Woche 4/2022: Außerordentliches Gutfinden und Aezv

Montag: Was hat dieser Admiral jetzt falsches über Putin gesagt, dass sich alle so empören? Gut, die Krim ist nicht „weg“, sie ist eindeutig noch da, nur zurzeit schraffiert und unter anderer Leitung, sie wird auch in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht versinken. Insofern verstehe ich die Aufregung nicht.

An Tagen wie diesen schreibe ich ungefähr jedes dritte Wort mindestens zweimal, weil die Finger nach dem Wochenende noch nicht wieder mit der Tastatur synchronisiert sind, vielleicht kennen Sie das.

Dienstag: Fernsehreklame für Ungesundes soll verboten werden, ist zu lesen. Dann bleibt außer der Werbung für die Apothekenumschau nicht mehr viel übrig.

Mittwoch: Die Türkei soll dem Journalisten Deniz Yücel dreizehntausend Euro wegen widerrechtlicher Inhaftierung zahlen, hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Das wird in Ankara erhebliche Erheiterung ausgelöst haben, Erdogans Lachen dürfte bis nach Luxemburg zu hören gewesen sein.

Uns hingegen wird das Lachen bald vergehen: Wie die Zeitung meldet, ist die Schokoladenhasenversorgung in diesem Jahr gefährdet. Auch das noch.

Noch eine Zeitungsmeldung: Siebzehn bzw. zwei Prozent der Franzosen nehmen grundsätzlich gar keine festnetzigen bzw. mobilen Anrufe an, sechsundzwanzig bzw. dreißig Prozent nur von bekannten Anrufern. Dagegen sind nur etwa dreißig Prozent der Deutschen in der Lage, zu flanieren, ohne dabei zu telefonieren. Das stand nicht in der Zeitung, es ist eigene Beobachtung.

Donnerstag: Heute war Sperrmüllabholung. Laut Harald Welzer hat 2020 die von Menschen hergestellte tote Masse, vom Faustkeil bis zum Lastenrad, die Biomasse überstiegen, seitdem überwiegt das Tote das Lebende. Angesichts dessen, was allein in meinem Umfeld alles bestellt wird, und was oft schon wenig später zur Entsorgung (oder „Zum Verschenken“) am Straßenrand steht, sei die Frage gestattet: 2020 erst?

Freitag: Morgens im Radio spielten sie „The Riddle“ von Nik Kershaw, an sich nichts Besonderes, das spielen die von mir bevorzugten Radiosendern recht regelmäßig. Warum ich es erwähne: 1984, kurz nachdem es herausgekommen war, fand ich es großartig, wobei ich mit siebzehn vermutlich ein anderes Attribut zum Ausdruck meiner Begeisterung heranzog, erinnere mich aber nicht mehr an das seinerzeit gängige Jugendwort für außerordentliches Gutfinden. Deshalb war es über mehrere Wochen mein Wachwerdelied am Morgen: Gleich nach dem Wecker legte ich die Nadel ins kreisende Vinyl und drehte die Lautstärke hoch bis kurz vor die Schmerzgrenze. Danach war ich ungefähr so wach wie heute nach dem Brausebad; tägliches Duschen war in unserem Haushalt zu der Zeit noch unüblich, heute nahezu unvorstellbar. Unvorstellbar damals wäre für mich indessen gewesen, bei diesem Lied auch achtunddreißig Jahre später noch das Radio lauter zu stellen, während ich mir morgens die Zähne putze (und danach dusche). Die Single habe ich noch, wenn auch länger nicht benutzt.

Apropos Zeitvergang: Die Sanduhr rieselt, auch für mich. Wie mag sich der Mensch mit fünfundfünfzig fühlen? In einer Woche werde ich es voraussichtlich wissen.

Samstag: Manchmal fallen mir auch ohne konkreten Anlass Dinge ein, die lange weg waren, verräumt und vergessen irgendwo in abgelegenen Hirnwindungen, und die auch jetzt noch, nach nicht nachvollziehbarer Rückkehr, die Mundwinkel zucken lassen. Wie folgender weder tiefgründige noch feinsinnige Minidialog, den ich vor vielen Jahren hörte, wann und wo weiß ich nicht, der etwa so ging: „Hast du ein Bad genommen?“ – „Wieso, fehlt eins?“ Darüber könnte ich mich beömmeln.

Sonntag: Erstmals, nach zweieinhalb Wochen seit wir es haben, fuhr ich heute mit unserem neuen Auto, was auch als Maß meiner Autofahrbegeisterung zu werten ist. Wenn man Autofahren mag, fährt es sich gut, ich war indes sehr zufrieden, als es unbeschädigt wieder auf seinem Stellplatz stand.

Mit dem Sonntag endet die Woche. Außer in der Hörzu, dort ging die Fernsehprogrammwoche von Samstag bis Freitag, warum auch immer; als Kind habe ich das nicht verstanden, danach war es mir egal. Ob das heute immer noch so ist, weiß ich nicht, wer braucht noch Fernsehprogrammzeitschriften.

Über das große Ende von allem las ich in meiner aktuellen Bettlektüre:

»Ich persönlich halte die Apokalypse für eine sehr tröstliche Vorstellung: Die große Kränkung beim individuellen Tod ist ja der Umstand, dass alle noch da sind, nur man selbst nicht mehr. Wenn alle zugleich sterben müssen, geht keine Party weiter, an der man als Gestorbener nicht teilnehmen könnte – man verpasst nichts durch sein Nichtdabeisein. Kein FOMO*. Das schiene mir sehr schön, deshalb würde ich mich zustimmend zur Apokalypse verhalten, wenn sie denn da wäre.«

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst.

*Zugegeben, ich musste nachschlagen, was FOMO bedeutet. Falls Sie es wider Erwarten auch nicht wissen: Fear Of Missing Out – die Angst, etwas zu verpassen, oder Aezv, was etwas sperriger wirkt.

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Vom richtigen Moment

Es passiert immer im falschen Moment: Durchfall. Doch sorget euch nicht – hiergegen gibt es ein wirksames Mittel. Im Vorabendprogramm. Wer heute Werbefernsehen schaut, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Menschheit sieche nur so dahin. Lag der Daseinszweck von Fernsehwerbung noch in den 70er- und 80er-Jahren fast ausschließlich in der Anpreisung von Waschmittel, Haarshampoo, goldkantigen Gardinen und Kaffee mit Verwöhnaroma, so sind wir heute angehalten, Mittel zu erstehen gegen Husten, Schnupfen, Zahnschmerzen, nachlassende Fleischeslust, Verstopfung, Scheidentrockenheit oder -pilz, Nervosität und steile Treppen; vorbei die Zeiten großer Identifikationsfiguren des Werbefernsehens wie Klementine, Tilly, Frau Sommer, Herrn Kaiser, Marie-Luise Hasel und des Persil-Pastors, ich beklagte es bereits an früherer Stelle. Stattdessen Abgespanntheit und Apothekenumschau, Risiken und Nebenwirkungen.

Zurück zum Durchfall. Im aktuellen Werbespot betrachtet der stolze Brautvater seine Tochter, die sich heute aufmacht, ihren Liebsten zu ehelichen, als ein Grummeln in seiner Bauchgegend die aufziehende Darmverstimmung anzeigt. Schon sagt die Stimme aus dem Hintergrund den oben zitierten Satz mit dem falschen Moment. Eine wahrlich tragische Situation: Statt die Kleine, vielleicht nach zahlreichen gescheiterten Versuchen, immer geriet sie an den falschen, endlich an den Traualtar zu führen, wird er den Tag hinter verschlossener Tür verbringen, um sein übel riechendes Geschäft zu verrichten. Doch kein Grund zur Verzagtheit: Zwei bis drei Kapseln des angepriesenen Produkts, schon versiegt der braune Strom, die Vermählung ist gerettet, Torte statt Toilette.

Es passiert immer im falschen Moment – daraus folgt: Es gibt auch einen richtigen Moment. Für Durchfall. Nur: wann ist der? Stellen wir uns das Rentnerehepaar Schmidtpeter vor, wie es an einem Sonntagmorgen von den Sonnenstrahlen geweckt wird, die durch die kleinen Ritzen des Schlafzimmerrollos dringen; dank der am Vorabend eingenommenen Mittel gegen nächtlichen Harndrang und innere Unruhe konnten sie die Nacht durchschlafen.
Er: „Weißt du was, Hilde, heute ist ein wunderbarer Tag für Sprühdurchfall, was meinst du?“
Sie: „Ja, Heinz-Günther, das ist eine gute Idee, ich wollte sowieso in den nächsten Tagen den Kloverleger waschen, er riecht schon etwas streng, findest du nicht? Und weißt du was: dann nehme ich mir heute einen Schwindelanfall, den hatte ich lange nicht, dann wackelt immer alles so schön.“
Er: „Wohlan, so tun wir. Das wird ein richtig schöner Sonntag.“
Vogelzwitschern, Geigenmusik in Dur.
Fröhlich schwingen sie sich aus dem Ehebett, er schafft es gerade noch ins Bad, ohne im Flur eine farbige Spur zu legen, leider nicht mehr ganz bis zum Topf, stattdessen erhält die altrosafarbene Badezimmergarnitur einen frischen Überzug; sie hingegen fällt schwindelig die Treppe hinunter und bricht sich das Bein. Ärgerlich, nun kann sie nicht den Klovorleger reinigen. Der richtige Moment?

Gestern fragte mich mein Freund Jens, ob ich auch dabei bin, wenn er und seine Freundin Lisa nächsten Monat umziehen; Fabian, Klaus, Thorsten, Rainer, Stefan und Christian hätten auch schon ihre Hilfe zugesagt. Ich mag Jens und Lisa sehr, auch die anderen mag ich. Gut, Rainer nicht so, aber egal. Leider wohnen die beiden im fünften Stock, ohne Aufzug.

Doch, es gibt den richtigen Moment für Durchfall, definitiv. Und ich weiß auch schon, wann.