Woche 5/2024: Führungskultur und eine Schönheitsschramme

Montag: Bereits seit gestern verunziert eine Verwundung meine Stirn, die am Vorabend durch einen Kratzunfall in gänzlich unamourösem Zusammenhang gerissen wurde. Im Gegensatz zum berühmten Zauberlehrling Harry P. aus H. erlaubt sie keine Schlüsse auf etwaige magische Fähigkeiten meinerseits, vielmehr auf die gewisse Dusseligkeit einer mir nahestehenden Person. Zu recht könnte ich mich nun entstellt fühlen, bemühe mich jedoch, es als vorübergehende Schönheitsschramme zu betrachten.

„Was hast du denn da gemacht?“ – „Das trägt man jetzt so.“

Stets nur vorübergehend auch das Dasein auf Erden: Der kurzfristig durch seinen obersten Dienstherrn abberufene Bonner Stadtdechan wird in der Zeitung in bestem Katholikengeschwurbel als „Hirte und Menschenfischer“ bezeichnet. Da lohnt eine nähere Betrachtung: Ein Hirte beraubt friedliche Schafe oder Ziegen ihrer Bewegungsfreiheit, indem er sie mit Hunden bedroht. Was ein Fischer mit dem ihm ins Netz gegangene Fang anschließend macht, ist auch nur bei sehr großer Phantasie (es misshagt mir weiterhin, das Wort mit F zu schreiben, obwohl ich ansonsten ein Freund der „neuen“ Rechtschreibung bin) als Nächstenliebe zu betrachten. Für einen Kirchenmann passt es wohl.

Dienstag: Der Fußweg ins Werk war begleitet von Morgenröte über dem Siebengebirge und Himmelszeltverschmutzung durch ausgefranste Flugzeughinterlassenschaften.

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Eines der Wörter, die nicht aussterben, obwohl ihre Zeit längst abgelaufen ist: Auch etwa fünfundzwanzig Jahre nach Ausmusterung der letzten Tageslichtprojektoren, die Älteren kennen die Dinger noch, werden Seiten einer Powerpoint-Präsentation als „Folien“ bezeichnet.

Am Futterteller vor dem Bürofenster sah ich erstmals eine Amsel, die sich wesentlich weniger scheu zeigte als die dort sonst sich labenden Elstern und Rabenkrähen. Auch das Rotkehlchen kam ab und zu und griff einige Körner ab. Nur die Halsbandsittiche, sonst alles andere als zurückhaltend, verschmähen das Angebot.

Mittwoch: Die Stadt Bonn hat begonnen, die Adenauerallee, eine vierspurige Ausfallstraße Richtung Bad Godesberg, probeweise mit gelben Linien und Baken umzugestalten; den Autos stehen nur noch zwei Fahrspuren zur Verfügung zugunsten breiter Fahrradspuren. Das war und ist sehr umstritten, nicht nur allgemein, auch innerhalb unseres Haushalts. Mit dem zugegeben einseitigen Blick des radfahrenden Autoskeptikers und unter Inkaufnahme innerfamiliärer Meinungsverschiedenheit begrüße ich die Maßnahme sehr und würde mich freuen, wenn es dauerhaft so bleibt.

Im Maileingang morgens die Einladung einer mir unbekannten Kollegin mit dem Betreff »Glamour! Stars! Euer Ticket nach Hollywood!« – Im Einladungstext ging es ähnlich weiter: »… ein neues Abenteuer … Shooting-Star … spannendes neues Vorhaben … damit wir es gemeinsam rocken können … Es werden geniale Sachen entstehen 😊 … Ich kann es kaum erwarten, euch alle beim Meeting zu sehen!« Dabei geht es nicht um ein Event in loser Bekleidung, sondern um irgendein neues IT-System, das da vorgestellt werden soll. Bei solchen Gelegenheiten fühle ich mich zunehmend alt und frage mich, ob das noch meine Arbeitswelt ist. Dennoch sagte ich zu. Wenn die Dame so überdreht ist wie ihre Einladung, wittere ich Blogfutter.

Mittags Hochbetrieb in der Kantine. Schon vor zwölf waren die meisten Tische belegt, zahlreiche Hungrige streiften mit ihren Tabletts durch die Reihen auf der Suche nach einem freien Platz. Dessen unbeeindruckt bleiben viele nach dem Essen sitzen und plaudern mit ihren Tischgenossen, manche fast so lange wie das Mahl zuvor gedauert hat. Im Gegensatz zu den Sitzenbleibern räume ich nach dem Dessert meistens sofort den Platz, nicht oder nicht nur, weil ich ein freundlicher Mensch bin, sondern weil es mir mit zunehmender Belegung viel zu unruhig wird.

Die hängenden Zweige der Trauerweiden im Rheinauenpark beginnen, grün zu schimmern. Jedes Jahr wieder ein tröstlicher Anblick. Im Übrigen endet heute der Januar. Das ist nicht schlimm, ich halte diesen Monat für entbehrlich. Ähnliches gilt, wenngleich darin geboren, für den Februar.

Donnerstag: Der Vormittag war ausgefüllt von einer am Bildschirm zu verfolgenden Informationsveranstaltung des Vorstands, nicht als „Townhall“ tituliert, vielleicht haben sie selbst gemerkt, wie albern das ist. Auf der Bühne die für uns zuständige Vorstandsdame (etwas in mir sträubt sich gegen die Verwendung des Begriffs „Vorständin“, auch wenn das mittlerweile allgemein gebräuchlich ist), und die nächste Führungsebene darunter, zufällig nur Herren. Es war interessant, kurzweilig, angenehm.

Warum ich das berichte: Ich finde, die Führungskultur bei uns hat sich in den letzten Jahren sehr zum Guten geändert. Nicht nur äußerlich ist das erkennbar, niemand trug heute Anzug und Krawatte, stattdessen einheitlich Polo mit Unternehmenslogos. Man duzt sich untereinander, geht freundlich und respektvoll miteinander um. Ich habe das anders in Erinnerung*. Bis vor wenigen Jahren führte uns ein Vorstandshengst mit Starallüren, der über den Wassern schwebte, darunter C[irgendein Buchstabe]O‘s, für die Angst ein gängiges Führungsinstrument war. Niemals wäre einem von ihnen, wie heute geschehen, ein Anflug von Selbstkritik über die Lippen gekommen, diese Herren waren gleichsam Götter, sie machten keine Fehler. Inzwischen haben fast alle Göttlichen, darunter zum Glück auch der Hengst, den Konzern mehr oder minder freiwillig verlassen, nur einer von ihnen ist noch da, in einem anderen Unternehmensbereich, wo er dem Vernehmen nach weiterhin sein Unwesen treibt. Auch seine Zeit wird ablaufen, weil diese Art der Führung zu nichts Gutem führt. Nein, früher war nicht alles besser. So wie es jetzt ist, darf es bis zu meinem Ruhestand gerne bleiben.

*Vgl. hier

Heimweg zur blauen Stunde

Freitag: Die Schönheitsschramme auf der Stirn ist weitgehend weggebröckelt, nur bei genauem Hinsehen ist noch eine kleine Macke zwischen den Sorgenfalten auszumachen. Alles wird gut.

Nicht gut: Der neue Fahrradstreifen an der Adenauerallee wird gegenüber dem Beethoven-Gymnasium gerne von autofahrenden Eltern missbraucht, um die schulpflichtige Brut abzusetzen, nun müssen sie dazu nicht mehr recht umständlich in die Ladebucht für Elektoautos einparken. Darüber wird zu reden sein.

Gut zu wissen: Hadelog hat heute Namenstag. Der hatte es wohl auch nicht leicht auf dem Schulhof.

In letzter Zeit stoße ich gehäuft auf die Verwendung von „so“ anstatt „sehr“, zum Beispiel wenn es heißt „Dieser Steckrübeneintopf ist so gut“. Das ist ohne Zweifel völlig unerheblich, und doch lässt es meinen Sprachnerv ein wenig zucken.

Ähnliches gilt für „Happy Flow“, wenn etwas so funktioniert wie es soll.

Samstag: In Münster kann man jetzt nackt ins Museum gehen, um die Akt-Ausstellung „Nudes“ zu betrachten, ist dem Kulturteil der Zeitung zu entnehmen. Ob das den Kunstgenuss steigert, vermag ich nicht zu beurteilen, indes warum nicht, wer es mag.

Bekleidet in Uniform war nachmittags ein Auftritt auf einer karnevalistischen Großveranstaltung im Bonner Südwesten zu absolvieren. Gesamtdauer mit An- und Abfahrt sowie Wartezeit etwa zweieinhalb Stunden, Dauer unseres Auftritts etwa drei Minuten. Das nimmt man im Kampf gegen Griesgram und Muckertum selbstverständlich gerne auf sich.

Sonntag: Letztlich ist es nur die Erhöhung einer unbedeutenden, wenngleich mittlerweile erschreckend großen Zahl, die zu würdigen die Menschheit für notwendig befindet. Jedenfalls danke ich allen, die sich heute extra die Mühe gemacht haben, mich deswegen in Wort oder Schrift zu kontaktieren, mache es gleichzeitig niemandem zum Vorwurf, nicht daran gedacht oder es nicht für erforderlich gehalten zu haben.

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Kommen Sie gut und unverletzt durch die Woche, wenn Sie mögen auch nackt, mit oder ohne Karneval.

Woche 31: Gehört, gelesen, notiert und runtergescribbelt

Montag: „Dazu hätte ich gerne noch etwas Input, aber das können wir hinterher offline machen.“ Was schlaue Menschen in Meetings so sagen.

Apropos offline: Zu den deprimierendsten Anblicken zähle ich jenen junger Eltern, die Kinderwagen schiebend gelangweilt auf ihr Datengerät schauen.

„Polizei blitzt im Kreis“, steht in der Zeitung. Ein physikalisches Wunder offenbar.

Dienstag: Was ich gestern über junge Eltern anmerkte, gilt sinngemäß auch für viele Kantinenbesucher, denen es offenbar nicht möglich ist, in Ruhe eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, ohne dass mindestens zwei Mobiltelefone neben dem Teller liegen, auf die sie während der Nahrungsaufnahme im Minutentakt draufzuschauen gezwungen sind.

Mittwoch: „Pop up“ ist das neue „Mal eben“. Auch so ein dummer Coronanglizismus, den viele für alles Mögliche nachplappern. Demnach ist ein Wochenmarkt wohl eine Pop up Shopping Mall.

Donnerstag: Heute ist Weltpostkartentag. Warum auch nicht, irgendwas ist ja immer.

„Ich bin auf Dienstreise“ lässt jemand nicht per Postkarte, sondern Mail-Abwesenheitsmeldung wissen. Das habe ich lange nicht mehr gelesen.

„Das beißt sich ein bisschen von vorne bis hinten in den Schwanz, wie man auf neudeutsch sagt“, sagt einer in der Besprechung. Altdeutsch dann wohl in den Schweif.

Freitag: Mittags beobachtete ich in der Kantine interessante Szenen. Dort herrscht seuchenbedingt eine klare Einbahnstraßenregelung: Vorne rein und hinten raus, von Sicherheitsleuten streng überwacht und durchgesetzt; wer einmal den Saal verlassen hat, darf nicht wieder rein, jedenfalls nicht durch den Ausgang. Nun befinden sich aber die beliebtesten Plätze auf der Terrasse, also draußen, wie bei Terrassen üblich. Dort ist das Platzangebot, wie drinnen auch, aus bekannten Gründen zurzeit stark eingeschränkt. Das hielt die Gernedraußenesser nicht davon ab, mit ihrem Tablett direkt raus zu marschieren, wo trotz Hitze bald alles belegt war, wodurch Nachkommende keinen Platz mehr fanden. Was tun? Klar: Wieder rein. Doch halt, dieser Weg war aus oben genannten Gründen versperrt, die Sicherheitsleute verweigerten gnadenlos den Rückweg in den Saal. Somit blieb den armen Hungrigen nichts anderes übrig, als mit dem Tablett in der Hand, auf dem das Mittagsmahl langsam erkaltete, zu warten, bis jemand fertig war und Platz machte. Irgendwann merkten die Sicherheitsleute das und wiesen weitere Leute auf dem Weg nach draußen auf die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens hin, woraufhin sie vor Verlassen des Gebäudes umkehrten und drinnen aßen. – Ich frage mich: Warum essen wir, und da schließe ich mich selbst mit ein, so gerne draußen, trotz unbeschatteter Sonnenglut, Wespenflug und „nur Kännchen“, im Winter auch durch Heizpilze oder -strahler gewärmt? Immerhin unterbinden mittlerweile immer mehr Städte aus gutem Grund letzteres.

Ansonsten in dieser Arbeitswoche gehört, gelesen und notiert: „Das ist ein klassischer Sonderweg.“ – „Ich scribbel das mal runter.“ – „Digitalisierung wird bei [uns] groß geschrieben.“ – “ Wir dürfen nicht nur den Happy Flow betrachten.“

Samstag: In einem amüsanten Leserbrief an den General-Anzeiger schreibt Lothar S. zum Thema „Toskana in Deutschland“:

Werden doch schon seit vielen Jahren alle nur erdenklichen mehr oder weniger reizvolle Gegenden Deutschlands von einfallslosen Tourismus-Marketing-Leuten so tituliert. So finden sich in Deutschland nach meinen Recherchen Toskanen von der Uckermark im Osten über den Kraichgau, auch „badische Toskana“ genannt, bis hin zum Markgräflerland im Westen, der „deutschen Toskana zwischen Freiburg und Basel“. In Nord-Süd-Richtung finden sich Toskanen von Schleswig-Holstein irgendwo um Grömitz herum über Rheinhessen bis zum Hegau am Bodensee. Der Prozess der Toskanisierung deutscher Tourismus-Regionen scheint in Kürze abgeschlossen zu sein.

Über die Wörter „Toskanen“ und „Toskanisierung“ habe ich mich sehr gefreut.

Sonntag: Zu den unschönen, sich gleichwohl größerer Beliebtheit erfreuenden Schottergärten in Vorstadtsiedlungen schreibt die FAS:

Vom Wohnen auf einer Autobahnbaustelle unterscheidet sich das umschotterte Einfamilienhaus nur dadurch, dass es keinen begrünten Mittelstreifen hat.

Unschön auch die Geräusche aus dem Nebenhaus. Offenbar hat sich der Nachbar angewöhnt, sein Husten in ein ekelerregend-lautstarkes Würgen münden zu lassen, woran er uns seit ein paar Tagen etwa im Zehnminutentakt teilhaben lässt. Dann lieber die Singstarkrähe von gegenüber, die in dieser Woche allerdings auf gesangliche Darbietungen verzichtete.

Das Thema Wohnqualität liegt augenscheinlich auch den Parteien am Herzen; zur bevorstehenden Kommunalwahl in Bonn plakatieren sie:

KW31 - 1

Sprachlich ähnlich geglückt auch diese Werbung einer anderen Partei:

KW31 - 1 (1)

Eher keine Empfehlung zur Wahl ist in diesem Schild zu vermuten, wenngleich sich Bezüge zu bestimmten Parteien herstellen ließen:

KW31 - 1 (2)

Im Übrigen verlief die Woche weitgehend in Harmonie. Aufkommende atmosphärische Störungen lösten sich schnell auf, wie diese: „Reißt du dich jetzt mal zusammen?“ – „Nein, ich bin schon zusammengerissen.“