Am vergangenen Samstag besuchte ich meine Eltern in Bielefeld. Bei der Gelegenheit übergab mir meine Mutter einen dicken Umschlag mit der Aufschrift „Schule“. Dieser enthielt jedoch mehr als ein paar alte Zeugnisse, nämlich unter anderem auch die Abiturrede unseres Jahrganges, die ich geschrieben und auf der Abschlussfeier vor Mitschülern, Eltern und Lehrern vorzutragen die Ehre und das Vergnügen hatte. Jahrelang wähnte ich sie verschollen, jetzt ist sie wieder da!
Ladies and Gentlemen, Stancerblog proudly presents die Abiturrede des Jahrgangs 1986 des Gymnasiums Heepen zu Bielefeld. Viel Vergnügen!
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Liebe Mitschüler, liebe Eltern, verehrte Lehrer!
Wir alle sind hier und heute versammelt, um Abschied zu feiern. Ja, nun ist es auch für uns so weit: Wir, die Schüler des Abiturjahrganges 1986, verabschieden uns nach 13 (oder auch mehr) Jahren von der Institution, die uns auf den Ernst des Lebens vorbereiten sollte. Für den einen mag das sehr erfreulich sein, für den anderen weniger. Ich selbst zähle mich zu zweiteren, denn ich finde es schade, daß für mich die Schulzeit nun vorbei ist.
Ich erinnere mich noch recht gut an den Tag, als ich vor neun Jahren hierherkam. Mein erster Eindruck war ein grauer Betonklotz, aus dessen Fenster viele neugierige Köpfe schauten, um die Neuankömmlinge zu begutachten. Nach der Begrüßungsrede des Herrn Dr. Döpelheuer wurden wir auf unsere Klassen verteilt und mußten uns erst einmal an die neue Situation gewöhnen. Neu war vor allem, daß es Mitschüler gab, die doppelt so groß waren wie wir und sehr erwachsen aussahen. Wenn ich dagegen uns heute so betrachte Wir hatten damals noch Respekt vor Schülern der Oberstufe! Wir hätten es nie gewagt, so einen großen Bärtigen schief anzureden. Und wie ist das heute? Kein Funken Respekt wird uns heute noch von den Kleinen entgegengebracht! Tja, sic transit gloria mundi, was frei übersetzt so viel heißt wie so schwindet das Ansehen des Oberprimaners dahin.
Natürlich gab es auch neue Dinge innerhalb der Klasse. Zu Beginn der Stunde mußten wir aufstehen, wenn der Lehrkörper des Raum betrat. Hier auf dem Gymnasium wehte ein anderer Wind als auf der Grundschule; hier mußte man schon etwas tun für gute Zensuren. Natürlich kamen auch die außer-unterrichtlichen Beschäftigungen nicht zu kurz. Wir machten teilweise einen Mist von ungeahnter Vielfalt, sei es, daß wir arme Mitschüler in den Klassenschrank sperrten, aus dem sie sich erst mitten in der Stunde befreien konnten, was bei dem Lehrer auf gewisses Unverständnis stieß und mit einer Rüge geahndet wurde, oder daß wir zuförderst *1 besserer Kommunikation Steine aus der Wand zur Nachbarklasse pulten. Rüge, das war das magische Wort, vor dem anfangs alle erzitterten, das aber direkt proportional zur Jahrgangsstufe an Bedeutung verlor, ja selbst der größere Bruder, der Tadel, konnte später nur noch ein müdes Grinsen hervorrufen. In unserer Klasse war es fast ein Sport, Eintragungen zu sammeln; so belief sich die Anzahl der Eintragungen, ich glaube es war in der 8c, auf über 100.
Dann kam sie, die Oberstufe. Wieder mußten wir uns umstellen: Mit der Klassengemeinschaft war es plötzlich aus, und die Kurse, die in Neun und Zehn nur als willkommene Abwechslung angesehen wurden, wurden plötzlich ernst. Das schlimmste war für mich die Tatsache, daß ich nun für den Sport extra nachmittags noch einmal erscheinen mußte. Es ist doch wirklich ein Hohn! Jedes Fach, sogar Mathe, kann man irgendwann abwählen, nur Sport muß man fast bis zum bitteren Ende behalten. Daran ist nur das System schuld! *2
Ich konnte mich nie daran gewöhnen, nun plötzlich von einigen meiner Lehrer gesiezt zu werden, vor allem dann nicht, wenn mich die Lehrerin oder der Lehrer noch vor wenigen Wochen geduzt hat. Bin ich denn innerhalb so kurzer Zeit um so vieles erwachsener geworden?
Aber die Oberstufe brachte auch Privilegien mit sich, die uns vorher nicht zuteil wurden. So durften wir jetzt in Pausen offiziell das Schulgelände verlassen (schließlich hat man mit 16 die nötige Reife zum Überqueren einer Straße erlangt), ohne später verhört zu werden, was natürlich viele in der Neun und Zehn nicht abhielt, mal eben zum Bäcker zu gehen. Wir durften, was anfangs noch mit Rügen geahndet wurde, in den Pausen im Klassenraum bleiben, sofern wir der Aufsicht führenden Person unsere Oberstufenangehörigkeit klarmachen konnten. Und schließlich durften die Raucher unter uns ihren Gelüsten freien Lauf lassen, natürlich nur in der Raucherecke *3, wer nicht hören will, muß fegen! Da sich nur wenige daran hielten, wurde die Raucherecke kurzerhand dorthin verlegt, wo sich die Raucher ohnehin am liebsten aufhielten. Schließlich ist die Schule für den Schüler da und nicht umgekehrt.
Wie gesagt war es wieder eine große Umstellung von dem Klassenverband auf das Kurssystem. Doch daran hatte man sich nach einiger Zeit gewöhnt, und immerhin lernte man neue Leute kennen, deren Existenz man vorher nicht mal geahnt hatte. Und die verlorene Klassengemeinschaft hatte spätestens in der Zwölf einer Kursgemeinschaft Platz gemacht, die genauso gut war und die durch Kurstreffen und „Studienfahrten“ vielfach noch verstärkt wurde. Dem Klassenlehrer war der Jahrgangsstufenleiter bzw. die Leiterin gefolgt, der an dieser Stelle für ihre Tätigkeit gedankt sei. (Überreichung eines Geschenkes)
Auch unsere Einstellung zur Schule im Allgemeinen und unser Pflichtbewußtsein im Besonderen hatte sich ein wenig gewandelt. So hätten wir es früher nie gewagt, eine Stunde mal eben frei zu nehmen, ohne von einer plötzlichen schweren Krankheit heimgesucht worden zu sein. Schließlich mußte man sich eine solche Stunde von den Eltern in Form einer Entschuldigung absegnen lassen. Doch jetzt, im Zeitalter der „Benachrichtigung über versäumten Unterricht“, wo man fast nur noch „Zutreffendes durchkreuzen“ muß, wurde es uns recht leicht gemacht, im Rahmen eines Motivationsdefizites in den Genuß einer außerplanmäßigen individuellen Freistunde zu kommen. Natürlich, liebe Lehrer, weiß ich, daß es Ihnen in vielen Fällen völlig klar war, daß der angegebene Versäumnisgrund nicht immer mit der Wahrheit übereinstimmte, man kennt schließlich seine Pappenheimer, aber was sollten Sie machen? So haben Sie dann zähneknirschend Ihr Kürzel auf den Zettel gesetzt, welcher dann meistens den Weg alles irdischen ging, also vernichtet wurde. *4
Auch den Einzug moderner Technik in unsere Schule haben wir miterleben dürfen. Das äußerte sich zum einen darin, daß plötzlich alle Stunden- und Raumbelegungspläne, ja sogar Zeugnisse von einem Computer gedruckt wurden, aber auch darin, daß unsere Pausen durch Brunos Heiligtum, die Getränke- und Joghurtautomaten versüßt wurden. An dieser Stelle möchte ich Herrn Hoffmann grüßen und ihm für seine zuvorkommende Freundlichkeit und ausnehmende Höflichkeit danken, durch welche es uns stets ein Vorbild war. Es sei denn, er hatte schlechte Laune, aber das kann ja mal vorkommen. *5
Ja, das alles ist nun zumindest für uns vorbei. Wir gehen alle unsere Wege, in die Lehre, ins Studium, zur Bundeswehr, oder was weiß ich. Da bleibt mir nur eines zu sagen: Machts gut! Wir hatten zwar viel Streß und Ärger, aber auch sehr viel Spaß hier. Oder nicht?
Doch nun will ich langsam zum Ende meiner Ausführungen kommen, und zwar mit etwas lyrischem. Einigen von Ihnen ist Goethes „Faust“ sicherlich ein Begriff (Uns jedenfalls nicht. Wir bekamen höchstens expressionistische Großstadtgedichte vorgesetzt). Da Goethe sich nicht mehr wehren kann, bitte ich auch Sie, mir das folgende nicht übel zu nehmen.
Vollbracht *6
Habe nun, ach! Philosophie,
Mathe, Deutsch, Latein, Chemie,
Und leider auch Biologie,
Durchaus studiert, begriffen nie.
Da steh ich nun, ich armer Tor,
fühl mich viel klüger als zuvor!
Heiße Primaner, Abiturient gar,
Und ziehe schon an die dreizehn Jahr
Herauf, herab, und quer und krumm
Meine Lehrer an der Nase herum –
Und sehe, daß wir nicht mehr wissen können!
Drum will ich mir jetzt Ruhe gönnen.
Ich bin jetzt gescheiter als all die Laffen
aus längst vergangenen unteren Klassen;
Mich plagen jetzt kein Referat noch Klausur,
Fürchte mich weder vor Schule noch Lehrerfigur –
Dafür ist mir auch aller Streß entrissen,
Bilde mir nicht ein, jetzt noch was zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte jetzt was lernen,
Ich möchte jetzt eins, nämlich feiern nur,
Es ist vollbracht, das Abitur!
– – – – –
*1) Schon damals hatte ich einen Hang zur Verwendung veralteter Wörter. Leider passt „zuförderst“ hier überhaupt nicht: erstens schreibt man es mit v statt f, zweitens bedeutet es „vor allem“, gemeint war aber „zwecks“. Ich hoffe, niemand der Zuhörer merkte es.
*2) Heute bin ich nicht mehr sicher, ob das ironisch gemeint war. Sehr wahrscheinlich ja, meine Neigung zu linken Parolen war nicht besonders ausgeprägt; viel lieber verspottete ich die bärtigen Latzhosenträger, die solche Sätze gebrauchten.
*3) Für die jüngeren Leser: Ja, damals war das Rauchen in dafür vorgesehenen Zonen auf dem Schulhof offiziell erlaubt. Inzwischen ist das Wort Raucherecke genau so ausgestorben wie etwa Kassettenrekorder oder Überspielkabel.
*4) Zum Glück nicht immer. Der Umschlag enthielt auch einige der genannten Formulare, hier eine Auswahl der von mir angegebenen Gründe des Fernbleibens:
– Übelkeit
– Übelkeit mit Erbrechen
– theor. Führerscheinprüfung
– Kopfschmerzen
– starke Erkältung
– Vorstellungsgespräch
– Einstellungstest
– Familienfeier in Göttingen
– Musterung / EVP
– postklausurale Nervenüberbelastung, verbunden mit Motivationsmangel
Und das haben die Lehrer alles abgezeichnet.
*5) Das war, unschwer zu erkennen, Ironie. Bruno H. war der klassische Schulhausmeister: graublauer Kittel und stets unfreundlich gegenüber uns Schülern. Vermutlich hasste er uns. Vielleicht wäre er versöhnlicher gewesen, hätte es damals schon den Begriff Facility Manager gegeben, wer weiß.
*6) Reim dich oder ich fress dich. Sie kennen das von diversen Familienfeiern.