Woche 44/2024: Eine altersgerechte Begleiterscheinung und ungeplante Lustigkeit

Montag: Der erste Tag in Mitteleuropäischer Zeit, umgangssprachlich auch als Winterzeit bezeichnet, verlief insgesamt angenehm; dafür, dass die Herbstferien vorüber sind, war es am Arbeitsplatz vergleichsweise ruhig.

Manchmal scheint es, man hätte mir auf die Seele geschaut und das dort vorgefundene notiert. Zum Beispiel Frau Anje, bei der dieses zu lesen ist:

„Dazu kommt, dass mein Interesse an anderen Menschen deutlich unterausgeprägt ist. Manchmal bekomme ich durch Zufall mit, was andere Menschen so machen oder planen und es kommt öfter vor, dass ich dann innerlich die Augen verdrehe, äußerlich versuche ich dann aber meist krampfhaft, mir nichts anmerken zu lassen, eben weil ich finde, es geht mich nichts an, soll doch jeder selber tun, was er für richtig hält.“

Erst heute Mittag in der Kantine empfand ich wieder so, als die Mitesser ausführlich ihre Kinder besprachen. Dankenswerterweise versuchten sie gar nicht erst, mich in das Gespräch einzubeziehen; mangels Kenntnis und Interesse hätte ich nichts dazu beitragen können. Wie bei Fußball, Autos, Serien und Skiurlaub.

Dienstag: Morgens während einer hochrangig besetzten Informationsveranstaltung zum bevorstehenden Weihnachtsgeschäft äußerte sich der IT-Chef zufrieden mit der Stabilität der Systeme. Wenige Stunden später trat eine umfangreiche Störung ein, die bis zu meinem Arbeitsende nicht behoben war und zu deren Behebung ich auch nichts beitragen konnte. Vielleicht hätte er besser nichts gesagt.

Mittwoch: Die IT-Störung konnte bereits gestern Abend behoben werden. Nach bisherigen Erkenntnissen sind keine Menschen zu Schaden gekommen.

Im Anschluss an den Werktag war ich letztmals zur Physiotherapie wegen Rücken. Das hintere Zwicken ist nicht ganz behoben, immerhin nur noch in einem Maße zu spüren, das ich als altersgerechte Begleiterscheinung zu akzeptieren bereit bin. Vielleicht habe ich mich auch einfach daran gewöhnt. Was will man machen, besser wird es voraussichtlich nicht.

Abends besuchte ich die Lesebühne in einer nahegelegenen Kneipe. Beim nächsten Mal, das zugleich das letzte Mal ist, da die Kneipe Ende des Jahres schließt, darf ich dort auch was lesen. Darauf freue ich mich.

Donnerstag: Morgens auf dem Fußweg ins Werk sah ich einen Silberstreif am Horizont. Ansonsten freute ich mich mittags über roten Wackelpudding zum Dessert und ganztägig auf das bevorstehende lange Wochenende. Viel mehr Berichtenswertes bot der Tag nicht, muss ja auch nicht.

Silberstreif am Horizont (Pfeil)

Vielleicht noch das: Aus hier nicht näher darzulegenden Gründen empfiehlt es sich, beim Kauf von Erdbeermilch die Augen aufzuhalten. Wie schnell labt man sich an Erdbeer-Limes und wundert sich zunächst ob unerwarteter Schärfe, später ungeplanter Lustigkeit.

Freitag: Bei aller Skepsis gegenüber der Katholischen Kirche und überhaupt Religionen jedweden Glaubensbekenntnisses, die Sache mit den arbeitsfreien Feiertagen auch für Anders- und Ungläubige finde ich immer wieder gut geregelt, dafür auch mal dankbar sein, nicht immer nur kritisieren. Heute also Allerheiligen, warum auch nicht.

Als morgens die Vorhänge des Schlafzimmers aufgezogen wurden, zeigte sich der Tag novemberlich trüb, als nehme die Meteorologie irgendeine Rücksicht auf den Kalender. Ich mag den November. „Die Bestattungsbranche wächst“ wird im Radio gemeldet, während ich noch im Bett liege. Gestorben wird immer, nicht nur im November, wenigstens darauf kann man sich verlassen in diesen Zeiten.

Samstag: Offenbar bin ich nachts nur knapp einem feigen Anschlag entgangen. Nach dem Aufstehen fand sich an meiner Liegestelle, wo ich mich zuvor behaglich im Tuche gewälzt hatte, eine ausgewachsene Stecknadel. Das hätte ins Auge oder vielmehr andere Körperteile gehen können.

In der Zeitung lese ich von der Gruppe „Liste undogmatischer Student*innen“ und muss etwas grinsen. Ebenso über das Wort „Wirkungstrinken“ in einem anderen Artikel über Alkoholverzehr in der Tierwelt, für das ich Verwendung in meinem Wortschatz sehe.

Die erste Verwendungsgelegenheit ergab sich bereits am Abend beim Ordensfest der Karnevalsgesellschaft, wo die neue Session begrüßt wurde. Die Uniform passt noch, jedenfalls meine, was nicht selbstverständlich ist. Schon mancher wunderte sich, wenn Hosenbund und Weste nach mehrmonatiger Nichtnutzung eingelaufen sind.

Sonntag: Manchmal wirkt das Wirkungstrinken etwas nach bis in den Folgetag hinein. Zur Linderung haben sich längere Spaziergänge bewährt. Heute erweiterte ich das übliche Spazierrevier um einen Gang durch Poppelsdorf und das Melbtal bis nach Ippendorf, zurück mit dem Bus. Immer wieder erstaunlich, welch idyllische Wege es nur eine Gehstunde von der Haustür entfernt gibt, die mir bislang unbekannt waren.

Melbtal I
Melbtal II

Laut einer Umfrage glauben fast dreißig Prozent an Spuk und Geister in der eigenen Wohnung, steht in der Sonntagszeitung. Vielleicht haben die auch schon Stecknadeln oder Schlimmeres im Bett vorgefunden, oder die Hose ist auf unerklärliche Weise eingelaufen.

Die allgemeine Sprachverdummung schreitet voran

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Kommen Sie gut durch die Woche.

Über Schweißfußhass und Präsidentenüberdachung

Wie vergangene Woche vage angedeutet, bin ich mir nicht zu schade, einem weiteren Buchstaben ein paar Minuten Aufmerksamkeit zu opfern: dem ß. Wobei fraglich erscheint, ob es sich bei dem betrachteten Schriftzeichen überhaupt um einen vollwertigen Buchstaben handelt, verfügt es doch über keinen eigenen klangvollen Namen wie das H oder T, und auf der Computertastatur muss es sich oberhalb der Vollwert-Buchstaben eine Taste mit dem Fragezeichen teilen. Je nach Geschmack und Gewohnheit wird es bezeichnet als scharfes Es oder Eszett, dabei sieht es eher einem B ähnlich oder dem griechischen Beta. Das erklärt sich aus der Frakturschrift:

fraktur-s

Möge niemand behaupten, hier lerne er nichts.

Bis vor einigen Jahren war das ß nur als Kleinbuchstabe gebräuchlich, mittlerweile ist seine Nutzung auch als Großbuchstabe zulässig, was sich jedoch anscheinend noch nicht herumgesprochen hat, denn vielfach ist stattdessen immer noch das gedoppelte S gebräuchlich, also zum Beispiel STRASSE statt STRAßE. Das mag angesichts des noch ungewohnten Bildes verzeihlich sein. Unverzeihlich erscheint jedoch das Unvermögen vieler Schreibender, das ß bei gewöhnlicher Schreibung mit Kleinbuchstaben korrekt zu verwenden, also Straße statt Strasse. Dabei ist es seit der viel beschimpften Rechtschreibreform wirklich sehr einfach: Nach einem langen Vokal oder Zusammensetzungen wie ei und au steht ß, nach einem kurzen Vokal ss, denken Sie an den Schweißfußhasser. Dass hierüber schon lange vor der Rechtschreibreform Unsicherheit bestand, veranschaulicht ein Rundgang durch die Bonner Innere Nordstadt.

breite-strasse-1

wolfstrasse-1

heerstrase-1

Dennoch schlage ich vor, es den Schweizern gleichzutun und das ß zugunsten von ss abzuschaffen, die Schatulle des deutschen Wortschatzes wird hierdurch keine Inhaltsschmälerung erleiden, stattdessen erhält das eine oder andere Juwel lediglich einen neuen Schliff. Zumindest wird unsere Sprache dadurch nicht schlimmer verstümmelt als durch die fortschreitende Ersetzung von Sinn ergeben durch Sinn machen. Bei der Gelegenheit plädiere ich auch gleich für die Abschaffung von dass, dessen korrekten Gebrauch in Abgrenzung von das auch immer weniger Menschen zu beherrschen scheinen. Dass ein Wort für beide Verwendungszwecke ausreicht, ist im Englischen mit that längst hinreichend bewiesen, also nur Mut, liebe Sprachwächter.

„Aber so denken Sie doch an die Eindeutigkeit“, höre ich bereits die Kritiker schreien und ihr beliebtes Beispiel aufsagen, wonach es ein großer Unterschied sei, ob Bier in Maßen oder Massen konsumiert wird. Dem entgegne ich: Das ergibt sich aus dem Zusammenhang beziehungsweise der Aussprache. So wie bei jemandem, der Montage gerne mag: Entweder ist er ein Freund des Wochenbeginns, oder er bevorzugt es gegenüber einer Schreibtischtätigkeit, an wechselnden Einsatzorten Windräder, Brücken oder Paketverteilanlagen zusammenzuschrauben. Dennoch rief bislang niemand danach, im zweiten Falle das g, welches dort ja mehr wie sch ausgesprochen wird, besonders zu kennzeichnen, etwa durch ein kleines Spitzdächlein darüber wie bei Erdoĝan.

Nein, das ist eine schlechte Idee, dann würde der Präsident ja Erdoschan ausgesprochen, stattdessen verschwindet das g klanglich unter dem Dach wie hinter einer Schallschutzwand, jedenfalls sofern die Nachrichtensprecher das korrekt aussprechen. Der auswärtige Schrauber wäre also auf Monta’e statt –asche. Das dürfte schwer durchsetzbar sein und eine ernstzunehmende Gefahr für das Abendland darstellen. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob das g durch das kleine Spitzdach wirklich verstummt. So lauschte ich kürzlich einem Interview mit einem deutschsprechenden türkischen Staatsbürger, und der sprach das g bei Erwähnung seines Herrschers konsequent aus. Und falls das Dach das darunter liegende tatsächlich verstummen ließe, wäre dann die Überdachung des kompletten Präsidenten nicht eine gute Idee?

Ich schweife ab. Zur Wahrung der Eindeutigkeit könnte ich mich allenfalls damit anfreunden, nach einem langen Vokal ein einfaches s zu schreiben. Strase und Schweisfus bedürfen zunächst ein wenig der Gewöhnung, aber schon bald wird niemand mehr daran Anstos nehmen.

Apropos abschaffen: Ich bekenne, kein glühender Verehrer des türkischen Präsidenten zu sein. Doch eines halte ich ihm zugute: die Abschaffung der unsäglichen jährlichen Zeitumstellung von Winter- auf Sommerzeit und wieder zurück. Dafür gebührt ihm auf seiner nach unten offenen Sypathieskala ein dicker Pluspunkt. Mit einfachem s.

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Nachtrag 4.11.2016:
Wie ich erst heute bemerkte, ist in obigem Aufsatz das g des türkischen Präsidenten falsch herum überdacht; korrekt ist es so: ğ. Nun gut, dann ist es eben ein Bahnsteigdach.