Montag: Gelungenes Gendern ist oft Glückssache. Wenig geglückt ist es der Zeit Online hier: »Marseille ist dabei nicht nur die zweitgrößte Stadt Frankreichs nach Paris, sondern auch eine, in der die Kluft zwischen den Einwohnern und Einwohnerinnen am größten ist.«
Im Übrigen zeigte sich der Wochenstart ohne nennens-notierenswerte Ereignisse, was immerhin kein Unglück ist.
Dienstag: Gegen vier in der Frühe wachte ich auf aus verstörenden Träumen, deren Inhalt ich vage erinnere, womit ich Sie allerdings nicht belästigen will. Danach lag ich etwa eine Stunde lang wach und fragte mich, welche fehlgeleiteten Hirnströme derartiges erdacht haben mochten.
Der Tag verlief in gewohnten Bahnen mit Fußmarsch ins Werk und zurück, mäßiger Arbeitslust am Nachmittag und Friseurinbesuch am Abend. Vielleicht ist sie gar keine Friseurin, sondern eine frisierende „weiblich gelesene Personen“, wie man jetzt anscheinend Leute nennt, die bis vor kurzem noch voreilig als Frauen bezeichnet wurden. Jedenfalls las ich nämliches während des Wartens in einem Zeitungsbericht. Du liebe Güte, um nicht zu schreiben: dämlich.
Mittwoch: Nach Schotterwüsten und Steinen in Käfighaltung erfreut sich nun Kunstrasen zunehmender Beliebtheit bei (Vor-)Gartenbesitzern, berichtet die Zeitung. »Die steigende Nachfrage nach dem künstlichen Grün, das mittlerweile täuschend echt aussieht, sei eine ganz natürliche Entwicklung«, wird ein Außenauslegewarenlieferant zitiert. Natürlich.
Größter Beliebtheit erfreut sich Teams als das Medium der Bürokommunikation. Warum halten es manche für den gängigen Regeln von Anstand und Höflichkeit entsprechend, wenn sie andere anrufen und einleitend sagen „Ich habe ein paar Fragen, Moment, ich teile mal eben meinen Bildschirm“, anstatt als erstes zu fragen, ob der Angerufene Zeit für ihr Anliegen hätte?
Woran ich mich erst wieder gewöhnen muss, vermutlich erwähnte ich es schon, ist, mittags nicht mehr alleine in der Kantine zu essen. Dazu gehört es, zu Beginn des Mahles so etwas wie „Guten Appetit“ zu sagen, als ob es ohne dieses nicht schmeckte oder an Bekömmlichkeit einbüßte. Manche sagen nur noch „Guten“, was ich gewöhnlich überhöre und unerwidert lasse. Wenigstens sagen sie nicht „Mahlzeit“. Oder was Englisches.
Donnerstag: Es gibt Tage, an denen die Existenz anderer Menschen lästig erscheint, ohne dass dafür ein konkreter Anlass erkennbar ist; vielmehr tun sie das gleiche wie sonst auch: ihren Müll in die Gegend werfen, auf Radwegen laufen, öffentliche Flächen bekoten. So ein Tag war heute.
Der Bundestag hat gegen ein neues Gesetz zur Sterbehilfe entschieden. Das finde ich sehr schade. Nicht, dass mich zurzeit akute dauerhafte Lebensmüdigkeit drückte, doch fände ich es beruhigend, bei Bedarf jederzeit das Licht ausmachen zu können, ohne andere zu behelligen, zum Beispiel indem ich mich vor die einfahrende Stadtbahn werfe. Auch das ist Freiheit. (Ich wüsste übrigens, was im äußersten Fall zu tun ist. Schmerzfrei und sauber.)
Immerhin: Abends gab es Sekt, weil einer von uns seit geraumer Zeit de facto die Viertagewoche hat. Leider nicht ich.
Freitag: Die Tagesfrage des Blogvermieters lautet, bei welchen Themen ich eine Autorität sei. Da muss ich passen, es gibt meines Wissens nichts, bei dem ich durch besondere Kenntnisse und Fähigkeiten hervortrete, vielmehr ist in fast allen Bereichen Mittelmaß meine Richtschnur. Etwas, das mich von den meisten anderen abhebt, ist die Neigung zu Gänsehaut selbst an so warmen Tagen wie heute. Autorität erlange ich damit wohl nicht.
Die Rückfahrt vom Werk brach ich nach ungefähr einem Viertel ab und kehrte um, da ich mein Datengerät im Büro vergessen hatte, was ich als positives Zeichen bezüglich meiner Digitalabhängigkeit werte; den meisten jüngeren wäre das nicht passiert. Nach erneuter Abfahrt bemerkte ich, den Fahrradhelm im Schrank gelassen zu haben. War wohl nicht mein Tag.
Namenstag haben unter anderem Bodard und Walfrid. Zweiterer klingt wie der Hänselname für einen etwas voluminöser geratenen Menschen namens Wilfried. Kinder und Kollegen können bekanntlich sehr gemein sein.
Samstag: „Wie hast du geschlafen?“ – „Gut.“ – „Dich habe ich gar nicht gefragt.“ Szenen aus dem Leben zu dritt.
Nach dem Frühstück unternahm ich die samstagsübliche Runde durch die sommerwarme Stadt. Auf dem Weg zum Glascontainer sprach mich in der Inneren Nordstadt ein junger Mann an und bat um eine Spende, um sich etwas zum Essen kaufen zu können. Ich gab ihm nichts und reagierte auch sonst nicht auf seine Ansprache. Kurz darauf saßen Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern und redeten auf mich ein. E: „Warum warst du so unhöflich, warum hast du ihm nichts gegeben? Er hatte Hunger und du bist reich.“ (Es hätte auch sagen können: „Du bis ein reiches A…loch“, aber dieses Wort ist im Engelsvokabular vermutlich nicht enthalten.) T: „Richtig so, der war gar nicht bedürftig, hatte sogar eine Zigarette in der Hand. Soll erstmal aufhören zu rauchen, dann hat er auch Geld für Brötchen. Der gehörte bestimmt zu einer professionellen Bettlerbande und fährt einen BMW.“
Es ist nicht so, dass ich nie was gebe. Wenn ich morgens zu Fuß ins Werk gehe, sitzt manchmal ein alter Mann am Rathaus, vor sich einen Pappbecher. Er spricht niemanden an, sitzt dort einfach und wartet. Dem werfe ich ab und zu überzähliges Kleingeld in den Becher, nicht nur Kupfer, auch Euromünzen. Dann freut er sich, wir wünschen uns gegenseitig einen angenehmen Tag und ich freue mich auch. Heute freute ich mich nicht ob meines Knausers und weil ich den Jungen wie Luft behandelt habe, selbst auf sein „Schönen Tag noch“ reagierte ich nicht. Ja, er hatte eine Zigarette in der Hand, warum auch nicht, wahrscheinlich hat ihm die jemand geschenkt. Vermutlich hatte er wirklich Hunger. Wer weiß, vielleicht ist der alte Mann am Rathaus ein Profi und Inhaber mehrerer Mietshäuser.
Ich kann nicht allen was geben, dazu sind es zu viele. Aber warum gebe ich dem einen, dem anderen nicht? Nach welchen Kriterien entscheide ich das? Wie reagiere ich höflich und angemessen, auch wenn ich nichts gebe? Darüber wird nachzudenken sein. „Nein danke“, wie es mir neulich versehentlich bei solcher Gelegenheit entfuhr, ist sicher keine geeignete Erwiderung. Die Grundfrage ist: Warum müssen Menschen in einem so wohlständigen Land überhaupt betteln? Fragen Sie die FDP, könnte die Antwort lauten, aber das wäre wohl sehr stark vereinfachend.
Sonntag: Es ist heiß. Das hielt mich nicht vom sonntäglichen Spaziergang ab, wobei ich des öfteren die Straßen- auf die Schattenseite wechselte. Auf der Rückenlehne einer öffentlichen Bank saß ein Rabe mit weit aufgerissenem Schnabel. Anlässlich von Kriegen und Katastrophen heißt es oft, am meisten litten die Kinder. Bei derartiger Hitze glaube ich, am meisten leiden die Raben. Weder können sie schwitzen noch das Federkleid lüften, hinzu kommt ihre für Sonnenlicht besonders empfängliche Schwärze.
»Rettet die Welt« las ich irgendwo im Vorbeigehen. Gerne wiederhole ich: Die Welt bedarf nicht der Rettung, allenfalls müsste sich die Menschheit retten. Dies bewusst im Konjunktiv.

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Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche.



