Woche 42/2023: Der deprimierende Anblick körperrasierter Jungmänner

Montag: »Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee«, befand laut Zeitungsbericht das Amtsgericht Lübeck über das ungeregelte Urinieren, vulgo Wildpinkeln in die Ostsee, was mich bereits am Morgen zum Lächeln veranlasste.

Es ist kalt geworden, zudem morgens dunkel; erstmals in diesem Herbst radelte ich mit Handschuhen und Warnweste zum Werk. Nur am Kopf war es kalt, weil die Helmunterziehmütze beim letzten Garagenräumen in Verlust geraten ist. Die jahreszeitgemäß gesunkenen Temperaturen sind auch ein beliebtes Thema auf den Fluren, bislang traf ich niemanden, der sie beklagt.

Ansonsten heute mehrere Besprechungen voller Traurigkeit wegen des Kollegen, der am Wochenende gestorben ist. Das wird uns noch einige Zeit begleiten.

Abends spielte ich mit der Eisenbahn, das war schön.

Dienstag: Morgens wurde ich Zeuge eines innerhalb einer Viertelstunde aufkommenden und wieder abklingenden Morgenrots, das zahlreiche Passanten zu Fuß und zu Rad veranlasste, kurz innezuhalten und das Datengerät zu zücken:

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Keinen Blick für das Naturleuchten hatte ein stadteinwärts Radfahrender, der eine entgegenkommende Radfahrerin sehr aggressiv beschimpfte: „Dein Licht blendet!“, anstatt es positiv zu sehen, dass sie überhaupt mit Licht fuhr. Das ist keineswegs selbstverständlich, wie auch heute wieder festzustellen war; vor allem die jüngeren finden es offenbar uncool (oder wie die das heute nennen), mit Licht zu fahren. Auf sein Geschrei hin entfuhr mir spontan ein „A…loch“, nur leise, er wird es nicht gehört haben. An meiner Selbstbeherrschung ist noch zu arbeiten.

Aus einer internen Arbeitsanweisung, über den Umgang mit Fehlern: »Leitet gemeinsam im Team Lösungen davon ab, das der Fehler abgestellt wird.« Finde den Fehler.

Mittwoch: Wie bereits morgens im Radio gemeldet wurde, hat die Bonner Bezirksvertretung beschlossen, die Viktoriabrücke, die Nord- und Weststadt über sie trennende Bahnlinien verbindet, umzubenennen in Guido-Westerwelle-Brücke, nachdem mehrere Versuche gescheitert waren, eine Straße oder einen Platz nach dem ehemaligen FDP-Kanzlerkandidaten zu benennen. (Wer hätte schon gern eine Adresse, in der ein FDP-Politiker vorkommt, selbst wenn er nicht mehr lebt, von Genscher vielleicht mal abgesehen. Schlimm genug, dass mein Nachname identisch ist mit dem von Wolfgang K. aus SH.) Nachdem die Brücke mit der üblichen Überschreitung von Zeit- und Kostenrahmen saniert beziehungsweise neu gebaut wurde und bis heute nicht vollendet ist, eine eher zweifelhafte Ehrung.

Die gestern gekaufte neue Fahrradhelmunterziehmütze ist sowohl wärmend als auch frisurerhaltend, daher erscheint mir der Preis von fast zwanzig Euro für ein relativ kleines Stück Stoff zwar nicht angemessen, indes vertretbar.

Bei Wikipedia las ich den Begriff Wenigborster und dachte sogleich an den deprimierenden Anblick körperrasierter Jungmänner.

Abends lief ich nach ich weiß nicht wie vielen Monaten, vielleicht Jahren, erstmals wieder die Runde über die Kennedybrücke ans andere Ufer und die Nordbrücke zurück, mit nur einmal kurz Gehen zwischendurch, und empfand darob einen gewissen Stolz.

Donnerstag: Der ADFC erkennt laut einer Radiomeldung an, dass von Lastenfahrrädern auf Rad- beziehungsweise kombinierten Rad-/Fußwegen eine gewisse Gefahr ausgeht. Deshalb fordert er für große und schnelle Fahrräder eine Aufhebung der Pflicht, Radwege zu benutzen, vielmehr soll ihnen erlaubt werden, auch bei vorhandenem Radweg die Straße zu nutzen. Das wird die Autofahrer freuen. Als kombinierter Radfahrer und Fußgänger frage ich: Wie wäre es stattdessen, wenn die Nutzer großer und schneller Fahrräder anerkennen, dass sie nicht alleine sind im Verkehr?

Zu den Unarten der Radfahrer, unabhängig von Größe und Geschwindigkeit, gehört es übrigens, sich während der Fahrt die Nase zu säubern, indem sie ein Nasenloch zuhalten und durch das andere ihren Rotz in die Umgebung sprühen ohne Rücksicht auf Leute in ihrer Nähe, heute Morgen wieder beobachtet am Rhein. Widerlich. Dabei sind es augenscheinlich immer Radfahrer, die derart rotzen, noch nie sah ich eine Frau dergleichen tun. Vielleicht Zufall.

Nachdem am frühen Abend der Regen durch war, lag das gegenüberliegende Ufer in besonderem Licht

Freitag: Aufgrund familiärer Verwicklungen, die darzulegen hier zu weit führen würde, war ich morgens in Bad Godesberg zu Gast auf einer Hochzeitsfeier von mir bis dahin unbekannten (Ehe-)Leuten. Vorgestellt wurde ich als „der Anhang“, was mir recht war. Die Hochzeitsgesellschaft war nicht allzu groß, niemand der Anwesenden suchte das Gespräch über meine Verbindungen zum Brautpaar, auch das war mir recht. Interessanterweise – auch für die Standesbeamtin, wie sie einräumte – trugen Braut und Bräutigam bereits vor der Vermählung denselben Nachnamen, nicht weil sie Müller, Meier oder Schmitz (wir sind im Rheinland) hießen, sondern weil der Mann die Ex-Frau seines Bruders ehelichte, auch das eine familiäre Verwicklung der eher speziellen Art. Dessen ungeachtet mussten sie sich entscheiden, ob als gemeinsamer Nachname der des Mannes oder der Frau gelten soll, Gesetz ist Gesetz. (Sie entschieden sich für den des Mannes, wie amtlich beurkundet wurde.)

Nach dem Standesamt war geladen in die Wohnung der Frischvermählten, wo Sekt und Häppchen gereicht wurden. Letztere waren auf einem Büffet in einem Zelt im Hof platziert, wo sie zunächst das Interesse der Katze des Hauses weckten. Für die Mitnahme an den Platz standen gewöhnliche Unterteller bereit, vielleicht um möglicher Gier Einhalt zu gebieten. Ich wurde dennoch satt. Es ist erstaunlich, wie viele Häppchen man auf einem Unterteller platzieren kann, wenn es nichts anderes gibt.

Üblicherweise fremdle ich bei Zusammenkünften mit überwiegend unbekannten Leuten etwas. Linderung des damit einhergehenden Unbehagens bringt meist Alkohol: Hauptabnehmer für den Sekt waren der Vizeschwiegervater und ich, während der Geliebte sich in Zurückhaltung übte, da er Auto fahren musste. Nach Rückkehr zu Hause war ein längerer Mittagsschlaf erforderlich.

Samstag: Ich wachte bereits um sechs auf und schlief nicht wieder ein, was für einen Samstag etwas ärgerlich, jedoch nicht zu ändern ist. Während ich, weiterhin auf erfreuliche Träume hoffend, bis zur gewohnten Wochenendaufstehzeit im Bett liegen blieb, kamen mir ein paar ansatzweise gute Ideen zu einem (durchaus erfreulichen) Thema, über das ich mir ohnehin noch Gedanken machen wollte, wovon später, als ich sie notierte, schätzungsweise noch siebzig bis achtzig Prozent präsent waren. Um was es ging, darüber werde ich Sie zu gegebener Zeit in Kenntnis setzen.

Nach etwa fünfundzwanzig Jahren habe ich entschieden, mein Abonnement der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE zu kündigen, vor allem aus zeitlichen Gründen. Die hierdurch freigewordene Lesezeit werde ich nutzen, um endlich den Stapel der ungelesenen Bücher zu reduzieren. Nicht ausschlaggebend für die Kündigung, gleichwohl zunehmend als störend empfunden ist die dort seit einiger Zeit praktizierte vermeintlich geschlechterneutrale Sprache in der Form, abwechselnd innerhalb desselben Artikels mal die männliche, mal die weibliche Form zu verwenden, also etwa so: »Wissenschaftlerinnen sind sich einig, dass viele Psychotherapeuten nicht alle Tassen im Schrank haben.« (Ausgedachtes Textbeispiel.)

Sonntag: Deutlich länger geschlafen als am Vortag mit einem abwechslungsreichen, bunten Traumprogramm. Womöglich besteht ein mittelbarer Zusammenhang mit dem in einem Partykeller verbrachten Vorabend, wo wir mit Freunden in Lederhosen, Weißwurst und Getränken den laufenden Monat feierten. (Anscheinend halten nicht wenige Leute nur für diesen zeitlich-saisonal beschränkten Zweck ganzjährig Lederhosen beziehungsweise Trachtenblusen vor.)

Während des Spaziergangs ging ich an einem am Straßenrand geparkten Wohnmobil vorbei, an dessen Seitenscheibe von innen ein Zettel geheftet war: »Probleme? +49 – 171 …« Für welche Art von Problemen der Besitzer des Wagens Lösungen bereithält, war nicht näher ausgeführt. Falls Sie gerade Probleme plagen, stelle ich Ihnen auf Anfrage gerne die vollständige Telefonnummer zur Verfügung.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Woche 46: Der Wahnsinn wird Routine

Montag: Am Morgen ist der Liebste aufgebrochen zu einer einwöchigen Geschäftsreise in die USA. Das bedeutet wieder eine Woche lang unkontrollierte Selbstgespräche meinerseits.

Ein solches lautete sinngemäß „Warum habe ich nur nichts Vernünftiges gelernt?“, als ich mich morgens ins Werk quälte, ohne die Frage beantworten zu können, was genau den was Vernünftiges wäre. Während ich dergleichen vor mich hin sinnierte, fuhr ein Wagen an mir vorbei mit dem Schriftzug „Bodenarbeit und Coaching mit Pferden“. Das beantwortete die Frage nicht, zeigte aber, dass sich auch andere mit seltsamen Dingen beschäftigen.

Dienstag: „Was hat das Wunschbild für eine Zeitleiste?“, fragt der Kollege in einer Besprechung. Vielleicht war ihm die Wortfolge „Wann soll das umgesetzt sein“ gerade nicht eingefallen.

„Welches Lied könnte der Soundtrack deines Lebens sein?“, fragt Franco Bollo im Blog Quergefönt. Das ist in der Tat eine schwierige Frage. Vielleicht dieses:

Vielleicht wäre das auch etwas vermessen, womöglich ende ich dann wie Thomas Gottschalk, der augenscheinlich auch nicht älter werden will. Während bei den Waldbränden in Kalifornien bislang fünfzig Menschen ums Leben gekommen sind, vermeldet Herr Gottschalk in seinem dortigen Anwesen den Verlust eines handschriftlichen Rilke-Gedichtes und des Holztreppenhauses, „durch das meine Kinder immer getobt sind“, so G. Bemerkenswerterweise schafft er es damit in die Zeitung (und in dieses Blog).

Mittwoch: „Ich bin heute im Kitchen-Office“, sagt der Teilnehmer einer Skype-Konferenz. Der Wahnsinn wird langsam Routine.

Donnerstag: Heute nahm ich einen Tag Urlaub, erstens um dem Wunsch meines Arbeitgebers zu entsprechen, Resturlaub bis zum Jahresende abzubauen, zweitens um zusammen mit vielen anderen alten Männern die Modelleisenbahnmesse in Köln zu besuchen. Bei der Hinfahrt mit der Bahn um kurz nach halb zehn in der Frühe fiel mir auf, dass diese bis auf den letzten Platz besetzt war. Was bewegt so viele Menschen dazu, wenn sie nicht gerade vorhaben, eine Modellbahnmesse zu besuchen, an einem normalen Donnerstagvormittag von Bonn nach Köln zu fahren? Haben die nichts zu tun? Wobei ich letzteres nicht als Vorwurf zu verstehen bitte. Ich glaube, einer der größten Irrtümer liegt in der Annahme, nichts zu tun zu haben bedeute Zeitverschwendung oder Langeweile oder sei überhaupt in irgendeiner Weise schändlich. Jeder sollte das Recht und die Pflicht haben, zeitweise nichts zu tun. „Das muss halt getan werden“ erscheint mir als tragende Begründung für eine Tätigkeit jedenfalls wenig überzeugend.

Es war übrigens sehr interessant auf der Messe. Natürlich nur für den, der sich, wie ich, für so etwas begeistern kann. Aber das ist ja bei allem so.

KW46 - 1

KW46 - 1 (1)

Freitag: Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Alle paar Wochen wieder kommt eine neue Kostenprognose für die Sanierung der Bonner Beethovenhalle. Heute ist es wieder soweit: Aktuell liegt man bei 96,5 Millionen Euro, zudem ist der Termin der Fertigstellung völlig offen. Somit stehen die Chancen, noch in diesem Jahr die 100 zu erreichen, nicht schlecht.

Die Kreiswahlleiterin von Frankfurt heißt übrigens Regine Fehler.

Samstag: Gesangliche Verpflichtungen erforderten heute meine Anwesenheit in Köln. Beim Warten auf die Bahn schaute ich auf dieses Bildschirmdings in der U-Bahn-Haltestelle, das Nachrichten, entbehrliche Informationen und vor allem Reklame zeigt. Während ich die mit Personen im gesetzten Alter bebilderte Werbung für ein Portal namens „Lebensfreunde für die Generation 50+“ zur Kenntnis nahm, wurde mir klar: Scheiße, die meinen mich.

Derselbe Bildschirm lässt mich wissen, dass der arme Thomas Gottschalk, der durch die Brände in Kalifornien nicht nur ein Gedicht und eine Holztreppe, sondern auch zahlreiche Bambis verlor, nun zum Trost einen Überraschungs-Bambi erhält. Wohingegen die mittlerweile über sechzig Toten wohl kaum auf ein neues Überraschungsleben hoffen können.

„Denn besser als Musik (bewusst) zu hören ist es immer noch, Musik selbst zu machen“, schreibt ein gewisser Ulrich Bumann im General-Anzeiger. Der Mann hat mich noch nicht Trompete üben gehört.

Sonntag: Nichts erwähnenswertes, nicht mal ein Kater vom Vortag. Generation 50+ halt.