Woche 21/2023: Ankunft in Andernach, verliebt in München und eine Evakuierung

Montag: „Alle Schnittstellen sind shiny„, hieß es in einer Besprechung mit vielen durcheinander redenden Teilnehmern, zu der ich offenbar versehentlich eingeladen war und inhaltlich nichts beitragen konnte. Ebenso glanzvoll dieser Satz in einer Mail, die mich in tiefe Ratlosigkeit versetzt: »Das Artifactory ersetzt mit dem Sundown des LCM TeamForge die Fachfunktion eines Binär-Repositories und kann bereits für neue Repositories angefragt werden.« Klingt beruhigend, auch wenn ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, was er bedeutet. Weiß der Himmel, wie ich in diesen Mailverteiler geraten bin.

Es ist warm. In Büros und Kantine akuter Halbarmhemdenalarm.

Der Rückspiegel an meinem Fahrrad ist längst keine Ausnahmeerscheinung mehr, man sieht sie immer häufiger. Meistens an den Rädern älterer Herren. – Ach ja, richtig.

Warum wünscht man sich gegen Ende des Arbeitstages eigentlich einen „schönen Feierabend“ statt einfach einen „schönen Abend“? Diese Frage warf meine liebe Flurkollegin am Nachmittag auf, womit sie recht hat. Nur wenige werden nach des Wertages Mühen ein Fest aufsuchen, jedenfalls nicht zwischen Montag und Donnerstag.

Dienstag: Bei zunächst kühl-zugigem Wetter reiste ich nach München, um dort Frau Kraulquappe zu treffen. Nach Jahren intensiven schriftlichen Austausches waren wir beide der Meinung, es sei an der Zeit für ein persönliches Kennenlernen.

Die Bahnfahrt verlief zufriedenstellend, wegen eines defekten Stellwerks erfolgte die Abfahrt mit zwölf Minuten Verspätung, was für eine Stellwerksstörung geradezu ein Fliegenschiss im schienengebundenen Raum-Zeit-Gefüge ist. Einzig Wagen fünf, für den meine Reservierung gebucht war, fehlte ohne weitere Information im Zugverband, doch fand ich, da der Zug nur mäßig belegt war, einen Fensterplatz mit Blick nach draußen (so wichtig und nicht selbstverständlich, siehe unten) im Wagen sechs. Hier bestand nur die Gefahr, vom Platz verscheucht zu werden, da die Reservierungsanzeige im Wagen nicht funktionierte.

Bei Ankunft in Andernach dachte ich: »Ankunft in Andernach«, das wäre ein schöner Romantitel. Wenn jemand dazu eine Idee hat, bedienen Sie sich.

Während der Fahrt hörte ich eine seit Jahren nicht mehr vernommenen Mobiltelefonmelodie, Didl düdü, didl düdü, didl düdüdüü, wer verwendete den damals, Nokia? So lange ist das noch gar nicht her, und doch schon so weit weg. Oder kann man sich die inzwischen als nostalgischen Signalton auf das aktuelle Datengerät laden, wie das Schrillen einer Schelle aus Bundespost-Zeiten?

Ich kam mit immer noch zehn Minuten Verspätung unverscheucht in München an, wo mich milder Sonnenschein, Frau Kraulquappe und Dackeldame Pippa sehr herzlich empfingen. Spätestens beim ersten Bier im Biergarten entwickelte sich die Herzlichkeit zu Sympathie, die so weit ging, dass ich aus eigenem Antrieb ein Selfie von uns fertigte, was für mich, der Selfies grundsätzlich dämlich findet, bemerkenswert ist und sich mangels Übung als gar nicht so einfach erwies.

Ausdruck von Lebensfreude auf bayrisch (rechts) und ostwestfälisch

Mittwoch: Vormittags erkundete ich die nähere Umgebung zunächst unbegleitet durch Frau K. und Fräulein P., kam dabei vom vorgeschlagenen Wege ab, verlor vor Gehfreude ein wenig das Raum-Zeit-Gefühl und traf mit leichter Verspätung am vereinbarten Treffpunkt ein.

Idyll am Westermühlbach
Auch ganz reizend

Mittags brachen wir auf zu einem Ausflug zum Kloster Andechs, wo wir uns stärkten mit Schweinsbraten und dem berühmten örtlich gebrauten Bier, das ganze eingerahmt in eine Wanderung durch oberbayerische Fluren und sehr angenehme Gespräche.

Fräulein P. weist den Weg
Auf dem Rückweg

Danach erhielt ich Gelegenheit für einen Blick über den Starnberger See, wiederum verbunden mit einer kurzen Einkehr.

Anleger in Berg
Kleinblogger in Berg, aber das sehen Sie ja selbst (Foto: Frau Kraulquappe)

Später beim Abendessen besprachen Frau K. und ich unser gemeinsames Blogvorhaben, wovon Sie demnächst mehr lesen werden.

Wort des Tages: Postbelastungsschmerz. Kenne ich, ab und an.

Donnerstag: Vormittags zeigte mir Frau K. die Schönheit des Nymphenburg-Viertels, mit anschließender (alkoholfreier) Einkehr in einem Café. Nach allem, was ich in den vergangenen Tagen von München gesehen habe, bemerke ich, mich ein wenig in diese Stadt verliebt zu haben. Zum Abschied mittags beschlossen wir, derartige Treffen zu wiederholen. Herzlichen Dank an Frau Kraulquappe für das Besuchsprogramm und die ausgezeichnete Betreuung, und an Fräulein Pippa für die geteilte Aufmerksamkeit! Der imaginäre Bewertungsbogen erhält in allen Kategorien fünf Sterne.

Schlossgartenkanal

Die Rückfahrt mit der Bahn gestaltete sich besonders abenteuerlich. Da der von mir gebuchte EC mit etwa einer Stunde Verspätung abfahren sollte, wegen „Reparatur am Zug“, stieg ich in einen vorher fahrenden ICE, der pünktlich den Münchener Hauptbahnhof verließ. Vor Neu-Ulm wurde er langsamer, dann blieb er auf freier Strecke stehen. Kurz darauf ertönte das Piepen des Unheils, das Sie vielleicht kennen, wenn Sie öfter Bahn fahren: drei aufeinander folgende Pfeiftöne, der mittlere eine Terz höher als die äußeren; dann ist selten etwas Gutes zu erwarten. Als Grund des außerplanmäßigen Haltes wurde zuerst Strommangel genannt, angeblich stand nicht mehr genügend Elektrizität für eine Weiterfahrt zur Verfügung, das war mir als Begründung neu. Wie sich wenig später herausstellte, hatte kurz zuvor ein Regionalexpress die Oberleitung beschädigt, dadurch war der Streckenabschnitt stromlos. Es gab also genug Strom, nur nicht hier. Bis wann der Schaden behoben wäre, wusste man nicht. Nach und nach fielen die Systeme im Zug aus: die Klimaanlage (zum Glück war es nicht heiß), die Beleuchtung, die Anzeigebildschirme. Immerhin funktionierten noch die Lautsprecherdurchsagen und, wichtig, die Toiletten.

Gut eine Stunde später die Durchsage: Unser Zug kann nicht weiterfahren und wird evakuiert. Da die Stromversorgung des Gegengleises nebenan inzwischen wieder hergestellt werden konnte, sollte bald ein anderer Zug neben uns halten, in den wir hinüber wechseln sollten. Und also kam es, wir stiegen über einen schwankenden Steg in den rettenden Nebenzug, der uns gut zweieinhalb Stunden nach dem unheilverkündenden Piepen bis Stuttgart brachte. Dort fuhr eine halbe Stunde später ein Intercity nach Bonn ab, in dem ich bei Verfassen dieser Zeilen gerade sitze. Wenn jetzt nichts mehr passiert, bin ich gegen elf zu Hause. Das war es wert und es schmälert die Freude über das Treffen mit Frau K. ganz und gar nicht. Gleichwohl ein Eintrag in der Liste der Dinge, die man nicht unbedingt erlebt haben muss.

„Fensterplatz“

Auffallend gut war die Stimmung im stehenden Zug, bis zum Schluss wurde gescherzt und gelacht. Im aufnehmenden Zug hingegen meinten wieder einige, den Sitz neben sich mit Handtasche oder Rucksack belegen zu müssen, auf dass sich ja keiner daneben setzte, obwohl vorher ausdrücklich darum gebeten worden war, wegen des beschränkten Platzangebotes sein Gepäck zu verstauen. Ich rege mich nicht auf, ich bemerke nur.

Loben möchte ich ausdrücklich den Zugchef Herrn König, der uns im Rahmen seines jeweils aktuellen Kenntnisstands während der ganzen Zeit über Lautsprecher informierte und Hintergründe erläuterte (zum Beispiel warum es nur eine Übergangsbrücke gab, Grund: Auch die Bahn hat Personalmangel), stets in ruhigem, fast unterhaltendem Ton. »STEHTS BEMÜHT« hat hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof jemand an eine Mauer gesprüht. Dem ist nichts hinzuzufügen.

In Wiesloch-Walldorf ist übrigens der Ausstieg rechts, falls Sie da mal rausmüssen.

Freitag: Nach etwa neuneinhalb Stunden Bahnreise kam ich gestern Abend gegen elf zu Hause an. Immerhin, zu Fuß oder mit dem Fahrrad wäre das nicht zu schaffen gewesen, auch hier vor allem das Positive sehen.

Zu Fuß ging ich heute auch außer der Reihe ins Werk, weil ich direkt im Anschluss einen Friseurintermin hatte – Sie sehen, auch ich kann geschlechtergerecht, aber warum sollte ich „Friseurtermin“ schreiben, wenn mich nun mal eine Friseurin frisiert – wo war ich, ach ja: zu Fuß, weil man vor dem Salon das Fahrrad nur schlecht abstellen kann.

Dieses Motiv hatten wir diese Woche noch nicht

Der Arbeitstag lief ganz gut, zu meiner Freude war das Nachzuholende der letzten drei Tage bereits am frühen Nachmittag nachgeholt. Das bleibt bitte unter uns, nicht dass jemand an höherer Stelle daraus falsche Schlüsse bezüglich meiner Arbeitsauslastung zieht.

Samstag: Wie die Radionachrichten morgens melden, sind die Menschen in NRW heute aufgerufen, Funklöcher über eine App zu melden. Wie soll das gehen? Nimmt man da nicht besser Postkarten?

Nach dem Frühstück, also deutlich nach Mittag, ging ich für einige Be- und Entsorgungen durch die Stadt und erfreute mich an den optischen wie aromatischen Reizen des Kurze-Hosen-und-Draußenriesling-Wetters.

In der Zeitung eine Besprechung des Buches »Die Welt ist laut – Eine Geschichte des Lärms« von Kai-Ove Kessler, das, wie der Titel nahelegt, von Menschen verursachte Störgeräusche betrachtet und das ich auf die Liste der zu beschaffenden Bücher gesetzt habe. Während ich auf dem Balkon sitze und diese Zeilen tippe, wird in der Nachbarschaft mit stundenlanger Ausdauer etwas maschinell beschliffen, über der Inneren Nordstadt liegt ein andauerndes Raunen und Grölen, weil wohl irgendein wichtiges Fußballspiel stattfindet, und in der Nähe lässt ein PS-Poseräffchen seinen Automotor knallend pupsen. So fügt es sich wieder mal.

Pupsen musste auch Herr Wittkamp, und zwar im Fahrstuhl. Bei ihm las ich erstmals das Wort „Omnivor“ und weiß nach anschließender Recherche, dass ich selbst einer bin, also ein Allesfresser. Außer Gorgonzola und Koriander. Das galt lange Zeit auch für Oliven und Kümmel, inzwischen mag ich beides ganz gerne, so ändern sich Geschmäcker.

Sonntag: Ein ruhiger und warmer Pfingstsonntag, der sich für den eher Ungläubigen von einem gewöhnlichen Sonntag vor allem dadurch unterscheidet, dass die ab dem Nachmittag einsetzende Vorfreude auf die kommende Arbeitswoche noch einen Tag auf sich warten lässt.

Zu den sonntäglichen Pflichten, auch zu Pfingsten, gehört der Spaziergang, der heute wieder auf die andere Rheinseite führte, wo die Leute vor einem eingezäunten Areal am Beueler Rheinufer Schlange stehen und Eintritt zahlen, um über ein Fressbudenfest zu schlendern. Da ich für so etwas ungern warte und zahle, außerdem das Wort „schlendern“ gar fürchterlich finde, ging ich weiter meines Weges.

Auen vor Schwarzrheindorf

Am Straßenrand ein nicht mehr ganz neues Auto mit einem Zettel unter dem Scheibenwischer: »Habe meinen Schlüssel verloren. Kümmere mich um eine Lösung, versprochen.« Stehts bemüht.

Weniger optimistisch dagegen eine angeklebte Laternenpfahlbotschaft von Extinction Rebellion: »WIR SIND AM ARSCH«. Das ist vielleicht von der Ausdrucksweise her etwas rustikal, inhaltlich indes korrekt.

Gelesen bei Frau Kaltmamsell und für richtig befunden: „Später Tagesschau hinterhergeguckt: Acht von 15 Minuten über deutschen Männerbundesliga-Fußball. Das halte ich für sehr falsch: Menschen, die sich für dieses Thema interessieren, haben sicher genügend andere, auch öffentlich-rechtliche Quellen dafür.“

***

Kommen Sie gut durch die Viertagewoche, bleiben Sie optimistisch.

Wir sollten nicht länger Sie sagen

Am Anfang war das Du. Mit dem Privileg kleiner Kinder duzten wir bis etwa fünf alle Menschen, von Nachbarn über die Kindergärtnerin bis hin zum Bundespräsidenten, sofern er sich zufällig in unserer Umgebung aufhielt. Das änderte sich erst mit Erreichen des Schulalters, nun musste das Kind lernen, dass Erwachsene, sofern nicht dem Familienkreis zugehörig, insbesondere Lehrer, mit „Sie“ anzusprechen sind, was insofern ungerecht anmutete, als dass die derart angesprochenen das Kind selbstverständlich weiterhin duzten.

Bis zur Oberstufe: Plötzlich siezte der Lehrkörper zurück. Mit besonders verstörender Konsequenz ging dabei Frau K vor, unsere Lateinlehrerin. Bis zum Ende der zehnten Klasse duzte sie uns, dann, nach den Sommerferien, ging sie sprachlich auf Distanz, wovon sie sich auch auf Nachfrage und dem Angebot unsererseits, die bisherige Anrede beizubehalten, nicht abbringen ließ. Ansonsten war Frau K aber ganz in Ordnung, streng und gerecht.

Auch im Posaunenchor, in dem ich seit dem Konfirmandenalter blies (so sagte man damals und sagt es vermutlich noch heute), war es selbstverständlich, dass wir Jungen die Alten siezten und sie uns duzten, und ich sah keinen Anlass, dies zu hinterfragen oder gar dagegen aufzubegehren, warum auch. Diesen Umstand adoleszenter Asymmetrie nahm ich bis etwa achtzehn unwidersprochenen mit derselben Selbstverständlich hin wie den Wechsel der Gezeiten im Nordsee-Urlaub oder meine krummen Füße. Dann geschah etwas Unerwartetes: Der Vater eines mir in etwa gleichaltrigen Bläserfreundes trat dem Posaunenchor bei. Mit dem gewohnten „Herr Schröder*“ angesprochen, antwortete er: „Ich heiße Werner*, du kannst ruhig du zu mir sagen.“ Auf geradezu revolutionäre Weise öffnete er mir die Augen: Warum musste ich, der mittlerweile zum Führen eines Kraftfahrzeugs und zur Bundestagswahl berechtigt war, immer noch die Alten siezen, während sie mich wie einen Schuljungen ansprachen? Doch es dauerte nicht sehr lange, einer nach dem anderen Alten starb entweder oder folgte Werner Schröders Beispiel und bot uns jungen das Du an. Der Bläserfrieden war wieder hergestellt.

Nach dem Abitur, während der Ausbildung, nahm ich es noch hin, wenn mich die älteren Kollegen duzten, während ich vorsichts- oder anstandshalber beim Sie blieb, es sein denn, sie boten das Du ausdrücklich an. Nach der Ausbildung duzte ich konsequent zurück, auch die Kollegen, die ich zuvor noch gesiezt hatte. Niemand beschwerte sich darüber.

Manchmal fühlt sich das Sie falsch an, vielleicht weil man jemanden schon sehr lange kennt und nur noch keiner den Anfang gemacht hat, wobei es ja viele Abhandlungen darüber gibt, wer das Du anbieten darf: der Ältere? Der in der Hierarchie „höher“ stehende? Der mit der längeren Firmenzugehörigkeit? Der mit dem größeren Auto oder was auch immer? Hierdurch kommt es manchmal zu merkwürdig-umwegigen Formulierungen, etwa „Welches Urlaubsziel beabsichtigt man aufzusuchen?“ anstatt „Wohin fährst du / fahren Sie in den Urlaub?“. Mein alter Kollege Günther K, der jahrelang im Postamt Heepen hinter dem Schalter saß und die meisten Kunden kannte, bediente sich deshalb der meines Wissens ostwestfälischen Anredeform des „Ihrzens“, etwa so: „Habt ihr euren Ausweis dabei?“ oder „Hier müsst ihr noch unterschreiben.“

Schwierig wird es, wenn man nach jahrelangem Sie auf Du übergeht. Entweder siezt man erstmal versehentlich weiter („Ach nein, wir sind ja jetzt beim Du, ha ha, also: Kommst DU mit in die Kantine?“), oder man bedient sich vorläufig oben genannter Ausweichformulierungen, so lange, bis man sich endlich an die neue Anredeform gewöhnt hat und es sich nicht mehr falsch oder zumindest ungewohnt anfühlt.

Manche Menschen möchte man gar nicht duzen, und das muss keine Frage der Sympathie sein. Mit Herrn L, meinem früheren jahrelangen Chef, pflegte ich ein sehr gutes Verhältnis, und doch blieb er mit allen Mitarbeitern seiner Abteilung stets sprachlich auf Distanz, was völlig in Ordnung war. Käme er heute auf die Idee, mir das Du anzubieten, so wäre das sehr irritierend und es würde lange dauern, bis ich davon Gebrauch machte.

Was für Menschen gilt, gilt erst recht für Firmen. So nehmen sich IKEA, Apple und einige andere seit Jahren das Recht heraus, ihre Kunden, also auch mich, großflächig zu duzen, obwohl ich es ihnen nie angeboten habe und mich auch nicht veranlasst sehe, es jemals zu tun, weil es sich so falsch anfühlt wie nur etwas falsch sein kann, auch wenn es in Schweden und Amerika diesen feinen Unterschied nicht geben mag.

Eine Sonderform davon ist das Gewerkschafts-Du. Ich halte Gewerkschaften für gut und richtig, und auch wenn ich nicht gerade ein Aktivist bin, gehöre ich seit Jahren einer an. Das einzige was mich stört, ist die Anrede „Lieber Kollege K“ und das Geduze in ihren Schreiben, wenn sie zur nächsten Versammlung des Ortsverbandes einladen (wo ich nie hingehe) oder über die erzielten Ergebnisse der letzten Tarifverhandlungen informieren.

Eine weitere Sonderform ist das Seminar-Du, welches für die Dauer der Veranstaltung Vertraulichkeit vorgibt, sich meistens jedoch im anschließenden Alltag der täglichen Geschäfte wieder in Sie auflöst. Es sei denn, man arbeitet in Firmen wie dem Otto-Konzern, wo hierarchieübergreifendes Du seit einiger Zeit von oben angeordnet ist. Ob man das gut oder schlecht findet, mag jeder für sich entscheiden. Mir käme ein „Hallo Jürgen“ jedenfalls nur sehr schwer über die Lippen, wenn ich meinen Vorstand im Aufzug treffe. Was sollte er darauf auch antworten, da er meinen Namen mit einigermaßen hoher Wahrscheinlichkeit nicht kennt, was mir nicht nachteilig erscheint.

Inzwischen reicher an Jahren, kann ein unvereinbartes Du jedoch durchaus schmeichelhafte Wirkung in mir entfalten, nämlich dann, wenn es von der wesentlich jüngeren Bedienung in der Kneipe oder der jungen Kassenkraft bei H & M kommt. Danach fühle ich mich gleich ein paar Jahre jünger.

Gar nicht so einfach war übrigens der Wechsel in die vertrauliche Anredeform mit einem Kollegen aus der Marketingabteilung vor einigen Jahren. Wir arbeiteten schon lange und gut zusammen, unser persönliches Verhältnis war vom Lichte gegenseitiger respektvoller Sympathie beschienen. Er war etwas jünger als ich, daher war es an mir, den ersten Schritt zu tun. Das Problem: Der Kollege war Chinese und sein Nachname lautete Du**. Was also sollte ich sagen? „Wollen wir nicht Du sagen?“ ging ja schlecht, wollte ich nicht die Antwort „Ja was denn sonst?“ riskieren. Mit der etwas ungelenken Formulierung „Wir sollten nicht länger Sie sagen“ fanden wir dann aber doch noch zueinander. Kurz danach ging er zurück nach China, einen Zusammenhang schließe ich indes aus. Ab welchem Alter chinesische Kinder ihren Bundespräsidenten siezen, entzieht sich meiner Kenntnis.

Übrigens (oder by the way, wie eine ansonsten sehr geschätzte Freundin hier sagen würde): Ich werde Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier weiter siezen, das gebietet der Anstand. Wir kennen uns ja kaum.

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* (Name geändert)

** (Name nicht geändert)