Woche 19/2024: Schmuck am Nachthemd und unnütze Kommata

Montag: Trotz trüber Regenkühle war ich in Anzuglaune. Das Problem: Erst beim Anziehen des Jacketts kurz vor Verlassen des Hauses bemerkte ich, dass es inzwischen merklich spannt, wenn ich die Knöpfe schließe. Daher blieben sie geöffnet und schweren Herzens beschloss ich, dass dies heute sein letzter Einsatz werden würde. Ich fürchte, vorstehendes gilt für die meisten Anzüge in meinem Schrank, die ich lange nicht trug. Ob ich in absehbarer Zeit einen neuen kaufen werde, ist fraglich, im Grunde genommen brauche ich keinen mehr, seit sich die Kleidungsgepflogenheiten im Werk deutlich gelockert haben, was einerseits nicht zu bedauern ist, andererseits doch, da ich ab und an sehr gerne einen Anzug trage.

Der Tag blieb trüb mit nahezu ununterbrochenem Regen; das Siebengebirge, auf das ich vom Büro aus schaue, lag in Wolken gehüllt. So ähnlich fühlte ich mich auch.

Aus einem Leserbrief über Auswüchse der Political Correctness: »Peinlich, dass den Moralaposteln und Gendersensiblen bislang entgangen ist, dass der allseits gebräuchliche Genderstern nicht wenige Menschen an unsere tiefbraune Vergangenheit erinnert.« Bei aller geteilten Skepsis zu diesem Thema: Das erscheint nun doch etwas weit hergeholt.

Dienstag: Statt Anzug- weiterhin Daunenjackenwetter. Morgens leichter Niesel, gerade so wenig, dass es sich nicht lohnte, den Faltregenschirm aus der Tasche zu holen. Der für nachmittags in Aussicht gestellte Sonnenschein zeigte sich nur kurz, ehe aus Nordosten erneut Gewölk mit Regen aufzog. Lichtblick am trüben Himmel war ein Luftschiff, das rheinaufwärts flog und mich kurz von der Werktätigkeit innehalten ließ.

Morgens. Die Rheinuferlinden wirken unvorteilhaft gerupft.
Ich wär‘ gerne mitgeflogen …
Es klärt sich auf zum Wolkenbruch

„Das ist Schmuck am Nachthemd“, hörte ich in einer Besprechung, was sinngemäß eine gewisse Überflüssigkeit zum Ausdruck bringen sollte; vielleicht kennen Sie diese Redewendung längst, mir war sie neu. Im Übrigen bin ich der Meinung, wenngleich ich, im Gegensatz zu meinem vergangenen Vater, derartiges nicht tragen würde, auch Nachtwäsche muss nicht zwingend grau-beige sein.

Mittwoch: Der zweiundzwanzigste Hochzeitstag heißt Bronzehochzeit. Dazu alles Liebe, mein Liebster, und danke, dass du es immer noch mit mir aushältst! – Offenbar hatten wir beide denselben Gedanken, abends kam es zum Austausch von Herzlichkeiten und Blumensträußen.

Vormittags geriet ich in einen intensiven Mailaustausch, weil ein Großkunde einen Wunsch geäußert hat. „Kann man nicht …“, „Man müsste doch …“, „Bis wann geht das …“ und so weiter. Als fachlich Verantwortlicher für das IT-System, das könnte und müsste, teilte ich der Runde mit, dass es dazu bereits lange eine Anforderung gibt auf der langen Liste unerfüllter Wünsche. Nun müsste sich nur noch einer finden, der es bezahlt, dann kann man auch. Ich fürchte nun, irgendwo wird das erforderliche Budget locker gemacht werden mit der Vorgabe der kurzfristigen Umsetzung und ohne Rücksicht auf die bestehende Planung. Dann wird es wieder unnötig hektisch.

Mittags im Park

Was ich in den letzten viereinhalb Jahren überhaupt nicht vermisste waren Aufzuggespräche, wie ich bemerkt, als ich nach der Mittagspause wieder hoch zum Büro fuhr.

Donnerstag: Schon wieder Feiertag, danke den Christen und Vätern, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schnittmenge; wenn Sie in den Siebzigern Grundschüler waren, kennen Sie bestimmt noch die Mengenlehre, eigentlich ganz einfach, viele Eltern überforderte sie jedoch, was erst zu einem Skandal, dann zu ihrer Abschaffung führte. Ich schweife ab.

Eine Menge unterhaltsamer Texte gab es nachmittags bei der Bonntastik-Lesung im Stadtteil Niederholtorf zu hören. Sieben Autorinnen lasen ihre Werke vor, inspiriert durch Bilder eines Bonner Künstlers. Das ganze ist auch in Buchform erhältlich. Da sich das Wetter maimäßig-sonnig zeigte, verband ich den Hinweg mit einem längeren Spaziergang, der mich einigermaßen ins Schwitzen brachte, da Niederholtorf, anders als der Ortsname vermuten lässt, einige Meter höher liegt. Erfreulicherweise fand die Lesung in einer Gaststätte statt, wo des Anstiegs Mühe mit kühlendem Kristallweizen belohnt wurde.

Freitag: Büros und Kantine waren erwartbar leer, weil viele brückentäglich frei hatten, andere lieber zu Hause arbeiteten.

Mittags im Park sah ich mehrere Gänsefamilien mit Nachwuchs in unterschiedlichen Wachstumsstufen Gras zupfen; Schildkröten, die erheblich gewachsen sind, seit ich sie das letzte Mal in ihrer üblichen Teichecke sah, reckten die Köpfe in die Sonne. Nutrias sind keine mehr zu sehen, seit die Stadt sie abknallen letal entnehmen ließ, nur hier und da deutet noch eine zerwühlte Uferkante auf ihr Wirken hin.

Nach der Mittagspause machte ich erstmals von der Möglichkeit Gebrauch, die Schreibtischplatte elektrisch hochzufahren und stehend zu arbeiten*, was aufkommender Müdigkeit entgegen wirkt. Das sollte zur Gewohnheit werden.

*d.h. den Pressespiegel zu lesen wie jeden Tag nach dem Essen

Wie Mittwoch geahnt, wurde heute entschieden, die IT-Anforderung so bald wie möglich umzusetzen, auch das Geld steht bereit. Das ging nun doch überraschend schnell.

Kurt Kister über Sprache:

»Sprache entwickelt sich nicht, sie wird entwickelt. Menschen entwickeln Sprache, verändern sie. Diese Veränderungen der Sprache spiegeln meistens Veränderungen im Denken, häufiger noch im Fühlen der Menschen wider. Es sind nicht einmal die Menschen, die sprachliche Gewohnheiten verändern, sondern Milieus, Schichten oder Interessengruppen, die der Auffassung sind, dieser oder jener Sprachgebrauch entspreche nicht mehr der modernen Sicht der Wirklichkeit, jedenfalls der Wirklichkeit, so wie sie die Angehörigen der sprachverändernden Gruppe(n) wahrnehmen. Die Veränderung von Sprache ist oft auch ein Versuch, „Wirklichkeit“ zu verändern. Und um die aus subjektiven Motiven vorgenommene Veränderung nicht zuletzt gegenüber Skeptikern zu objektivieren, heißt es dann: Sprache entwickelt sich nun einmal.«

Zum Gesamttext hier entlang

Samstag: Mittags brachte ich fast alle Anzüge und mehrere Sakkos zu Oxfam, die gestern Abend nach Anprobe kurzentschlossen ausgemustert wurden. Alles, was am Bäuchlein spannte, flog raus. Mein Lieblingsanzug, den ich vor Jahren im Schaufenster sah und in den ich mich, trotz des nicht gerade günstigen Preises, spontan verliebte, sitzt erfreulicherweise noch immer ganz passabel, nur sehr ungern hätte ich auch ihn weggegeben.

»Wegen einer Störung, kommt es zurzeit zu Verspätungen«, ließ die Laufschrift an einer Straßenbahnhaltestelle die Fahrgäste wissen. Dieses unnütze Komma, nach Satzeinleitungen mit oder unmittelbar vor einer Präposition setzt sich immer mehr durch.

Sonntag: Der Sonntagsspaziergang führte heute wieder, bei bestem Sommerkurzehosenwetter, ans andere Rheinufer. Diese Strecke mag ich besonders, nach knapp einer halben Stunde Fußweg befindet man sich auf dem Land, wo Vogelgezwitscher das vorherrschende Geräusch ist. Heute wurde die Akustikidylle ein wenig getrübt durch ein Partyschiff, dass basswummernd den Rhein auf und ab fuhr.

Bitte denken Sie sich dazu das Lied „Polka, Polka, Polka“.

Die Sonntagszeitung stellt jede Woche im Feuilleton vier Fragen an jemanden aus der Kulturszene, heute den (mir unbekannten) Sänger Dagobert. Eine der Fragen lautet: »Was nervt Sie?« Aus der Antwort: »Schlimmer […] sind eigentlich nur Steinmännchen, die manchmal von bösartigen Wanderern an Flussufer oder Strände gebaut werden und deren einzige Bestimmung es ist, mich zu ärgern. Ihr Anblick löst in mir zuverlässig Aggression und Zerstörungswut aus.« Ähnlich geht es mir bei aus Fingern geformten Herzen, gestern Abend wieder zahlreich zu sehen bei der Übertragung des European Song Contest. Immerhin, der deutsche Beitrag lag verdientermaßen nicht auf dem letzten Platz. Warum die Schweiz gewonnen hat, erschließt sich mir allerdings nicht. Interessanter die Frage, ob der Finne wirklich ohne Hose aufgetreten ist.

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Kommen Sie gut durch die Woche, lassen Sie sich nicht nerven.

Woche 12/2022: Gemütsmaultaschen

Montag: Morgens im Eingang eine Mail von Samstag, 19:03 Uhr. Menschen, die um die Zeit geschäftliche Mails schreiben, ist wohl nicht zu helfen.

Pünktlich zum Frühlingsanfang bot die Kantine heute „Herbstliche Gnocci-Gemüsepfanne“ an. Hat trotzdem geschmeckt.

Pünktlich auch die 14-Uhr-Unlust, die heute bereits um 13:57 Uhr eintrat und bis zum nicht allzu späten Feierabend verweilte.

Für nach Feierabend hatte ich den Auftrag, Butter zu kaufen. (Eigentlich bestand der Auftrag schon am Samstag, da hatte ich es vergessen; meine Weigerung, deswegen noch mal loszugehen, zog einen Mikrokonflikt nach sich, das nur am Rande.) Nicht irgendwelche Butter aus dem Rewe, die genügt den gehobenen Ansprüchen meiner Lieben nicht mehr; Heumilchbutter muss es sein, die es an einem Verkaufsstand auf dem Wochenmarkt gibt. Bei meiner Ankunft waren die Damen schon im Zusammenpacken begriffen, „wegen der Demonstration“, wie sie erklärten. Meine vermutlich naive Rückfrage, was für eine Demonstration, wurde dahingehend beantwortet, dass gewisse Leute montags immer noch ihre „Spaziergänge“ machen, was das große Polizeiaufgebot auf dem Marktplatz erklärte. – Jetzt, wo fast alles wieder erlaubt wird, frage ich mich: Wogegen protestieren die immer noch?

Dienstag: Aus einer Besprechung: „Der Status closed kann erst gesetzt werden, wenn es re-getestet wurde, bis dahin ist er fixed.“ Am besten gefällt mir „re-getestet“. Merken die das wirklich nicht?

Vormittags saßen wieder die beiden Gänse auf dem Dach und gaben ein Duett aus Naak-naak-naak-Rufen zum Besten, vielleicht ist es der Frühling, der sie treibt, vielleicht auch Weltschmerz, steckt man ja nicht drin in so einer Gans.

Das Loch darunter wird übrigens regelmäßig von einem Eichhörnchen aufgesucht, das dazu flink an der Gebäudeecke hochklettert, oft umflattert von einer Gruppe schimpfender Halsbandsittiche, die wohl Anspruch auf die Höhle erheben, weil sie Werk ihrer Schnäbel ist, dann läuft es, scheinbar der Schwerkraft spottend, quer hinüber und verschwindet für einige Zeit in dem Loch. Neulich stürzte es dabei ab, überstand den Sturz aus etwa zehn Metern aber augenscheinlich ohne größere Schäden.

Vor dem Mutterhaus verkauft ein Stand „Schwäbisches Soulfood“. Was soll das sein, Gemütsmaultaschen?

Mittwoch: Laut einer Mitteilung kam es gegen 00:43 Uhr zum Ausfall von accelerated network auf der aktiven PI Firewall, was zu einem Failover des Firewallclusters führte. Menschen sind nach bisherigen Erkenntnissen nicht zu Schaden gekommen.

„FEIN hast du das gemacht“, sagte man früher überwiegend zu Hunden und kleinen Kindern, etwa nach Abwurf eines passablen Häufchens. Heute ist das Wort aus der geschäftlichen Kommunikation in Wort und Schrift nicht mehr wegzudenken: „Eine Rückmeldung bis Dienstagmittag wäre fein.“ – „Ist das für dich fein?“ – Besonders üble Variante: „Damit bin ich fein.“

»Ungefähr zwei Jahre lang wurde bei mir Krebs diagnostiziert und jetzt lüge ich die krankes Bett, ich möchte, dass du mir hilfst, meinen letzten Wunsch auf Erden zu erfüllen, der wird für Sie sehr profitabel sein«, schreibt mir eine Dame per Mail. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lügt sie noch heute.

Donnerstag: Auf die Rheinpromenade sind an mehreren Stellen in großen Buchstaben Hinweise auf einen weltweiten Klimastreik am Freitag angebracht, wie ich morgens auf dem Weg ins Werk sah, sowie die offensichtliche Liebesbekundung eine Regina betreffend. Dieser Name findet sich in rot-oranger Schrift geschrieben innerhalb eines großen Herzens, umgeben von weiteren kleinen Herzchen. Während über den Streik wohl in den nächsten Tagen ausführlich in den Medien berichtet wird, bleibt die Geschichte der herzlich angebeteten und ihrem Verehrer (oder ihrer Verehrerin) für Außenstehende (beziehungsweise -gehende) im Dunkel. Interessieren würde es mich schon, zumal aufgrund des Namens nicht auszuschließen ist, dass die derart Geliebte schon etwas gereifter ist.

Auch sonst war es heute Morgen recht schön.

Freitag: Auch in Hannover wurde für Klima und eine bessere Welt demonstriert. Ursprünglich sollte dort die Musikerin Ronja Maltzahn auftreten, doch wurde sie zuvor von den Veranstaltern wieder ausgeladen. Wegen ihre Frisur. Sie trägt sogenannte Dreadlocks, diese verfilzten, etwas ekelig anmutenden Haarstränen, einst Markenzeichen von Momo Sperling in der Lindenstraße, Sie erinnern sich vielleicht. Nur Schwarze dürften nach Ansicht der Demonstranten Dreadlocks tragen als Symbol gegen ihre Unterdrückung, einer weißen Frau stünde es indessen nicht zu, weshalb sie sich der „kulturellen Aneignung“ schuldig mache. Für das Angebot, aufzutreten, wenn sie sich zuvor die Haare abschneiden ließe, baten die Ausladenden anschließend um Entschuldigung, sie hatten es wohl selbst gemerkt, für die Ausladung an sich offensichtlich nicht. Warum fügen diese Leute der Ernstnahme ihres zweifellos wichtigen Anliegens durch solche Befindlichkeiten unnötig Schaden zu?

Momo Sperling war übrigens weder schwarz noch unterdrückt. Damals hat sich niemand an der Frisur gestört, jedenfalls nicht deswegen.

Samstag: Nicht nur die Bewertung von Frisuren, auch Sprache entwickelt sich bekanntlich weiter, mit ihr Rechtschreibung und Kommasetzung. Für letztere scheint eine neue Regel zu gelten, deren Einführung mir entgangen ist: Durch eine Präposition eingeleitete Hauptsätze sind zunehmend mit Kommas gespickt, wo früher keine waren. Bespiel: „Während des Essens, kam ihr eine Idee.“ Für erklärende Hinweise, wäre ich dankbar.

Neue Regeln auch in Bonn: Die Stadt gibt sich derzeit große Mühe, Autofahrer mit Straßensperrungen, geänderter Verkehrsführung, Baustellen und spontanen Parkverboten aus der Innenstadt zu vergrämen, und das mit Erfolg. Liebe Frau Oberbürgermeisterin, bitte machen Sie weiter und lassen Sie sich durch Kritiker nicht abhalten. Gut, die Kommunikation kann man hier und da noch verbessern, aber von der Sache her finde ich das richtig gut. Anders lernen sie es nicht, über alternative Möglichkeiten der Fortbewegung wenigstens nachzudenken. (Ich weiß, damit riskiere ich Missfallen. Sei es drum.)

Sonntag: In der Inneren Nordstadt streifen schon wieder die ersten kamerabehängten Kirschblütentouristen durch die Straßen, obwohl die große Blüte noch gar nicht begonnen hat und im Laufe des Tages auch nicht mehr damit zu rechnen ist.

Trotz des sonnigen Wetters fühle ich mich heute etwas verstimmt, ohne besonderen Grund, mal abgesehen von den zurzeit zahlreichen Gründen mit hohem Stimmungseintrübungpotential. Auch die Lektüre der Sonntagszeitung lässt nur wenig Optimismus aufkommen, allerorten Krisen, Sie wissen, was ich meine. Vielleicht drückt auch nur die Zeitumstellung aufs Gemüt. Sollte die nicht abgeschafft werden? Mir liegt noch der Satz eines gewissen Herrn Juncker in den Ohren: „Die Menschen wollen das, wir machen das.“ Aber vielleicht lohnt sich das jetzt auch nicht mehr.

Ob es wirklich Menschen gibt, die sich in Minuten eine Rolle Pfefferminzbonbons liefern lassen? Ich fürchte ja.
Sicher ist sicher.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Frühlingswoche, lassen Sie sich die Stimmung nicht allzu sehr trüben.