Woche 22/2022: Krabbeln und krabbeln lassen

Montag: Der Tag begann trübe und kühl, auf dem Fahrrad geradezu handschuhkühl; aber Handschuhe Ende Mai? Das wäre wie Dominosteine im Juli. Auch meine Stimmung war nicht gerade hell, ohne erkennbaren Grund: Weder war der Arbeitstag von nennenswerten Imponderabilien geprägt noch übermäßig lang, auch Zahl und Länge der Besprechungen lagen im Rahmen des Erträglichen.

„Ihr Computer muss heruntergefahren und neu gestartet werden“, lautete eine Meldung am Vormittag. Während er also fuhr, schaute ich aus dem Fenster und wünschte mir eine vergleichbare Funktion für das Hirn: einmal runter- und wieder rauffahren, schon ist die Arbeitslust wiederhergestellt. Aber ach.

Mittags im Park sah ich so etwas wie Kunst. Sie können gerne wie ich rätseln, was es darstellt. Vielleicht stellt es auch gar nichts da, es muss ja nicht immer alles eine Bedeutung haben, nicht wahr.

Dienstag: Vergangene Nacht träumte ich, mich mit dem Auto in einem engen unterirdischen Abwasserkanal festgefahren zu haben, wie auch immer ich dort hinein geraten sein mag; in Träumen geht es ja nicht immer logisch-nachvollziehbar zu. Es war so eng, dass sich die Türen nicht öffnen ließen, ich hatte keinen harten Gegenstand zur Hand, um Front- oder Heckscheibe einzuschlagen, Mobilempfang gab es nicht. Zum Essen hatte ich ein paar Kopfsalatblätter dabei, zum Trinken nichts. Während ich mich fragte, ob man mich hier finden würde, wachte ich auf. Selten habe ich mich so über das Schnarchen von der Nebenmatratze gefreut.

Taxifahrten im Kreis Olpe werden um zwanzig Prozent teurer, meldeten die Radionachrichten am Morgen. Auch das noch.

Unruhe in den Gängen, nachdem ein Gebot von der Werksleitung ausging, auf dass ein jeder sich nach Monaten der Heimarbeit ab sofort mindestens zweimal die Woche im Büro einfinden möge. Es kommen gar welche zu mir und wollen was. Daran muss ich mich nach zwei Jahren Ruhe in leeren Fluren erst wieder gewöhnen.

In der Zeitung las ich das Wort „Kuhmilchskepsis“ und freute mich ein weiteres Mal über die Wortbildungsmöglichkeiten unserer wunderbaren Sprache.

Mittwoch: Aus gegebenem Anlass habe ich mich heute Morgen als erstes aus einer WhatsApp-Gruppe abgemeldet, das fühlte sich sehr gut an. Die nächste Abmeldung folgt Anfang Juli, darauf freue ich mich auch schon.

Aus einer Art Laune heraus habe ich mir kürzlich ein Mastodon-Konto angelegt, merke indes bereits nach gut einer Woche: Das ist genauso unergiebig wie Twitter. Überhaupt Mastodon, wer hat sich diesen Namen ausgedacht? Das klingt wie ein hormonbasierter Kraftfutterzusatz für die Schweinezucht.

Donnerstag: Beim Ankleiden sah ich eine winzige Spinne auf der behemdeten Schulter krabbeln. Als grundsätzlich auch Achtbeinern gegenüber verträglicher Mensch kümmerte ich mich nicht weiter darum, krabbeln und krabbeln lassen. Wenig später beim ersten Morgenkaffee krabbelte sie an der Oberseite meines Tablets immer hin und her, als wollte sie auf sich aufmerksam machen. Regelmäßig glaube ich bei solchen Gelegenheiten, wahrscheinlich schrieb ich das bereits, das sind gestorbene Verwandte oder Bekannte, die in Tiergestalt einen Tag Erdenurlaub haben und mich besuchen. Leider geben sie sich nie zu erkennen, und wer möchte schon seinen eigenen Vater wegpusten oder gar zerdrücken. Kurz darauf fuhr sie gen Himmel, also nicht ganz, vielmehr kletterte sie an einem unsichtbaren Faden hinauf zur Küchenlampe über dem Tisch, woher auch immer der plötzlich kam; können kleine Spinnen gleichsam aus der Hüfte heraus meterlange Fäden in die Höhe schießen?

Die Zeitung berichtet, die Türkei möchte im Ausland nicht mehr Türkei genannt werden, schon gar nicht Turkey, weil das auf Englisch auch „Truthahn“ bedeutet, laut einem amerikanischen Wörterbuch gar „eine Person, der es an gesundem Verstand oder Urteilsvermögen mangelt“, „eine dumme Person“ oder „etwas, das fehlgeschlagen ist“, was hier mit Bezug auf den Obertürken und seine Politik unkommentiert bleibe. Stattdessen wünscht nämlicher, alle Welt sage und schreibe ab sofort ausschließlich „Türkiye“, auch dorten, wo ü ungebräuchlich ist. Warum nicht, Weißrussland hieß ja auch von heute auf morgen Belarus, Raider wurde zu Twix, Facebook zu Meta und Texaco zu – Moment, ich muss gerade nachschauen: DEA, hätten Sie es noch gewusst? – und keinen kratzt es. Nur soll Erdogan sich nachher nicht beschweren, sein Land werde ständig falsch geschrieben, vielleicht „Türkye“, „Türkyie“ oder so; als „Kubicki“ heißender weiß man, was da alles vorkommen kann, glauben Sie mir.

Der Sohn einer Bekannten wollte übrigens nicht länger Kevin heißen, kann man ja verstehen, deshalb nannte er sich fortan Vincent. Kurz darauf besang Sarah Connor die Unterleibsschwäche eines gleichnamigen Jungen, wenn er an Weibchen dachte. Das war wohl auch fehlgeschlagen.

Nachmittags flog ein Luftschiff übers Werk, nach wie vor freue ich mich jedesmal wie ein Kind darüber:

Auf dem Heimweg, donnerstagsüblich zu Fuß, gönnte ich mir einem spontanen Entschluss folgend den ersten Maibock des Jahres, ausnahmsweise erst im Juni.

Aus nicht näher darzulegenden Gründen stieß ich auf eine Seite mit sechsunddreißig Fragen für das erste Rendezvous, die man sich gegenseitig stelle, wenn es in amouröser oder wenigstens kopulativer Hinsicht zum Erfolg führen soll. Drei davon habe ich mir gemerkt: 1) Wenn du neunzig Jahre alt würdest und könntest dich entscheiden zwischen a) einem dauerhaft dreißig Jahre alten Körper mit alterndem Geist oder b) einem dreißig Jahre alten Geist mit alterndem Körper, wie würdest du dich entscheiden? (Das ist einfach: a. Lieber knackig jung und faltenfrei mit viel Lebenserfahrung als runzelig voller Sturm und Drang.) – 2) Wenn du wüsstest, dass du nur noch ein Jahr zu leben hast, was würdest du tun? (Mich den im Keller lagernden Châteauneuf-du-Pape-Weinen intensiver widmen.) – 3) Wenn dir eine Wahrsagerin zuverlässig etwas voraussagen sollte – was wäre das? (Das Datum, wenn für mich das Licht ausgeht; das würde die weiteren Planungen erheblich vereinfachen.)

Freitag: Mich befällt stets eine Mischung aus aggressiver Ungeduld und ungeduldiger Aggression, wenn in einer bereits begonnenen Besprechung Dinge für Zuspätkommende wiederholt werden.

Am Ende der Besprechung wünschte eine Teilnehmerin „den Herren fröhliches Pfingsteiersingen“. Ich habe mich nicht getraut, zu fragen.

»Keine Lust ist ein Killerargument«, schreibt Frau Anje, womit sie zweifellos recht hat.

Samstag: Der General-Anzeiger berichtet über Geschwindigkeitskontrollen der Polizei in Bonn und lässt in dem zweispaltigen Artikel Bürger Gerrit M. zu Worte kommen, der in den Messungen eine „rein willkürliche Einkommensquelle der Stadt“ sieht. Im Folgenden rechtfertigt sich die Polizei gar dafür, warum sie die Kontrollen durchführt. Ich verstehe das nicht. Wenn es nach mir ginge, müssten Verkehrsteilnehmer jederzeit und überall mit Geschwindigkeitskontrollen rechnen, mit weitaus höheren Bußgeldern bei Überschreitung als heute. Aber nach mir geht es ja nicht.

Aus einem anderen Artikel in derselben Zeitung: »26 Weltklima-Konferenzen haben nicht verhindert, dass der Ausstoß des wichtigsten Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) sinkt.«

Wenn es nach mir ginge, würden im Übrigen Frauen sich nicht die Haare in gängigen Bonbontönen färben, erst recht nicht in Verbindung mit Nasenmetallen und großflächigen Tätowierungen. Männer und alle anderen auch nicht.

Sonntag: „Was war nochmal Pfingsten: Haben sie da Jesus vom Kreuz abgenommen oder den Stein weggerollt? Oder das Meer geteilt?“ Alle Jahre wieder.

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Ich wünsche Ihnen schöne Restpfingsten, ob sie (es) glauben oder nicht, und eine angenehme Woche.