens nur geringfügig schmälerte.

Meine Antwort, das sei letztlich eine Frage der Zubereitung, beendete das Gespräch dann erfreulich schnell.

Letzte Woche sprach mich ein junger Mann auf dem Bahnsteig des Bonner Hauptbahnhofes an:

„Entschuldigen Sie, darf ich Sie ansprechen, oder möchten Sie lieber in Ruhe gelassen werden?“

Allein schon dafür hätte er sich eigentlich den Euro verdient, um welchen mich anzuhalten ihm aufgrund der Oder-Option seiner Frage versagt blieb. An ihm sollten sich Anrufer aller Art und die Zeugen Jehovas ein Beispiel nehmen.

Aufgrund meines oben erwähnten fortgeschrittenen Alters lässt mein Gehör mittlerweile ein wenig nach, gerade bei lauten Hintergrundgeräuschen gelingt es mir manchmal nicht mehr, einem Gespräch zu folgen. „Du musste endlich mal zum Ohrenarzt gehen!“, liegt mir der Liebste schon lange in den Ohren. Doch frage ich mich: Will ich das überhaupt, jedem Gespräch in meiner Umgebung lauschen? Ist es nicht vielmehr ein Attribut höherer Lebensqualität, manches Gesabbel gerade nicht zu verstehen?

Insgesamt hat die Natur den Menschen rein konstruktiv ganz gut hinbekommen, abgesehen davon, was in seinem Kopf vorgeht und zu welchen Handlungen und Gewohnheiten ihn das treibt (Krieg, Religion, Fußball, Pokémon…). Doch verstehe ich eines nicht: Wir können jederzeit unsere Augen schließen, um beispielsweise dem Anblick tätowierter Waden gereifter Frauen zu entgehen. Warum geht das nicht mit den Ohren? Stellen Sie sich vor: Eine unerwünschte Geräuschquelle droht, zum Beispiel eine im hirnreduziert-aufgeregten Tonfall eines Sportreporters oder einer nordkoreanischen Nachrichtensprecherin vorgetragene Radiowerbung für ein Möbelhaus. Sie spannen einen Muskel an, und schon ist es mucksmäuschenstill. Wäre das nicht schön?