Woche 52/2024: Alternative Tischmanieren und Raclette über Teelichtern

Montag: Weiterhin sind wir in Beaune, Frankreich. Nachtrag zu gestern Abend: Wir waren zum Essen in einem Restaurant, das wir schon von früheren Besuchen kennen und schätzen. Es ist gut, nicht sehr teuer und der Service sehr freundlich. Während des ersten Ganges betrat ein jüngeres Paar mit einem etwa zwei Jahre alten Kind den Raum, sie wurden am Nebentisch platziert. Das Kind zeigte sich lebhaft, es lief herum, plapperte, quengelte, eine alles in allem altersgerechte Verhaltensweise, die vielleicht bei denjenigen, für die Kinderliebe nicht an oberster Stelle steht, ein gewisses Störgefühl auszulösen vermag. Bald warf das Kind das Blumentöpfchen vom Tisch, das nun, getrennt nach Topf, Pflanze und Erde auf dem Boden lag. Die Eltern scherte es nicht weiter, auch sahen sie sich nicht veranlasst, das Malheur zu beheben oder wenigstens zu melden. Als die freundliche Bedienung das sah, zeigte sie sich wenig erfreut. Offenbar hatte man mehr compréhension für kindliche Lebhaftigkeit erwartet, kurz darauf wurden Kind, Malsachen und alles andere zusammengepackt und sie verließen abschiedslos das Lokal. Am Nebentisch, also unserem, wurde dies mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, beinahe hätten wir applaudiert. Dem Kind ist kein Vorwurf zu machen. Doch was geht in solchen Eltern vor?

Unser Tischgewächs blieb unbehelligt

Interessant an einem Hotelaufenthalt sind stets auch die anderen Gäste und ihre Verhaltensweisen. Ich vermute, wer in der Gastronomie oder Hotelbranche arbeitet, erlebt vieles, womit man erfolgreich ein Buch oder Blog füllen könnte. (Für entsprechende Blogempfehlungen wäre ich dankbar.) Beim Frühstück fiel mir heute der vielleicht zwanzigjährige Angehörige einer größeren Familie auf, der ungefähr im Minutentakt das Büffet aufsuchte, um noch etwas nachzuholen. Das ganze in kurzen Hosen. Nicht dass ich dem Anblick junger Männerbeine grundsätzlich abgeneigt wäre, aber warum trägt er im Dezember in einem Fünfsternehotel kurze Hosen? Muss der sich oder anderen etwas beweisen?

Sehr nett im übrigen das ältere Ehepaar aus Freiburg, mit dem wir abends in der Hotelbar ins Gespräch kamen. Offensichtlich sind wir nicht die einzigen, die das Verhalten und Auftreten anderer Gäste interessant finden.

Das Hotel hat drei Stockwerke, somit ist es den meisten Menschen möglich, auch ein Zimmer im oberen Stock über die Treppen zu erreichen. Dennoch folgen die meisten Gäste der natürlichen Bequemlichkeit und nehmen den Aufzug, nur selten begegnet mir jemand im Treppenhaus. Im Erdgeschoss gibt es einen Fitnessraum. Dank Aufzug ist er auch für Bewegungssuchende aus den oberen Stockwerken jederzeit bequem erreichbar.

Die Hotelbar. In dem Topf neben dem Feuer wird ausgezeichneter hausgemachter Glühwein warmgehalten, wir haben ihn mehrfach für Sie probiert.

Dienstag: Der Heiligmorgen begann nicht allzu spät und recht entspannt. Nach dem Frühstück gingen wir eine Runde durch die Stadt, die gut gefüllt war mit Autos und Menschen in letzten Besorgungsabsichten für die bevorstehende fête la Noël. Einige Geschäfte, unter anderem Textilläden, hatten bis achtzehn Uhr geöffnet, für Spätentschlossene oder mögliche Weihnachtsverweigerer.

Nach dem Stadtbummel machten wir einen Spaziergang durch den nahegelegenen Parc de la Bouzaise, wo sich Blesshühner und eine Kleingruppe Gänse (neben graugemusterten Wildgänsen auch eine weiße, letztere vielleicht kurz zuvor dem Braten entkommen) vom Fest unbeeindruckt zeigten.

Nach Rückkehr im Hotel gönnten wir uns vor dem heiligen Abend noch etwas Ruhe. Während ich auf dem Sofa die Zeitung und Blogs las, waren von den Lieben nebenan bald leise Schlafgeräusche zu vernehmen. Zwischendurch zuckte immer wieder das Datengerät auf von den tagesüblichen Grüßen und Wünschen in diversen WhatsApp-Gruppen. Im erweiterten Sinne mit Festbezug traf außerdem per Mail eine Empfehlung für bessere Erektionen ein.

Trotz gegenseitigen Nichtschenkpaktes blieben wir dann doch nicht ganz unbeschoren, woher auch immer die Geschenke kamen.

Den Abend verbrachten wir im Hotelrestaurant, wo ein siebengängiges Festmenü in passender Weinbegleitung gereicht wurde. Das war ausgezeichnet, wenn auch des Guten etwas zu viel: Spätestens ab dem vierten Gang konnte ich außer wenigen Probierhappen kaum noch was essen, das zu jedem Gang extra gereichte Brot blieb unangerührt. Das ist nur schwer mit meiner Flüchtlingskinderziehung zu vereinbaren, wonach Teller grundsätzlich leergegessen werden. Allerdings setzt die Magenkapazität hier natürliche Grenzen. Immerhin kam kein Wein um, immer das Positive sehen.

Zuviel des Guten war auch die musikalische Begleitung durch zwei Damen, die mit Geige und Harfe von Raum zu Raum zogen. Sie spielten sehr gut, sogar Stücke von ABBA und Queen, allerdings war es zu laut für Tischgespräche. Deshalb waren wir ihnen nicht böse, als sie weiter zogen und andere Gäste erfreuten.

Nach dem Essen suchten wir mit dem Paar aus Freiburg nochmals für ein Nachtglas die Hotelbar auf. In der Ecke neben dem Kamin saß ein jüngerer Mann augenscheinlich indischer Physiognomie, beschäftigt mit Buch, Datengerät und Getränken. Der saß da schon so, als wir Stunden zuvor ins Restaurant aufgebrochen waren, und er wirkte nicht unzufrieden.

Hotelfensterblick, morgens, mit Weinbergen der Côte d’Or im Hintergrund
Im Parc de la Bouzaise
Sofablick. Mehr braucht es manchmal nicht zur Zufriedenheit.
Nächstes Jahr aber wirklich nichts. (Foto: der Geliebte)

Mittwoch: Beim Aufwachen erwog ich, heute nichts oder überhaupt niemals mehr etwas zu essen. Das späte Frühstück – wir waren die letzten im Frühstücksraum, das Personal war schon mit dem Abräumen des Buffets beschäftigt – fiel mit einem Croissant und einem Pain au chocolat jeweils im Kleinformat, einem Glas Saft und einer Tasse Kaffee entsprechend geringfügig aus.

Mittags deckte ich meinen Bedarf an etwas Bewegung und frischer Luft mit einem Spaziergang über die Remparts, die zu etwa Dreivierteln erhaltene alte Stadtbefestigung um die historische Innenstadt von Beaune. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen waren kaum Autos auf den Straßen, nur wenige Menschen flanierten und führten ihre Hunde oder Kinder aus. Aus einem Fenster drangen Fetzen von „All I Want For Christmas“ von Mariah Carey an mein Ohr, dem in diesen Tagen kaum zu entkommen ist. And Aaaaaahahahahaii …

Nachmittags wurden die meisten Sachen einschließlich getätigter Einkäufe gepackt und ins Auto geladen, auf dass wir morgen zeitig nach Hause aufbrechen können. Wie üblich begleitet von Diskussionen zwischen meinen Lieben. Laut einem beliebten Klischee zerbrechen Ehen an falsch gedrückten Zahnpastatuben. Wie viele Partnerschaften mögen wegen unterschiedlicher Auffassungen über das richtige Packen des Autos bei der Urlaubsabreise in Schieflage geraten?

Nach dem Abendessen nahmen wir den letzten Vin Chaud à la maison in der Hotelbar. Der Inder hatte sich dort inzwischen über drei Sessel häuslich eingerichtet und wirkte weiterhin sehr zufrieden. Die Sitzgruppe gegenüber belegten ein Mann und zwei Teenagerjungs, letztere mit Alpaka-Frisuren. (Diese Bezeichnung für die aktuelle Haarmode junger Männer las oder hörte ich kürzlich irgendwo und finde sie sehr trefflich.) Gesprochen wurde fast nicht, alle drei waren intensiv mit ihren Datengeräten beschäftigt. Manchmal hielt einer dem anderen das Gerät vor die Nase, der grinste dann kurz und widmete sich wieder dem eigenen. Unterbrochen wurde ihr Tun durch einen zwischenzeitlich servierten Imbiss, der mit alternativen Tischmanieren vertilgt wurde, den Blick möglichst wenig vom Bildschirm abgewandt. Sie hatten auf ihre Weise Spaß, nehme ich an.

Rempards mit Moosansicht
Rempards mit Burgund-typischer Dachdeckkunst

Donnerstag: Nachdem auch die letzten Sachen ohne größeren Zank im Auto verstaut waren, verließen wir vormittags Beaune. „Passt bitte gut auf euch auf, die Welt wird nicht besser“, gab uns die Frau des netten Freiburger Ehepaars mit auf den Weg, womit sie zweifellos recht hat.

Auch an der Grenze zu Luxemburg gibt es Kontrollen gegen illegale Einreise. Etwas rätselhaft der Kontrollposten bei Trier: Er ist erst weit hinter der Grenze eingerichtet, nach einem Parkplatz und einer Abfahrt auf deutschem Gebiet. Schleusern wird es somit recht einfach gemacht, ihrem Geschäft nachzugehen. Bestimmt hat man sich dabei was gedacht.

Nach entspannter und sonnenbeschienener Fahrt kamen wir am späten Nachmittag in Bonn an. Dort waren die letzten fünf Törchen des Adventskalenders „Edle Tropfen in Nuss“ abzuarbeiten, was der Ankunft eine gewisse Leichtigkeit verlieh. Zum Abendessen besuchten wir den persischen Lieblingsitaliener. Nach einer Woche mit französischer Küche ist eine Steinofenpizza auch mal wieder ganz schön.

Für den letzten Urlaubstag morgen habe ich einen Wanderbeschluss gefasst.

Freitag: Mittags brach ich auf zur Wanderung, wegen der jahreszeitlich beschränkten Tagesbelichtung nicht sehr lang. Mit dem Bus fuhr ich bis Holzlar, von dort wanderte ich bei Sonnenschein über den Ennert und den mir bislang unbekannten Finkenberg zwischen Küdinghoven und Beuel zurück nach Bonn. Unterwegs begegneten mir vergleichsweise viele Menschen, was am Brückentag zwischen den Jahren liegen mag, viele haben frei, zudem ist die Strecke stadtnah. Jedenfalls war es wieder beglückend, auch wenn die meisten Bäume kahl Winterschlaf halten. Immerhin zeigen sich Moose und Stechpalmen verlässlich dauergrün.

Nach Ankunft in der menschenvollen Bonner Innenstadt belohnte ich mich für die Mühen mit einer Feuerzangenbowle auf dem Remigiusplatz, wo der Weihnachtsmarkt erstmals in diesem Jahr ein paar Tage länger geöffnet bleibt und zum Dreikönigsmarkt wurde, irgendwie muss es ja heißen. Neben mir bestellte und bekam jemand einen Lumumba. Wir kürzlich zu lesen war, soll man das nicht mehr sagen, weil es wohl irgendwie rassistisch ist. Herrje. Ohne Zweifel halte ich es für richtig, nicht mehr Mohrenkopf oder Zigeunerschnitzel zu gebrauchen, auch wenn mir die Diskussion darum bisweilen etwas hysterisch erscheint. Aber Lumumba? Was kommt da demnächst noch? Vielleicht Granatapfel, Götterspeise, Russisches Brot oder Matjes nach Hausfrauenart? AfD und Freie Wähler werden sich freuen, fürchte ich.

Ennert-Wald im Winterschlaf
Hardweiher
Moosansicht
Stilleben auf dem Finkenberg
Der Rhein mal von der anderen Seite

Samstag: Seit Mitternacht darf wieder Silvesterknallwerk verkauft werden. Wie das Radio morgens meldete, hatten die ersten Licht-Schall-Rauchfreunde bereits seit dem Nachmittag vor den Verkaufsstellen gewartet. Zu den Nebenwirkungen hinsichtlich Müll und Lärm befragt, antworteten sie, das hätten sie auf dem Schirm. Dann ist es ja gut.

Nicht auf dem Schirm, sondern auf dem Sofa verbrachte ich große Teile des Tages und war damit sehr zufrieden.

Abends gab es Raclette über Teelichtern, die Öfchen befanden sich in dem am Dienstag gezeigten Geschenkeberg. Das funktioniert erstaunlich gut, schmeckte bestens und machte satt. Und das Spielerische kam auch nicht zu kurz.

..

Sonntag: Im Gegensatz zu den Vortagen blieb dieser Tag trüb und kalt, die Pfützen auf den Wegen waren gefroren. Den letzten Sonntagsspaziergang des Jahres verband ich mit einer Probefahrt der neuen Straßenbahnwagen. Zum Glück kam auch gleich einer, im Moment fahren sie noch im Mischbetrieb mit den alten auf der Linie 61. Damit fuhr ich bis bis zur Endhaltestelle in Auerberg und flanierte am Rhein entlang zurück, ein gut einstündiger Marsch, den ich so noch nicht gegangen war. Die neuen Wagen laufen sehr ruhig, was dem an Straßenbahnzügen nicht so interessierten normalen Fahrgast vielleicht gar nicht auffällt.

Wagen 2253 verlässt die Endhaltestelle in Auerberg
Rheinufer gegenüber Graurheindorf

***

Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche und einen guten Start in ein neues, möglichst angenehmes Jahr. Vielen Dank, dass Sie meinen Gedanken und Erkenntnissen hier wöchentlich folgen. Passen Sie gut auf sich auf, die Welt wird voraussichtlich nicht besser.

Woche 22/2024: Kafka gab mir den Rest

Montag: Gegen vier Uhr dreißig endete für mich die Nacht, ich war wach und schlief nicht mehr ein, jedenfalls nicht dass ich es bemerkt hätte. Vielleicht waren Leib und Seele vom vorangegangenen Wochenende schlafsatt. Vogelgesang vor dem Fenster und Menschengeräusche direkt neben mir erschwerten zudem die Rückkehr in behagliche Träume. Auf die Tagesmüdigkeit und Arbeitslust hatte das keinen Einfluss, die waren so wie stets zu Wochenbeginn.

Eine der ersten Tätigkeiten eines jeden Tages nach Ankunft im Büro ist ein Blick auf die Seite des Kantinenbetreibers, auf dass mich Vorfreude über den Vormittag trage. Heute im Angebot: »Vegane Schwarzkohl-Pilz-Pasta mit Salat dazu geschmorte Schweinebauchwürfel und Salat Bunter Salat.« Das erste Wort verschwand bis zum Mittag, vermutlich hatten sie es selbst gemerkt; der dreifache Salat blieb. Wie auch immer, es schmeckte gut.

»Die Katzenkriegerin« übertitelt der SPIEGEL einen Artikel über die taiwanische Vizepräsidentin. Kurz wunderte ich mich darüber, dass die Frau Katzen gebiert, ehe das Ach-so-ja eintraf.

Dienstag: Die Radionachrichten morgens begannen mit einer Fußballmeldung. So ernst kann die Weltlage demnach nicht sein.

Seit längerem versuche ich, mich in der Kantine nicht ganz so fleischhaltig zu ernähren, im Zweifel wähle ich das vegetarische Gericht, womit ich meistens sehr zufrieden bin. Zu Tofu hatte ich bislang keine Meinung und mied ihn. Zu recht, wie ich nun weiß. Unbeabsichtigt wählte ich heute was damit, fand ihn sowohl vom Geschmack als auch von der Konsistenz her unansprechend, pickte die Brocken heraus und legte sie an den Tellerrand, über den hinauszuschauen man sich bekanntlich nicht scheuen soll und was ich hiermit, wenn auch ungewollt, getan habe. Immerhin habe ich nun zu Tofu eine Meinung; fast alles ist für irgendetwas gut.

Gehört, nicht zum ersten Mal, dafür länger nicht mehr: „… um da etwas Erwartungsmanagement zu betreiben“, eine aufgeschäumte Variante von „Ich will nicht zu viel versprechen“.

Auch gehört: „aufspenden“. Das bedeutet nicht, eine milde Gabe zu erhöhen, vielmehr kennen Sie das vermutlich, wenn Ihre Bank Ihnen eine neue Kreditkarte zuschickt und die so auf dem Briefpapier fixiert ist, dass man sie ohne größere Mühe abnehmen kann, vielleicht mit Kaugummi. Die ist dann nicht aufgeklebt, sondern aufgespendet. Vermutlich ein Anglizismus, ich bin zu müde, es zu recherchieren.

Mittwoch: „Bitte finde anbei unsere Rückmeldung“ steht in einer Mail. Ein Suchspiel.

Er sei bis zum 2. Juni im Urlaub, lässt ein Kollege per Abwesenheitsnachricht wissen, nachdem ich ihm eine Mail geschickt hatte. Kurz darauf beantwortete er meine Nachricht. Offenbar ein sehr langweiliger Urlaub.

Abends wurde ein feiger Anschlag auf unsere Wohnung verübt

Donnerstag: Die Deutschen arbeiten zu wenig, findet nicht nur der Finanzminister. Nach Einschätzung von Ökonomen kostet ein Feiertag die Wirtschaft mehrere Milliarden. Mein schlechtes Gewissen, heute nicht das Werk aufzusuchen, hielt sich in überschaubaren Grenzen, stattdessen widmete ich mich der ganz persönlichen Care-Arbeit in Form eines langen Spaziergangs auf die andere Rheinseite.

Uferpromenade vor Beuel

Wir haben uns auf ARD die Dokumentation »ESC-Legenden: ABBA – Die ganze Geschichte« angeschaut. Beginnend mit dem Sieg beim Grand Prix de tralala 1974, ihr Aufstieg, die Schmähungen im Heimatland, Agnetas Zerrissenheit zwischen Kind und Band, die erste, dann die zweite Scheidung, schließlich das Ende Anfang der Achtziger. Das wars. Fast alles schon mal gesehen und gelesen. Worüber nicht berichtet wurde: wie es danach weiter ging – die Soloprojekte der Damen, die weiterhin erfolgreichen Musikproduktionen der Herren, die Abbatar-Show in London. Vor allem: wie sie wieder zusammenfanden und 2021 das Album Voyager herausbrachten. Das hat mit etwas enttäuscht. Für die ganze Geschichte hätte das dazugehört.

Freitag: Morgens wartete ich mit dem Fahrrad vor einer roten Fußgängerampel, neben mir weitere Personen zu Fuß, unter anderem ein uniformierter Polizist. Von gegenüber näherte sich eine junge Frau, das rote Männchen missachtend, den Blick auf das Datengerät gerichtet. Gespannt schaute ich zum Polizisten, ob und wie er ordnend eingreifen würde. Der zog an seiner Zigarette und ignorierte das Displaygirl, war wohl nicht im Dienst. Das fand ich enttäuschend.

Wenn einem in einer Besprechung der Satz „Ich melde mich gleich bei dir“ zu profan erscheint, kann man stattdessen sagen „Wir können uns dazu gerne im Nachgang bilateral austauschen“. Muss man aber nicht.

Letzte Bürotätigkeit des Tages war, vom Wandkalender den Mai abzureißen. Dabei klingt „Ich gehe erst wieder im Juni ins Büro“ toller als es ist.

Samstag: Zurzeit überall Franz Kafka, heute auf den Titelseiten von SPIEGEL und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die seit geraumer Zeit bereits samstags zugestellt wird. Meine Berührungspunkte mit Kafka waren bislang wenige. In der Mittelstufe lasen wir einen kürzeren Text, „Die Heimkehr“, soweit ich mich erinnere. In der Oberstufe dann „Die Verwandlung“, daran erinnere ich mich gut: Nachdem ich den ersten Satz gelesen hatte, sie wissen schon, Gregor Samsa wacht morgens als Insekt auf, stellte ich die weitere Lektüre ein und wählte das Fach Deutsch ab, damals ging das noch. Schon zuvor bereitete es mir keine Freude, Texte zu interpretieren, Dinge herauszulesen, die dort nicht standen, was wesentlicher Bestandteil des oberstuflichen Deutschunterrichts und der Klausuren war; Kafka gab mir den Rest. Viel später fiel mir „Das Urteil“ in die Hände und ich begann es zu lesen, legte es jedoch bald wieder an die Seite. Irgendwo müsste ich das Buch noch haben, vielleicht nehme ich es mir nochmal vor, mag sein, dass ich inzwischen besseren Zugang finde.

In der FAS ein Interview mit Elke Heidenreich, die ich weniger als Literaturerklärerein wahrgenommen habe, umso mehr als Metzgersgattin Else Stratmann, die in den frühen Achtzigern in Ruhrpott-Deutsch, in meinen Ohren der schönste deutsche Dialekt überhaupt, ganz wunderbar die Welt erklärte. Wunderbar auch das Interview, das so endet:

»Ach, bleiben! Wir haben es doch gar nicht in der Hand. Wer weiß, wie sich die Zeiten ändern und was in hundert, in fünfhundert Jahren geblieben sein wird. Vielleicht gar nichts. Ist doch auch egal, oder? Wenn man tot ist, ist man tot. […] Ich empfinde es als großes Geschenk, einen guten Wein zu trinken, dazu auch mal eine schöne Zigarette zu rauchen, die ich mir, trotz meiner kaputten Lunge, von keinem Arzt verbieten lasse. Ich atme, die Sonne scheint, der Hund guckt mich an – Herrgott, es ist doch so schön zu leben! Und wenn es vorbei ist, sag ich Danke und mach die Augen zu.«

Das hätte Else Stratmann nicht schöner sagen können.

Werbung in der Tageszeitung:

Was nützt Reichtum, wenn man dazu verdammt ist, einen hässlichen Schnauzbart zu tragen

Sonntag: Anlässlich seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens veranstaltete der Kölner Bahnfreundeverein, dem ich genauso lange angehöre, eine Straßenbahnsonderfahrt durch Köln. Zur großen Freude kam dabei ein Zug des Straßenbahnmuseums Thielenbruch zum Einsatz, der bis 2006 in Köln noch alltäglich war, bis heute wusste ich nicht, dass es davon noch ein fahrbereites und bestens gepflegtes Exemplar gibt.

Wagen 3764 in der Wendeschleife Ubierring. Ist er nicht wunderschön?

Im Anschluss gab es eine Führung, Essen und Trinken im Museum. Die Rückfahrt nach Bonn gestaltete sich über Siegburg etwas umwegig, weil die Bahnen zwischen Köln und Bonn mal wieder nicht so fuhren wie sie sollen. Das war nicht weiter schlimm, die Freude über den Tag wirkte noch länger nach.

***

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, kommen Sie gut durch die Woche.

Jungs in albernen Anzügen

ABBA hat ein neues Album rausgebracht, „Voyage“, eine kleine Sensation, nachdem sie vor fast vierzig Jahren aufgehört hatten, neue Alben herauszubringen. „The day before you came“ war einer ihrer letzten Hits, soweit ich mich erinnere, vielleicht auch der letzte, so genau weiß ich das nicht mehr und ich bin außerdem zu bequem, es zu recherchieren.

Das erste Mal sah ich ABBA bei ihrem legendären (ein großes Wort, ich weiß) Auftritt beim Grand Prix Eurovision de Dings, wo sie mit „Waterloo“ siegten. Von da an waren sie in Funk und Fernsehen häufig zu hören: „Fernando“, „I do, I do, I do“, „Gimme gimme“, „Thank you for the music“, „Move on“ (Kennen Sie nicht? Doch, bestimmt, aus der Werbung für ein Haarwaschmittel: „Schönes Haar ist dir gegeben, lass es leben …“), um nur einige zu nennen; Lieder, die fast jeder kennt und mitsingen kann.

Ich kann das übrigens nicht, seit jeher verstehe ich keine Liedtexte, nicht mal die deutschen, erst recht kann ich sie mir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht merken. (Als man im Auto noch Musik von Kassetten hörte, hatte ich eine mit der Bezeichnung „Zum Mitsingen“, darauf Lieder mit Textkenntnis, nicht nur, nein gar nicht ABBA, dafür zum Beispiel „Don’t look in anger“ von Oasis, eine weitere großartige Band, auf deren nächstes Album wir wohl auch noch mindestens vierzig Jahre warten müssen, „Don’t answer me“ von Alan Parsons Project, „A New South Wales“ von The Alarm und „Never tear us apart“ von INXS. Wenn ich alleine fuhr, kam diese Kassette in den Schlitz, Lautstärke aufgedreht bis nahe an die Schmerzgrenze und lauthals mitgegrölt.)

Doch, einen ABBA-Text konnte ich mal auswendig: „Does your mother know“, eines der wenigen Lieder, bei denen die beiden Männer auch mal singen durften. Überhaupt nahm ich Björn und Benny erst nach einiger Zeit als Bestandteil von ABBA wahr, bis dahin dachte ich, sie bestünden nur aus den beiden Frauen, der blonden und der dunklen, während die Jungs in den albernen Anzügen nur instrumentales Begleitprogramm waren. Dass die beiden gleichsam die Macher von ABBA waren und immer noch sind, ahnte ich mit acht Jahren noch nicht. Das Lied gehörte zum Repertoire unserer Kellerband in den Neunzigern, deren Sänger ich war. „Dancing Queen“ sangen wir auch, etwas später, als wir auch eine Sängerin hatten, die im Gegensatz zu mir ziemlich gut singen konnte. Zu Ruhm brachten wir es nicht, wir hatten nicht mal einen Bandnamen. „Böcker-Band“, weil zwei von uns, der Pianist und der Schlagzeuger, Cousins, Böcker hießen, setzte sich nicht durch. Immerhin hatten wir sogar einen Auftritt, auf der Hochzeitsfeier von Rainer K. Film- oder Tonaufnahmen gibt es davon meines Wissens nicht, jedenfalls hoffe ich das sehr. Aber ein Bild:

Wie die Ehen bei ABBA hielt auch die von Rainer leider nicht sehr lange. Ein Zusammenhang mit unserem Auftritt ist indes mit einigermaßen hoher Sicherheit auszuschließen.

Woche 35/2021: Natürlich gealterte Originale

Montag: Mittags im Rheinauenpark war bei den Wildgänsen eine gewisse Aufgeregtheit auszumachen. Vielleicht stritten sie darüber, ob sie angesichts der aktuellen Wetterlage früher aufbrechen sollen in den Süden, wer wollte es ihnen verdenken. (Danach spielte mein Hirnradio stundenlang „Nils Holgerson“ in Dauerschleife. Sollte es Ihnen beim Lesen dieser Zeilen nun ähnlich ergehen, bitte ich dies zu entschuldigen.)

Ein nicht zu unterschätzendes Problem in südlichen Regionen ist der Diebstahl von Sand, wie die Zeitung heute berichtet. Demnach wurden auf Sardinien durch den Zoll kürzlich 4,1 Kilogramm Sand sicherstellt, was mit Strafen bis zu dreitausend Euro geahndet wurde. Wohlgemerkt: Sand, nicht Goldstaub.

Man muss nicht alles verstehen. Auch dieses nicht:

..

Ganz anderes Thema, dafür absolut verständlich im Sinne von nachvollziehbar, gelesen hier:

Denn wenn man auf Silberhochzeiten geht, dann sind das ja normalerweise die von alten Leuten, die von den Freunden der Eltern etwa. Also normalerweise ist das so. Es war diesmal aber die Silberhochzeit meiner Freunde, was zwingend bedeutet, dass wir das jetzt sind, die Zuständigen für derlei.

Dienstag: Von alt zu jung – üblicherweise übe ich mich in Zurückhaltung darin, andere Leute als dumm zu bezeichnen, wohnt dieser Bezeichnung doch stets eine gewisse, möglicherweise ungerechtfertigt-peinliche Selbsterhöhung inne. Doch scheint es mir hier zutreffend: Wie das Radio meldete, kletterte in Troisdorf mal wieder ein Jugendlicher auf einen Güterwaggon der Bahn, wo ihn umgehend und final der Schlag aus der Oberleitung traf; fünfzehntausend Volt leisten hier stets schnelle und gründliche Arbeit. Warum tun die das immer wieder? Werden die Digital-Naiven in ihren Ätzwerken, denen sie einen nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit widmen, nicht davor gewarnt, Eisenbahnfahrzeuge zu besteigen, erst recht wenn sie unter einer Oberleitung stehen? Oder werden sie dort in zweifelhaften Challenges gar dazu ermutigt? – Und allen Vollkasko-Eltern, die nun bald wieder nach besseren Umzäunungen von Bahnanlagen verlangen, sei geschrieben: Das ist Unsinn, eure Nachzucht wird sie mühelos überwinden. So „schlau“ sind sie dann doch.

Mittwoch: Mit fünfunddreißig war ich ziemlich zufrieden – in Bonn die ersten Wurzeln geschlagen, frisch und glücklich verheiratet, auch sonst lief alles erfreulich. Heute diene ich seit fünfunddreißig Jahren demselben Arbeitgeber, auch das immer noch überwiegend zufrieden. Klar, manchmal sehnt man den Feierabend, das Wochenende, den nächsten Urlaub oder den Ruhestand etwas mehr herbei als sonst, aber insgesamt begebe ich mich immer noch ganz gerne ins Werk, auch wenn sich das hier vielleicht manchmal anders liest. So viele Jahre beim selben Arbeitgeber – wohl nur wenige heute Fünfunddreißigjährige können sich das noch vorstellen. Ach ja: Auch sonst bin ich immer noch ziemlich zufrieden, geradezu glücklich, vielleicht anders, aber keineswegs weniger als mit fünfunddreißig.

Donnerstag: Morgens auf dem Fußweg ins Werk sah ich das Rheintal in Nebel gehüllt, was die Motivklingel der Datengerätkamera anschlagen ließ.

..

Ab Mittag wurde es sonnig-warm. Nach langen, entbehrungsreichen Monaten gab es abends dienstlich veranlasste Alkoholzufuhr, so richtig mit Menschen. Die häufig gestellte Frage des Abends lautete daher „Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?“ Anlass war der erfolgreiche Abschluss eines großen Projekts bereits Anfang letzten Jahres, das dann aus bekanntem Grund nicht mehr angemessen begossen werden konnte. Es war sehr schön, man ist so etwas ja gar nicht mehr gewohnt, also das mit den Leuten, das mit dem Alkohol schon noch.

Nach vierzig entbehrungsreichen Jahren gibt es Erfreuliches für das Ohr, ich hätte nicht gedacht, das noch zu erleben, ABBA hallo. Öffentlich wollen die vier wohl nur noch in Form künstlicher Abbatare in Erscheinung treten, was ich einerseits verstehe, andererseits bedaure, da sie sich auch als natürlich gealterte Originale durchaus noch sehen lassen können.

Freitag: Ein nur kleiner Kater schnurrte in des ersten Stunden des Arbeitstags, das war es wert, siehe Eintrag von gestern. „Das ist ein getoggeltes Feature“ sagte einer während einer Präsentation und ließ meinen Sprachnerv leicht zucken.

Ich halte es für richtig, auch abweichenden Meinungen gegenüber offen zu sein, selbst wenn der Klimawandel mit seinen Auswirkungen als „fachpolitische Detailfrage“ bezeichnet wird. Daher mein ausdrücklicher Dank an Bundesstadt.com für dieses Gespräch.

Samstag: Wie morgens das Radio meldet, wird in Xanten heute die Schnick-Schnack-Schnuck-Meisterschaft ausgetragen, ohne Publikum, zudem nur mit Schere, Stein und Papier, aber ohne Brunnen, warum auch immer.

Als Mensch mit einer generellen, nicht rassistisch motivierten Fremdenreserviertheit lasse ich mich ungern von Unbekannten ansprechen. Daher ist es zurzeit anstrengend, durch die Fußgängerzone zu gehen: Überall stehen Leute an sonnenbeschirmten Tischchen, die einem etwas in die Hand drücken wollen und womöglich gar das Gespräch suchen.

Abends vernahm ich erstmals das schöne Wort „Pilzputzchampagner“ und übernahm es sogleich in die Schatulle meines aktiven Wortschatzes, auf dass es zur Verfügung steht, wenn mich der Liebste das nächste Mal zu Hilfstätigkeiten bei der Essenszubereitung heranzieht, selbstverständlich auch in analoger Anwendung beim Kartoffel- und Spargelschälen; „Schälchampagner“ dann eben. Es muss auch nicht zwingend Champagner sein, ein Cremant tut es auch.

Sonntag: Eimal mehr stellt sich die Frage, wie es diese Spezies so weit bringen konnte.

..

Ich habe das Buch „Das Glück des Gehens“ von Shane O’Mara ausgelesen. Das Glück des Lesens war dabei begrenzt, da stellenweise etwas langatmig-theoretisch die zum Gehen erforderlichen Körper- und Hirnfunktionen erläutert werden. Etwas zu kurz kam mir dagegen das, was den eigentlichen Gehnuss ausmacht, nämlich aufmerksam und unabgelenkt durch ein Datengerät die Details am Wegesrand wahrzunehmen. Siehe auch vorstehendes Bild.

Von der Theorie zur Praxis: Warmes Spätsommerwetter lockte zahlreiche Menschen nach draußen; während des Sonntagsspaziergangs erforderte es einiges an Aufmerksamkeit, auf den Rheinbrücken nicht von Fahrrädern und Elektrorollern angefahren zu werden, während ich notorischen Linksgehern auswich. Als ich während des Gehens mit Blick auf eine öffentliche Uhr bemerkte, dass meine Armbanduhr drei Minuten vorgeht, stellte ich mir vor, wie ich sie abnehme und korrigiere, und wie, während der große Zeiger zurückwandert, alles um mich herum rückwärts läuft wie in einem Film, der zurückgespult wird. Was man so denkt, wenn die Sonne auf die ungeschützte Hinterkopflichtung sticht. Vielleicht wäre das was für die Mainzelmännchen.

Ich wünsche Ihnen eine angenehme neue Woche mit möglichst vielen erfreulichen Details am Wegesrand.