Woche 13: Jeder darf mal einen schlechten Tag haben

Montag: Eisiger, na gut, vielleicht nicht gerade eisig, aber doch ziemlich kühler, also für die Erhaltung meines Wohlbefindens viel zu kalter Gegenwind trübte morgens die Freude an der Fahrradfahrt ins Werk (sofern bei der Fahrt ins Werk an einem Montagmorgen überhaupt so etwas wie Freude aufzukommen vermag). Ab morgen also mit Mützchen und Winterjacke.

„Ich bereite unsere To Dos für das Meeting charttechnisch vor“, lese ich in einer Mail. Er kann einfach nicht anders, ansonsten kommt man gut mit ihm aus.

Meine persönliche Stimmung war heute eher mittelmäßig. Bis mir das am vergangenen Freitag zu etwa drei Viertel aufgegessene Marzipanei einfiel, dessen Rest in der Schreibtischschublade auf Verzehr wartete. Danach hellte die Stimmung etwas auf.

Abends auf der Rückfahrt war der Wind nicht viel weniger kalt, um hier den völlig unangebrachten Begriff „wärmer“ zu vermeiden. Wenigstens war er so freundlich, im Laufe des Tages nicht gedreht zu haben, wodurch ich ihn im Rücken hatte, das hat man ja als Radfahrer ganz gerne.

Dienstag: „Oh Kleinkind, ich liebe deinen Weg jeden Tag“ – aus der Reihe „Liedtexte, die allenfalls auf englisch zu ertragen sind“.

Auf der Rückfahrt vom Werk wurde ich beinahe von einem braunen Paketzustellfahrzeug übergefahren. Ja, er fuhr ziemlich schnell, andererseits fährt man nunmal auch mit dem Fahrrad durch enge Einbahnstraßen mit unübersichtlichen Kurven nicht gegen den Strich.

Hier eine erschütternde Vorschau darauf, was passiert, wenn die Friseure nicht in absehbarer Zeit wieder ihre Tätigkeit aufnehmen dürfen.

Mittwoch: Die wichtigsten Regeln menschlichen Zusammenlebens, nicht nur in Krisenzeiten, lassen sich auf drei einfache Punkte bringen: 1.) Ruhe bewahren, 2.) freundlich bleiben, 3.) Hände waschen. Wobei 4.) zu Hause bleiben auch viele Probleme lösen würde beziehungsweise gar nicht erst aufkommen ließe.

Donnerstag: „Kann es sein, dass da die Flinte im Korn liegt?“, fragt einer. Ja, kann sein.

„Das klären wir auf Arbeitsebene“, sagt ein anderer. Ja wo denn sonst?

Erstmals hörte ich jemanden Naturgeräusche wie etwa Vogelgesang, der unter den gegebenen Umständen zurzeit nicht allzu sehr vom Rauschen der Kraftfahrzeuge übertönt wird, als „Biolärm“ bezeichnen. Fallen menschliche Flatulenzgeräusche auch darunter?

Gespräch beim Abendessen: „Ist das Knochenschinken?“ – „Eifeler Schinken.“ – „Die Eifel ist groß.“ – „Der ist luftgetrocknet.“ – „Ach so.“

Freitag: Jeder darf mal einen schlechten Tag haben. Warum nicht auch ein Architekt.

KW13 - 1

Ansonsten erscheint die Welt hier und da noch immer ganz schön.

KW13 - 1 (1)

KW13 - 1 (2)

Nun hat es also auch Boris Johnson erwischt. „Der Premierminister zeigt nur leichte Symptome“, heißt es. Leicht? Na ich weiß nicht.

Samstag: Aus der Beschreibung eines Weines im General-Anzeiger:

„Die Spuren, die die Herkunft in einem Wein hinterlässt, sind wie die Partitur eines Musikstückes. Sie sind tiefer, komplexer und spannender, als ein Mensch sie erschaffen könnte. Der Winzer muss sie verstehen lernen und sie hegen, damit das Vibrato im Wein zum Klingen gebracht wird. Später, etwa so wie ein Dirigent, kann der Weinmacher seiner Kreativität dann freien Lauf lassen durch die Kunst der Assemblage. […] Das Temperament bringt Mourvèdre ein. Die Rebsorte, die vor allem in Südfrankreich und Spanien zu Hause ist, kann in einem Wein bisweilen wie eine Pauke wirken. […] Das Tannin ist supersanft und seidig und überträgt der Säure die Aufgabe als treibende Kraft. Es ist ein Chorus aus all diesen Facetten, der eine geradezu beruhigende und trostvolle Vorstellung gibt.“

Das mit der Pauke gefällt mir am besten.

In der noch geöffneten Lebensmittelabteilung des Kaufhofs gibt es Oster-Naschwerk zu stark reduzierten Preisen, unter anderem eine Schachtel mit edler Schokolade, deren regulärer Preis von 9,90 Euro um fünfzig Prozent reduziert wurde, weiterhin liegt jeder Packung ein Warengutschein von fünf Euro bei. Mit dem Erwerb macht man also ein rechnerisches Plus von fünf Cent. Doch müssen Sie sich beeilen, da meine beiden Lieblingsmenschen gerade dabei sind, alles aufzukaufen; unsere Wohnung ähnelt bereits einer Lindt-Filiale.

Sonntag: Naturbeobachtungen am Morgen. „Kuck mal, das Rotkehlchen ist wieder da.“ – „Wo soll es denn hin, das darf ja auch nicht weg.“

Fazit am Ende der zweiten Woche im Krisenmodus: Noch ist die Stimmung ganz gut. Vielleicht betrachten wir es einfach als ein gigantisches sozialwissenschaftliches Experiment, an dem wir gerade teilnehmen, wenn auch nicht ganz freiwillig.

KW13 - 1 (3)

Zum Schluss was Schönes, bald ist es wieder so weit:

KW13 - 1 (4)

 

 

Woche 4: Pelzkapuzen, kurze Hosen und andere Wahrnehmungen

Montag: Ein Plakat wirbt in ungelenkem Glückskeksjargon für Präkrastination: „Tu es jetzt! Aus später wird schnell ein Nie“. Dem möchte ich entgegenplakatieren: „Aber bedenke: In der Ruhe liegt die Kraft — vieles erledigt sich von selbst.“

Beim Mittagstisch erzählt der Kollege, er strebe den „Eis-Tauchschein“ an. Allein der Gedanke lässt mich bis in den frühen Nachmittag hinein gänsehäutig bibbern. Auch sein Einwand „Wieso, kälter als vier Grad wird das Wasser nicht“ ist behaglichen Gedanken nicht förderlich.

Bis zum späten Nachmittag ist die Etagen-Kaffeemaschine defekt. Wegen sowas fielen schon Flüge aus, und Züge verkehrten in umgekehrter Wagenreihung!

Dienstag: Es ist kalt, pelzbesetzte Kapuzen prägen das Straßenbild. Dessen ungeachtet kommt mir am Morgen auf der Straße ein junger Mann von passablem Erscheinungsbild entgegen – in kurzer Hose. Heiß und kalt liegen manchmal nahe beieinander. (Es gibt Formulierungen, die einem trotz zeitloser Eleganz nur selten im Alltag begegnen. Vielleicht entsteht ihre Eleganz auch erst durch den seltenen Gebrauch. Zu diesen zählt zweifellos „dessen ungeachtet“.)

Weniger appetitanregend hingegen der Anblick des trüben, grünflockigen Getränks von geringer Drinkability und Instagramability, welches der Kollege während einer Besprechung zu sich nimmt. Als hätte er von den Teichen in den Rheinauen das grüne Zeug abgeschöpft, das sich im Sommer an der Wasseroberfläche bildet.

Mittwoch: Während ich mich müde und mit der üblichen latenten Grundangst ins Werk begebe, geht vor mir ein junger Mann mit einem drollig auf dem Pflaster rappelnden Akten-Rollköfferchen. Von allen Businesskasper-Accessoires ist das wohl das mit Abstand lächerlichste.

Mitschrift aus einer Besprechung zum Thema Kraftfahrzeuge: „Von ARAL zu TOTAL – egal.“ Ein Hauch von Poesie im tristen Büroalltag.

Apropos Büroalltag: Auch Frau Marie mag Businesskasperfloskeln.

Donnerstag: Auf dem Weg ins Werk lese ich in meiner aktuellen Stadtbahnlektüre dieses:

„Besonders peinlich wirkt der Selbstdarstellungsdrang vieler Manager, wenn er sich mit dem Mäntelchen der Imageförderung des Unternehmens tarnt. Das ganze nennt sich dann »Sponsoring« und erinnert stark an das gönnerhafte Mäzenatentum wie dem Renaissancefürsten Lorenzo de Medici oder dem Bayernkönig Ludwig I. Und genauso, wie die absolutistischen Herrscher ihre Untertanen für ihre Liebhabereien bezahlen ließen, so bitten heute die angestellten Mäzene der Großunternehmen ihre Aktionäre und Gesellschafter zur Kasse, um sich im Glanze prominenter Sportler, internationaler Kulturträger oder Wissenschaftler zu sonnen.“ 

(Günter Ogger, „Nieten in Nadelstreifen“ von 1992)

Aus unerfindlichen Gründen denke ich dabei an gelbe Rodelschlitten.

Auf dem Rückweg zur Bahn geht vor mir einer, dessen rechtes Bein ganz leicht nach außen knickt, das andere hingegen ist gerade. Wie nennt man das, „D-Beine“?

„Kriminelle Familienclans außer Kontrolle?“, fragt die Talkshow-Tante Maybrit Illner am Abend. Ob es dabei um VW geht, werde ich aufgrund konsequenter Talkshowabstinenz nicht erfahren.

Freitag: Laut Zeitungsbericht hat in Köln der Koch eines China-Restaurants seinen Kollegen getötet und die Leiche zerteilt, „wie er es im Rahmen seiner Kochausbildung gelernt hatte“, so die Zeitung. Kinder fanden Kollegenteile in einem Plastiksack am Rheinufer. Das hätte schlimmer ausgehen können. Nicht für den Zerlegten, aber für die Restaurantgäste.

Samstag: Familie Hannemann lässt zur Frühstückszeit (die in den meisten anderen Haushalten eher der Mittagszeit entspricht) die WDR-2-Hörer wissen, dass sie sich entschieden habe, wie sie die Einladung zu ihrer Goldhochzeit zu gestalten gedenke und wer eingeladen wird. Auch wenn ich nicht zu Gästen zähle, so sind es diese Momente, welche jeden Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Rundfunkgebühren zerstreuen und mich der nächsten Abbuchung mit Freude entgegen blicken lassen.

Nun bin ich auf das Radio nicht angewiesen, besitze ich doch nach wie vor zahlreiche Musikkassetten und ein entsprechendes Abspielgerät, ich erwähnte es unlängst. Beim Einräumen des neuen Bücherregals entdeckte ich daher nicht nur einige Bücher, die ich gelegentlich mal wieder lesen sollte, sondern auf einer Kassette auch diesen Song der Bee Gees von 1987, den mein Gedächtnis im Laufe der Zeit in eine abgelegene, hintere Ecke geräumt hatte:

 

Nicht schlecht. Kaum zu glauben, dass von den drei Gebrüdern Gibb nur noch einer, Barry, lebt.

Sonntag: Nach einem ruhigen, überwiegend trüben Tag haben wir am frühen Abend einen Auftritt mit der Karnevalsgesellschaft in der Godesberger Stadthalle. Meine Vorfreude hält sich in Grenzen. Wozu braucht man sonntags Karnevalssitzungen? (Wozu braucht man überhaupt Karnevalssitzungen, fragen Sie? Das ist natürlich eine ganz andere Frage. Gegenfrage: Wozu braucht man einen Eis-Tauchschein?)