Woche 45/2023: Warum ich keine Führungskraft geworden bin

Montag: Die Woche beginnt mit einem Loblied auf die Bahn, die mich pünktlich und ohne Zwischenfälle aus beruflichen Gründen nach Berlin brachte. Mittags ertönte nur einmal das berüchtigte Unheilverkündungspiepen, diese drei Töne, der mittlere eine Terz über den beiden anderen, auf die meistens eine Durchsage folgt über Stellwerksstörung, Triebfahrzeugschaden oder Streckensperrung. Heute folgte nichts dergleichen, vielleicht hatte der Triebfahrzeugführer nur Bedarf nach einem Kaffee.

Vor Abfahrt in Köln irrtierte mich zunächst die Anzeige, dass der Zug nach Binz fährt statt nach Berlin; die Möglichkeit, über Berlin nach Binz zu gelangen, hatte ich nicht bedacht.

Im gebuchten Ruhebereich des ICE herrschte keineswegs Ruhe, viele arbeiteten, immer wieder telefonierte einer mehr oder weniger vernehmbar, es nahm niemand Anstoß daran. Ich selbst arbeitete kaum, warf nur ab und an einen Blick auf den Maileingang im dienstlichen Datengerät, erkannte keinen akuten Handlungsbedarf und widmete mich weiterhin der Bloglektüre und der Aussicht aus dem Fenster. Dennoch verging die mehr als fünfstündige Reisezeit wie im Flug Zug.

Zwischendurch erwog ich, in Berlin einfach sitzen zu bleiben und weiterzufahren bis Rügen, und fragte mich, ob man mich in Berlin vermissen, mein Ausbleiben überhaupt bemerken würde, verwarf die Idee aber wieder.

Nach Ankunft bereiteten wir ein paar Sachen vor für die Veranstaltung, wegen der wir bis Mittwoch hier waren. Der nach dem gemeinsamen Abendessen vorgesehene Absacker fiel aus wegen Personalmangels in der Hotelbar, das war nicht schlimm, zumal ich am nächsten Morgen schon um kurz nach sechs aufstehen musste. Überhaupt werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass liebgewonnene Dienstleistungen nicht mehr im gewohnten Umfang zur Verfügung stehen.

Wenn ich früher aus ähnlichen Anlässen in Berlin war, freute ich mich schon tagelang vorher darauf, mich am späteren Abend von den Kollegen abzusetzen, um meine Lieblingsspelunke in Kreuzberg aufzusuchen, deren Hauptzweck nicht der Verzehr von Getränken und Speisen war und die es immer noch gibt, ich habe das interessehalber recherchiert. Heute bin ich froh, wenn ich abends im Hotelzimmer bin und meine Ruhe habe, und ich bin weit davon entfernt, das zu beklagen.

Dienstag: Fast den kompletten Tag verbrachte ich auf der Tagung, morgens gegen halb acht zum Tagungsort, abends gegen halb elf zurück. Es war recht angenehm und interessant, reichte dann aber auch. Während ich dieses niederschreibe, kocht dort noch die Stimmung, und es fühlte sich etwas undankbar an, so zeitig aufzubrechen. Aber kommen Sie erst mal in mein Alter.

Die Tagungsstätte, morgens

Satz des Tages: „Wer Menschen führen will, muss Menschen mögen.“ Womit hinreichend erklärt ist, warum ich keine Führungskraft geworden bin.

Mittwoch: Die Tagung war für meine Kollegen und mich mittags beendet, nach dem Zusammenpacken traten wir die Heimreise an. Das am Montag angestimmte Loblied auf die Bahn verdient eine weitere Strophe, mit nur wenigen Mollakkorden gegen Ende, weil der ICE etwa eine Viertelstunde zu spät in Köln ankam. Das war nicht schlimm, ich bekam meinen Anschluss nach Bonn und war, weil ich noch einen verspäteten Regionalexpress erreichte, etwas früher zu Hause als im günstigsten Fall erwartet.

Donnerstag: Als ich heute das Wort „outgesmartet“ las, wohl ein Synonym für veräppelt, übervorteilt, hinter die Fichte geführt, zuckte der Sprachnerv kurz aber schmerzhaft.

»350 Tonnen schweres U-Boot umgekippt« ist eine kurze Zeitungsmeldung übertitelt. Wer über ein schweres Unglück, womöglich mit Toten, Verletzten und hohem Sachschaden zu lesen erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr geht es um die beabsichtigte Seitenlegung des U-Boots durch Mitarbeiter des Technikmuseums Speyer, um es demnächst besser nach Sinsheim transportieren zu können. Zu lesen übrigens nicht in der Bild, sondern im Bonner General-Anzeiger.

Freitag: Die vergangene Nacht war von mehreren längeren, anlasslosen Wachphasen unterbrochen, dieses Mal ohne Schreibinspirationen, von diesem Vermerk abgesehen.

Skandal: Das Vogelhäuschen vor meinem Bürofenster ist verschwunden. Da es nicht im Hof darunter lag, vielleicht weil eine Windböe oder eine hyperaktive Elster es vom Fenstersims stieß, muss ich davon ausgehen, jemand hat es mutwillig entwendet. Auch wenn die Elster bekanntlich als diebisch gilt, habe ich sie nicht im Verdacht. Vielmehr kam sie mehrfach angeflogen, pickte ratlos zwischen den Kieselsteinen, wo zuvor das Häuschen stand, und schaute mich immer wieder erwartungs- bis vorwurfsvoll an. Mein Verdacht richtet sich eher gegen die Kollegen, die morgens vor meiner Ankunft eine Brandschutzbegehung des Gebäudes einschließlich aller Büros vorgenommen hatten. Gewiss, das Häuschen war aus Holz, doch schätze ich die Gefahr, dass es durch eine von einem hungrigen Vogel achtlos zurückgelassene Zigarettenkippe in Brand gerät, der auf das Gebäude übergreift, als sehr gering ein. Mal abwarten, ob sich in den nächsten Tagen jemand meldet und mich belehrt.

In einem Artikel las ich den Begriff Naked Delivery und bekam sofort pornöse Phantasien über alternative Zustellmethoden.

Ein Gruppenbild der Veranstaltung in Berlin hat es in die Wochenmail des Chefchefchefs geschafft; wenn man es weiß und ganz genau hinschaut kann man mich erkennen. Auf Gruppenbildern, wo die Abgebildeten den Daumen hoch zu halten genötigt wurden, erkennen sie mich übrigens stets daran, dass mein Daumen unsichtbar bleibt.

Gelesen:

Diese Unwilligkeit setzte sich mit der fort, dass ich ins Büro gehen musste, dort war ich unwillig darüber, dass ich arbeiten musste, obwohl die Aufgaben des Tages absehbar und durchaus nicht belastend waren, doch dann fiel mir ein, dass all dieser Unwille ja auf den Grund-Unwillen zurückgeht, überhaupt leben zu müssen, zu atmen, zu denken, zu sein. So rang ich mich zum täglichen “Da muss ich halt durch” durch.

Frau Kaltmamsell

Aus der Wochenkolumne von Kurt Kister:

Radio hören, und im Radio eben nicht nur Musik, ist wie Lesen mit den Ohren, wohingegen Bewegtbildschauen so was ist wie Bratwurstessen mit den Augen.

Aus: Deutscher Alltag

Samstag: Heute ist der elfte Elfte. In der Innenstadt strömten morgens zahlreiche Cowboys und -girls, Matrosen, Feen, bierflaschenbewehrte junge Männer in farbigen Overalls und anders beziehungsweise undefinierbar Kostümierte zum Marktplatz, wo um elf Uhr elf die Session eröffnet wurde. Der anstrengende Straßenmusiker mit der Rhythmusfußklapper hatte sich darauf eingestellt, flötete „Viva Colonia“, „Kölle alaaf“ und ähnliche einschlägige Melodien. Mehrfach „Alaaf“-Rufe, einer rief, im Scherze oder aus unverzeihlicher Unkenntnis, „Helau“ und wurde sofort zur Ordnung gerufen. Wir selbst blieben dem jecken Treiben fern, aus Erkältungs- beziehungsweise Erkältungsvermeidungsgründen, und wegen der grundsätzlichen Abneigung gegen menschliche Massenaufläufe.

Ganz karnevalsfrei verlief der Tag dennoch auch für mich nicht: Abends hatte unsere Gesellschaft einen Auftritt auf einer Sitzung in Alfter, für mich sogleich der erste öffentliche Einsatz als Trommler mit Einmarsch und ohne Notenblätter. Das Marschieren mit Trommel ist noch etwas ungewohnt. Vielleicht übe ich das in den nächsten Tagen, ein paarmal die Straße rauf und runter. Vielleicht auch nicht.

Foto: Wolfgang Sitte

Sonntag: Der übliche Spaziergang fiel aus zugunsten einer Fahrradfahrt nach Bornheim-Roisdorf, wo ich zum ersten Mal nach Beginn der Corona-Pandemie wieder eine Modelleisenbahnbörse besuchte. Auch wenn ich nichts Kaufenswertes vorfand, hat es mich gefreut.

Idyll im Nutellaglas

Sonst gesehen:

Lasset alle Hoffnung fahren.

Gelesen (keine Satire):

Das DB Stillstandsmanagement, das abgestellte Lokomotiven und Wagen des DB-Konzerns verwaltet, soll umbenannt werden und künftig „Train parking und services“ (mit „und“ auf Deutsch) heißen. Wie der EK aus DB-internen Kreisen erfuhr, sei der Begriff „Stillstand“ im Zusammenhang mit „Management“ zu negativ behaftet, wie eine Unternehmensberatung herausgefunden habe …

Eisenbahn-Kurier 12/2023

Zum Schluss gestatten Sie mir bitte etwas Werbung:

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Kommen Sie gut durch die Woche.